Der "Bomber der Nation": Gerd Müller wird 70 Jahre alt

Sein letztes Tor fiel vor 37 Jahren, sein Name fällt immer noch. Immer dann, wenn in der Bundesliga einem Stürmer ein besonderes Tor-Kunststück gelingt, muss er als Gradmesser herhalten. Fünf Tore in einem Spiel – "gab’s das schon mal?", fragte die Jugend, als Bayerns Robert Lewandowski in für ihn neue Dimensionen vorstieß. Oder zehn Tore nach sieben Spieltagen? Drei Tore in vier Minuten? Sieben Tore hintereinander? Und und und. Die Antwort ist eigentlich immer die gleiche, in der Zeitung "Die Welt" wurde sie im September 2015 so beantwortet: "Gegen Gerd Müller ist Robert Lewandowski ein kleines Licht." Und nicht nur der.

Gerd Müller, der Mann mit dem Massennamen, ist einmalig. Bis heute, da er 70 wird – am 3. November. Keiner hat mehr Bundesligatore geschossen als er (365), keiner mehr DFB-Pokal-Tore (78) und kein Deutscher mehr Europapokal-Tore (66). Und bis Juni 2014 war er auch Rekordtorschütze der deutschen Nationalmannschaft (68 Tore), ehe ihn Miroslav Klose überholte. Der rüttelt kein bisschen an seinem Denkmal: "Ich glaube nicht, dass man mich mit ihm in einem Atemzug nennen wird. Ich habe doppelt so viele Spiele, einen Vergleich braucht man nicht zu machen", sagte der Weltmeister von 2014 über den von 1974.

Müller leidet an Alzheimer - keine Auftritte in der Öffentlichkeit

Gerd Müller hat dazu nichts gesagt, er wird auch nichts an seinem runden Geburtstag sagen. Es geht ihm nicht gut, der FC Bayern, für den er bis 2013 noch als Co-Trainer der zweiten Mannschaft arbeitete, gab Anfang Oktober bekannt, was in der Branche schon länger kursierte: Müller leidet an Alzheimer und geht nicht mehr in die Öffentlichkeit. Als die Bayern im Sommer eine Sonderausstellung zu Ehren ihrer Klub-Legenden Franz Beckenbauer, Karl-Heinz Rummenigge und Müller eröffneten, die alle runde Geburtstage feierten, fehlte einer: Müller. Nur als Pappfigur in Lebensgröße war er präsent. Es ist ein rührender Kampf gegen das Vergessen, den sein Verein führt.

Wer war Gerd Müller? Kurz nach dem Krieg als Kind armer Leute im schwäbischen Nördlingen, das zu Bayern gehört, geboren, lernte er das Kicken auf der Straße. So wie eine ganze Generation. "Man hörte schon am Klappern der Blechbüchsen, wenn er von der Schule heimkam", erinnerte sich einer seiner Trainer beim TSV 1861 Nördlingen. Dort sind sie sehr bemüht, Müllers Andenken zu bewahren, im ersten Stock des Postamts am Hauptbahnhof haben sie einen Archivraum angemietet, der voller Müller-Devotionalien und Erinnerungen steckt. Und doch kann keiner mit Bestimmtheit sagen, wann Müller in den Verein eingetreten ist. Es gibt keinen Spielerpass mehr und keine Berichte aus der Schüler-Zeit. Die nun erschienene Biographie "Der Bomber der Nation" widerlegt die bisherigen Versionen, die teils auch von ihm selbst in die Welt gesetzt wurden (mit acht, neun oder elf Jahren).

Wettstreit der Münchner Klubs um Müller

Müller war ein Spätstarter, der erst mit zwölf Jahren in den Verein ging. Sein erster Trainer Kurt Tahedl kann sich noch gut an den Tag erinnern, als ein Freund Müller zum Training mitbrachte. Es soll im Sommer 1958 gewesen sein, vorher war Tahedl nachweislich nicht Trainer. Am 24. August 1958 soll er im benachbarten Öttingen seine ersten Tore geschossen haben, gleich drei beim Debüt. Auch das kann keiner mehr nachweisen, ebenso wenig wie die 180 Tore zu belegen sind, die er in der Saison 1962/63 geschossen haben soll. Wohl aber die 26 Tore in einem Spiel, das 31:0 endete.

Eine Sensation war er allemal. Mit 17 debütierte er in der ersten Mannschaft, die er 1964 in die vierte Liga schoss. Er selbst stieg in die 2. Liga, damals die "Regionalliga Süd", auf. Denn seine Tore hatten sich herumgesprochen und ein Friseurmeister, der FC Bayern-Mitglied war, sprach ihn an Pfingsten 1964 an, ob er nicht nach München kommen wolle. "Wollen schon, aber die werden nicht grad auf mich warten", gab er zu Antwort. Typisch Müller. Bescheiden, ehrlich und nie berechnend. Die Antwort konnte den Wechsel, der für den deutschen Fußball von historischer Bedeutung werden sollte, nicht verhindern. Auch wenn es noch ein Problem mit einem Mitbewerber gab. Am Anfang von Müllers Karriere stand eine Posse. Denn statt der Bayern hatten sich die Münchner "Löwen", damals Bundesligist, im Juni 1964 im Hause Müller angekündigt. Mutter und Sohn hatten also mit Besuch gerechnet, aber dann kamen die Bayern, die vom Löwen-Plan Wind bekommen hatten. Unangemeldet.

Erst nach einer Weile merkte Müller, wer da wirklich um ihn warb. Die Unterhändler Walter Fembeck und Peter Sorg hatten Müller schon fast weichgekocht, als der angemeldete "Löwen"-Abgesandte kam. Die Bayern wurden durch die Hintertür aus dem Haus geschleust und warteten in einem Wirtshaus direkt gegenüber. Müller speiste den "Löwen" ab und sagte den wieder einbestellten Bayern zu.

Für 4400 DM Ablöse ließ ihn der TSV Nördlingen schweren Herzens ziehen. Auch Müller fiel der Abschied nicht leicht, weshalb er mit seinen Kumpels in den letzten Wochen vor dem Umzug alle 54 (!) Nördlinger Gaststätten besuchte, um Adieu zu sagen.

Cajkovski über Müller: "Gewichtheber, Ringer, kleines dickes Müller"

In München wohnte er zunächst möbliert bei einer pensionierten Studienrätin und er ging arbeiten. Aber nicht als Weber, was er gelernt hatte, sondern als Möbelspediteur – halbtags. Fußballer waren noch keine Vollprofis 1964, Müller erhielt nur 160 Mark vom FC Bayern. Dort hatte er einen schweren Start. Die Mitspieler lachten sich schief, als er sich im eigentümlichen Duktus so vorstellte: "Ich bin der Torjäger aus Nördlingen." Und Tschik Cajkovski, sein Trainer, der sich später als sein Entdecker rühmte, machte sich über seine stämmige Figur lustig. Wahlweise nannte er ihn "Gewichtheber" oder "Ringer", legendär wurde die Bezeichnung "kleines dickes Müller". Jedenfalls könne er ihn nicht gebrauchen.

Ein Armbruch in der Vorbereitung warf ihn auch mental zurück, gegenüber einem Nördlinger Freund, der zufällig auch nach München zog, äußerte er: "Am liebsten will ich wieder hoam!" Müller verpasste die ersten zehn Saisonspiele 1964/65, ehe Klub-Präsident Wilhelm Neudecker ein Machtwort sprach und seine Aufstellung forderte, denn "sonst gehe ich nicht mehr auf den Fußball-Platz". Cajkovski knickte ein und schon begann sie, die gigantischste Tor-Produktion im deutschen Fußball. Zum Aufstieg der Bayern trug er 33 Tore bei, sein Stammplatz war ihm fortan sicher. 14 Jahre lang wagte es kein Trainer, ihn auf die Bank zu setzen.

Leistungssprung unter Trainer Zebec

Zum sportlichen Glück kam im Oktober 1965 das private, Müller lernte seine Frau Ursula Ebenböck, von allen "Uschi" gerufen, bei einem Stehbäcker am Ostbahnhof kennen. Zwar wollte sie nicht von seinem angebotenen Schoko-Hörnchen abbeißen, aber schon bald biss sie an. Es funkte im Kino, bei einem Western mit John Wayne. Als sie im August 1967 heirateten, war Müller bereits Nationalspieler, DFB-Pokal- und Europapokalsieger und erstmals Torschützenkönig. Wo andere die Karriereleiter nahmen, nahm er den Fahrstuhl. Rückblickend nannte er das Jahr 1967 gern als eines, "an das ich mich oft zurück erinnern werde." Dabei kamen noch viel bessere Jahre, übrigens seltsamerweise nach seinen einzigen Büchern ("Tore entscheiden"/1967 und "Goldene Beine"/1969), die er hat schreiben lassen.

Unter Trainer Branko Zebec, der Müller auf Diät setzte, macht der Torjäger ab 1968 den nächsten Leistungssprung. 1969 schoss er Deutschland quasi allein zur WM nach Mexiko, traf in jedem Qualifikationsspiel. In diesem Jahr wurde er auf dem Boulevard zum "Bomber der Nation", den Titel freilich gab es schon – er erbte ihn von Uwe Seeler. Das bereits zurückgetretene Idol aus Hamburg wurde vor der WM von Bundestrainer Helmut Schön zur Rückkehr bewogen, was weder der Fachwelt noch Müller behagte.

"Uwe oder ich!", forderte Müller mit dem Selbstbewusstsein des schon dreimaligen Torschützenkönigs im Februar 1970. Helmut Schön rüffelte ihn vor versammelter Mannschaft und ließ ihn wissen, dass sein Mexikoticket keineswegs sicher sei. Im Vier-Augen-Gespräch danach bedauerte Müller: "Ich hab ´nen Fehler gemacht." Schön klopfte ihm auf die Schulter, man vertrug sich wieder.

Helmut Schön charakterisierte Müller in seiner Biographie so: "Seine Antworten kamen, wie er spielte: aus der Pistole geschossen, manchmal auch, ohne vorher zu überlegen. Er war so, wie er spielte, und er spielte, wie er war." In Mexiko schoss Müller zehn Tore und avancierte deshalb zum ersten deutschen Fußballer des Jahres in Europa. Allen Unkenrufen zum Trotz harmonierte er mit Seeler prächtig. Sogar auf dem Doppelzimmer in Comanjilla, das sie nach einer List von Co-Trainer Jupp Derwall bezogen. Der erzählte jedem, der andere würde gern mit ihm zusammen wohnen und beide schlugen begeistert ein.

Der kicker: "Dieser Müller ist ein Phänomen"

Für die Verteidiger dieser Welt wurde er ein unlösbares Problem, für den deutschen Fußball und den FC Bayern war er ein einmaliges Geschenk. Gegen seine schnellen Drehungen, seine Reaktions-fähigkeit und seine Intuition halfen weder Mann- noch Raumdeckung. Er traf mit allen im Fußball legalen Körperteilen, selbst dem Allerwertesten. Oft war er nicht zu sehen, dann stieß er kurz vor Schluss noch zu. "Dieser Müller ist ein Phänomen, im Mittelalter hätte man ihn der Hexerei verdächtigt", stand im kicker nach einem 1:0 der Bayern durch ein spätes Müller-Tor.

Müller erlebte die erste große Zeit des FC Bayern mit, besser er gestaltete sie mit. "Ohne ihn würden wir uns immer noch im Holzhäusel umziehen", sagt Franz Beckenbauer gern und er meint es sogar so. Müller und die Bayern eilten in den Goldenen Siebzigern von Hattrick zu Hattrick: sie wurden von 1972 bis 1974 Meister, er in diesen Jahren stets Torschützenkönig mit Fabelwerten (40-36-30), es folgte der Hattrick im Landesmeister-Europapokal (1974 – 1976). 1972 wurde Deutschland Europameister, Müller schoss vier der fünf Endrunden-Tore. Und am 7. Juli 1974 vollendete er in seinem Wohnzimmer Olympiastadion sein Werk im DFB-Dress. Im WM-Finale gegen die Niederlande versprang ihm zunächst der Ball, doch schneller als seine Bewacher setzte er nach und vollstreckte. Mit rechts, aus der Drehung, flach. Kein schönes Tor, aber eines jener "Tore, die Müller macht. Die nur Müller macht, weil er die kürzesten Reflexe hat", huldigte ihm ARD-Kommentator Rudi Michel.

Rücktritt mit 28 Jahren - nach 62 Länderspielen und 68 Toren

Dass er nach 62 Länderspielen mit erst 28 Jahren in der Finalnacht zurücktrat, nahm niemand ernst. Es sei aus der Emotion heraus geschehen, aus Verärgerung darüber dass die Spielerfrauen nicht aufs Bankett durften und werde sich schon wieder legen – so der Tenor. Helmut Schön kündigte an, "mal mit der Uschi zu reden". Dabei wusste er es besser. Die Bankett-Theorie ist eine Mär, Müller hatte schon am Donnerstag vor dem Finale, gemeinsam mit Wolfgang Overath und Jürgen Grabowski, Schön von seinen Plänen erzählt. Er wolle sich mehr der Familie widmen, seit 1971 gibt es Tochter Nicole, und nicht mehr so oft um die Welt fliegen. Denn der Mann, den alle fürchteten, hatte selbst große Ängste – vor allem vor dem Fliegen. Nach einer geglückten Landung pflegte er der Kirche 100 Mark zu stiften, es sei sein "Pakt mit dem lieben Gott", schrieb die Sport Illustrierte 1971.

Müller also trat als Weltmeister ab. Auch die anderen fünf Weltmeister im Bayern-Team schienen genug erreicht zu haben, sechs Jahre kam die Meisterschale nicht mehr nach München. Und als sie wieder kam, da war die berühmte Achse Maier- Beckenbauer-Müller schon Vereinsgeschichte. Müller folgte dem "Kaiser" 1979 in die USA, erbost über die erste Auswechslung seiner Karriere aus sportlichen Gründen – durch Trainer Pal Csernai. Mit 32 war Müller noch ein siebtes und letztes Mal Torschützenkönig geworden, mit 33 war er plötzlich nicht mehr gut genug.

Es war kein schönes Ende in München, wo er vier Jahre später immerhin noch ein Abschiedsspiel erhielt. Da war seine aktive Karriere schon beendet, in Florida hatte er seine letzten Tore geschossen, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Nun begann sein schwerster Kampf – der gegen die Langeweile. Viele Ex-Profis haben ihn geführt, nicht alle haben ihn gewonnen. Mit seinem Steakhaus in Florida hatte er kein Glück. In jenen Jahren begannen Müllers Alkoholprobleme, die auch nach der Rückkehr nach München blieben – weil der Millionär nichts zu tun hatte. Um seine Sportgeschäfte und seine Versicherung kümmerten sich andere, für Werbeauftritte eignete er sich ebenso wenig wie für eine Trainer- oder Manager-Karriere. Und nur Tennis und Sauna, das füllt keinen Mann aus.

Als er Uli Hoeneß 1991 wegen seines Alkoholproblems um Hilfe bat, bekam sein Leben einen neuen Sinn. Nach der Entziehungskur verschafften ihm die Freunde von einst, "der Kalle", "der Franz" und "der Uli", wie er sie immer nur nannte, einen Job nach dem anderen. Und alle konnte er im Trainingsanzug ausüben, an der Säbener Straße. An der es ohne ihn, da hat der Kaiser wieder mal recht, nie so aussehen würde wie heute. Auch den Kampf, den er jetzt führen muss, den gegen das Vergessen, führt er nicht alleine. Die Freunde von einst besuchen ihn so oft sie können, seine Frau sowieso. Und was auch wird: Einen wie ihn kann man ohnehin nicht vergessen.

Biografie Gerd Müller - Der Bomber der Nation von Patrick Strasser und Udo Muras, mit einem Vorwort von Thomas Müller, 256 Seiten, Hardcover, 19,99 Euro, Riva Verlag München 2015.

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Sein letztes Tor fiel vor 37 Jahren, sein Name fällt immer noch. Immer dann, wenn in der Bundesliga einem Stürmer ein besonderes Tor-Kunststück gelingt, muss er als Gradmesser herhalten. Fünf Tore in einem Spiel – "gab’s das schon mal?", fragte die Jugend, als Bayerns Robert Lewandowski in für ihn neue Dimensionen vorstieß. Oder zehn Tore nach sieben Spieltagen? Drei Tore in vier Minuten? Sieben Tore hintereinander? Und und und. Die Antwort ist eigentlich immer die gleiche, in der Zeitung "Die Welt" wurde sie im September 2015 so beantwortet: "Gegen Gerd Müller ist Robert Lewandowski ein kleines Licht." Und nicht nur der.

Gerd Müller, der Mann mit dem Massennamen, ist einmalig. Bis heute, da er 70 wird – am 3. November. Keiner hat mehr Bundesligatore geschossen als er (365), keiner mehr DFB-Pokal-Tore (78) und kein Deutscher mehr Europapokal-Tore (66). Und bis Juni 2014 war er auch Rekordtorschütze der deutschen Nationalmannschaft (68 Tore), ehe ihn Miroslav Klose überholte. Der rüttelt kein bisschen an seinem Denkmal: "Ich glaube nicht, dass man mich mit ihm in einem Atemzug nennen wird. Ich habe doppelt so viele Spiele, einen Vergleich braucht man nicht zu machen", sagte der Weltmeister von 2014 über den von 1974.

Müller leidet an Alzheimer - keine Auftritte in der Öffentlichkeit

Gerd Müller hat dazu nichts gesagt, er wird auch nichts an seinem runden Geburtstag sagen. Es geht ihm nicht gut, der FC Bayern, für den er bis 2013 noch als Co-Trainer der zweiten Mannschaft arbeitete, gab Anfang Oktober bekannt, was in der Branche schon länger kursierte: Müller leidet an Alzheimer und geht nicht mehr in die Öffentlichkeit. Als die Bayern im Sommer eine Sonderausstellung zu Ehren ihrer Klub-Legenden Franz Beckenbauer, Karl-Heinz Rummenigge und Müller eröffneten, die alle runde Geburtstage feierten, fehlte einer: Müller. Nur als Pappfigur in Lebensgröße war er präsent. Es ist ein rührender Kampf gegen das Vergessen, den sein Verein führt.

Wer war Gerd Müller? Kurz nach dem Krieg als Kind armer Leute im schwäbischen Nördlingen, das zu Bayern gehört, geboren, lernte er das Kicken auf der Straße. So wie eine ganze Generation. "Man hörte schon am Klappern der Blechbüchsen, wenn er von der Schule heimkam", erinnerte sich einer seiner Trainer beim TSV 1861 Nördlingen. Dort sind sie sehr bemüht, Müllers Andenken zu bewahren, im ersten Stock des Postamts am Hauptbahnhof haben sie einen Archivraum angemietet, der voller Müller-Devotionalien und Erinnerungen steckt. Und doch kann keiner mit Bestimmtheit sagen, wann Müller in den Verein eingetreten ist. Es gibt keinen Spielerpass mehr und keine Berichte aus der Schüler-Zeit. Die nun erschienene Biographie "Der Bomber der Nation" widerlegt die bisherigen Versionen, die teils auch von ihm selbst in die Welt gesetzt wurden (mit acht, neun oder elf Jahren).

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Wettstreit der Münchner Klubs um Müller

Müller war ein Spätstarter, der erst mit zwölf Jahren in den Verein ging. Sein erster Trainer Kurt Tahedl kann sich noch gut an den Tag erinnern, als ein Freund Müller zum Training mitbrachte. Es soll im Sommer 1958 gewesen sein, vorher war Tahedl nachweislich nicht Trainer. Am 24. August 1958 soll er im benachbarten Öttingen seine ersten Tore geschossen haben, gleich drei beim Debüt. Auch das kann keiner mehr nachweisen, ebenso wenig wie die 180 Tore zu belegen sind, die er in der Saison 1962/63 geschossen haben soll. Wohl aber die 26 Tore in einem Spiel, das 31:0 endete.

Eine Sensation war er allemal. Mit 17 debütierte er in der ersten Mannschaft, die er 1964 in die vierte Liga schoss. Er selbst stieg in die 2. Liga, damals die "Regionalliga Süd", auf. Denn seine Tore hatten sich herumgesprochen und ein Friseurmeister, der FC Bayern-Mitglied war, sprach ihn an Pfingsten 1964 an, ob er nicht nach München kommen wolle. "Wollen schon, aber die werden nicht grad auf mich warten", gab er zu Antwort. Typisch Müller. Bescheiden, ehrlich und nie berechnend. Die Antwort konnte den Wechsel, der für den deutschen Fußball von historischer Bedeutung werden sollte, nicht verhindern. Auch wenn es noch ein Problem mit einem Mitbewerber gab. Am Anfang von Müllers Karriere stand eine Posse. Denn statt der Bayern hatten sich die Münchner "Löwen", damals Bundesligist, im Juni 1964 im Hause Müller angekündigt. Mutter und Sohn hatten also mit Besuch gerechnet, aber dann kamen die Bayern, die vom Löwen-Plan Wind bekommen hatten. Unangemeldet.

Erst nach einer Weile merkte Müller, wer da wirklich um ihn warb. Die Unterhändler Walter Fembeck und Peter Sorg hatten Müller schon fast weichgekocht, als der angemeldete "Löwen"-Abgesandte kam. Die Bayern wurden durch die Hintertür aus dem Haus geschleust und warteten in einem Wirtshaus direkt gegenüber. Müller speiste den "Löwen" ab und sagte den wieder einbestellten Bayern zu.

Für 4400 DM Ablöse ließ ihn der TSV Nördlingen schweren Herzens ziehen. Auch Müller fiel der Abschied nicht leicht, weshalb er mit seinen Kumpels in den letzten Wochen vor dem Umzug alle 54 (!) Nördlinger Gaststätten besuchte, um Adieu zu sagen.

Cajkovski über Müller: "Gewichtheber, Ringer, kleines dickes Müller"

In München wohnte er zunächst möbliert bei einer pensionierten Studienrätin und er ging arbeiten. Aber nicht als Weber, was er gelernt hatte, sondern als Möbelspediteur – halbtags. Fußballer waren noch keine Vollprofis 1964, Müller erhielt nur 160 Mark vom FC Bayern. Dort hatte er einen schweren Start. Die Mitspieler lachten sich schief, als er sich im eigentümlichen Duktus so vorstellte: "Ich bin der Torjäger aus Nördlingen." Und Tschik Cajkovski, sein Trainer, der sich später als sein Entdecker rühmte, machte sich über seine stämmige Figur lustig. Wahlweise nannte er ihn "Gewichtheber" oder "Ringer", legendär wurde die Bezeichnung "kleines dickes Müller". Jedenfalls könne er ihn nicht gebrauchen.

Ein Armbruch in der Vorbereitung warf ihn auch mental zurück, gegenüber einem Nördlinger Freund, der zufällig auch nach München zog, äußerte er: "Am liebsten will ich wieder hoam!" Müller verpasste die ersten zehn Saisonspiele 1964/65, ehe Klub-Präsident Wilhelm Neudecker ein Machtwort sprach und seine Aufstellung forderte, denn "sonst gehe ich nicht mehr auf den Fußball-Platz". Cajkovski knickte ein und schon begann sie, die gigantischste Tor-Produktion im deutschen Fußball. Zum Aufstieg der Bayern trug er 33 Tore bei, sein Stammplatz war ihm fortan sicher. 14 Jahre lang wagte es kein Trainer, ihn auf die Bank zu setzen.

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Leistungssprung unter Trainer Zebec

Zum sportlichen Glück kam im Oktober 1965 das private, Müller lernte seine Frau Ursula Ebenböck, von allen "Uschi" gerufen, bei einem Stehbäcker am Ostbahnhof kennen. Zwar wollte sie nicht von seinem angebotenen Schoko-Hörnchen abbeißen, aber schon bald biss sie an. Es funkte im Kino, bei einem Western mit John Wayne. Als sie im August 1967 heirateten, war Müller bereits Nationalspieler, DFB-Pokal- und Europapokalsieger und erstmals Torschützenkönig. Wo andere die Karriereleiter nahmen, nahm er den Fahrstuhl. Rückblickend nannte er das Jahr 1967 gern als eines, "an das ich mich oft zurück erinnern werde." Dabei kamen noch viel bessere Jahre, übrigens seltsamerweise nach seinen einzigen Büchern ("Tore entscheiden"/1967 und "Goldene Beine"/1969), die er hat schreiben lassen.

Unter Trainer Branko Zebec, der Müller auf Diät setzte, macht der Torjäger ab 1968 den nächsten Leistungssprung. 1969 schoss er Deutschland quasi allein zur WM nach Mexiko, traf in jedem Qualifikationsspiel. In diesem Jahr wurde er auf dem Boulevard zum "Bomber der Nation", den Titel freilich gab es schon – er erbte ihn von Uwe Seeler. Das bereits zurückgetretene Idol aus Hamburg wurde vor der WM von Bundestrainer Helmut Schön zur Rückkehr bewogen, was weder der Fachwelt noch Müller behagte.

"Uwe oder ich!", forderte Müller mit dem Selbstbewusstsein des schon dreimaligen Torschützenkönigs im Februar 1970. Helmut Schön rüffelte ihn vor versammelter Mannschaft und ließ ihn wissen, dass sein Mexikoticket keineswegs sicher sei. Im Vier-Augen-Gespräch danach bedauerte Müller: "Ich hab ´nen Fehler gemacht." Schön klopfte ihm auf die Schulter, man vertrug sich wieder.

Helmut Schön charakterisierte Müller in seiner Biographie so: "Seine Antworten kamen, wie er spielte: aus der Pistole geschossen, manchmal auch, ohne vorher zu überlegen. Er war so, wie er spielte, und er spielte, wie er war." In Mexiko schoss Müller zehn Tore und avancierte deshalb zum ersten deutschen Fußballer des Jahres in Europa. Allen Unkenrufen zum Trotz harmonierte er mit Seeler prächtig. Sogar auf dem Doppelzimmer in Comanjilla, das sie nach einer List von Co-Trainer Jupp Derwall bezogen. Der erzählte jedem, der andere würde gern mit ihm zusammen wohnen und beide schlugen begeistert ein.

Der kicker: "Dieser Müller ist ein Phänomen"

Für die Verteidiger dieser Welt wurde er ein unlösbares Problem, für den deutschen Fußball und den FC Bayern war er ein einmaliges Geschenk. Gegen seine schnellen Drehungen, seine Reaktions-fähigkeit und seine Intuition halfen weder Mann- noch Raumdeckung. Er traf mit allen im Fußball legalen Körperteilen, selbst dem Allerwertesten. Oft war er nicht zu sehen, dann stieß er kurz vor Schluss noch zu. "Dieser Müller ist ein Phänomen, im Mittelalter hätte man ihn der Hexerei verdächtigt", stand im kicker nach einem 1:0 der Bayern durch ein spätes Müller-Tor.

Müller erlebte die erste große Zeit des FC Bayern mit, besser er gestaltete sie mit. "Ohne ihn würden wir uns immer noch im Holzhäusel umziehen", sagt Franz Beckenbauer gern und er meint es sogar so. Müller und die Bayern eilten in den Goldenen Siebzigern von Hattrick zu Hattrick: sie wurden von 1972 bis 1974 Meister, er in diesen Jahren stets Torschützenkönig mit Fabelwerten (40-36-30), es folgte der Hattrick im Landesmeister-Europapokal (1974 – 1976). 1972 wurde Deutschland Europameister, Müller schoss vier der fünf Endrunden-Tore. Und am 7. Juli 1974 vollendete er in seinem Wohnzimmer Olympiastadion sein Werk im DFB-Dress. Im WM-Finale gegen die Niederlande versprang ihm zunächst der Ball, doch schneller als seine Bewacher setzte er nach und vollstreckte. Mit rechts, aus der Drehung, flach. Kein schönes Tor, aber eines jener "Tore, die Müller macht. Die nur Müller macht, weil er die kürzesten Reflexe hat", huldigte ihm ARD-Kommentator Rudi Michel.

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Rücktritt mit 28 Jahren - nach 62 Länderspielen und 68 Toren

Dass er nach 62 Länderspielen mit erst 28 Jahren in der Finalnacht zurücktrat, nahm niemand ernst. Es sei aus der Emotion heraus geschehen, aus Verärgerung darüber dass die Spielerfrauen nicht aufs Bankett durften und werde sich schon wieder legen – so der Tenor. Helmut Schön kündigte an, "mal mit der Uschi zu reden". Dabei wusste er es besser. Die Bankett-Theorie ist eine Mär, Müller hatte schon am Donnerstag vor dem Finale, gemeinsam mit Wolfgang Overath und Jürgen Grabowski, Schön von seinen Plänen erzählt. Er wolle sich mehr der Familie widmen, seit 1971 gibt es Tochter Nicole, und nicht mehr so oft um die Welt fliegen. Denn der Mann, den alle fürchteten, hatte selbst große Ängste – vor allem vor dem Fliegen. Nach einer geglückten Landung pflegte er der Kirche 100 Mark zu stiften, es sei sein "Pakt mit dem lieben Gott", schrieb die Sport Illustrierte 1971.

Müller also trat als Weltmeister ab. Auch die anderen fünf Weltmeister im Bayern-Team schienen genug erreicht zu haben, sechs Jahre kam die Meisterschale nicht mehr nach München. Und als sie wieder kam, da war die berühmte Achse Maier- Beckenbauer-Müller schon Vereinsgeschichte. Müller folgte dem "Kaiser" 1979 in die USA, erbost über die erste Auswechslung seiner Karriere aus sportlichen Gründen – durch Trainer Pal Csernai. Mit 32 war Müller noch ein siebtes und letztes Mal Torschützenkönig geworden, mit 33 war er plötzlich nicht mehr gut genug.

Es war kein schönes Ende in München, wo er vier Jahre später immerhin noch ein Abschiedsspiel erhielt. Da war seine aktive Karriere schon beendet, in Florida hatte er seine letzten Tore geschossen, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Nun begann sein schwerster Kampf – der gegen die Langeweile. Viele Ex-Profis haben ihn geführt, nicht alle haben ihn gewonnen. Mit seinem Steakhaus in Florida hatte er kein Glück. In jenen Jahren begannen Müllers Alkoholprobleme, die auch nach der Rückkehr nach München blieben – weil der Millionär nichts zu tun hatte. Um seine Sportgeschäfte und seine Versicherung kümmerten sich andere, für Werbeauftritte eignete er sich ebenso wenig wie für eine Trainer- oder Manager-Karriere. Und nur Tennis und Sauna, das füllt keinen Mann aus.

Als er Uli Hoeneß 1991 wegen seines Alkoholproblems um Hilfe bat, bekam sein Leben einen neuen Sinn. Nach der Entziehungskur verschafften ihm die Freunde von einst, "der Kalle", "der Franz" und "der Uli", wie er sie immer nur nannte, einen Job nach dem anderen. Und alle konnte er im Trainingsanzug ausüben, an der Säbener Straße. An der es ohne ihn, da hat der Kaiser wieder mal recht, nie so aussehen würde wie heute. Auch den Kampf, den er jetzt führen muss, den gegen das Vergessen, führt er nicht alleine. Die Freunde von einst besuchen ihn so oft sie können, seine Frau sowieso. Und was auch wird: Einen wie ihn kann man ohnehin nicht vergessen.

Biografie Gerd Müller - Der Bomber der Nation von Patrick Strasser und Udo Muras, mit einem Vorwort von Thomas Müller, 256 Seiten, Hardcover, 19,99 Euro, Riva Verlag München 2015.