Preisträger Schultz: "Erfahrene Torhüter antizipieren besser"

Dr. Florian Schultz von der Universität Tübingen erhält auf dem 3. DFB-Wissenschaftskongress in Frankfurt heute vom 1. DFB-Vizepräsidenten Dr. Rainer Koch den mit 30.000 Euro dotierten DFB-Wissenschaftspreis 2016. "Torwarte mit Erfahrung halten besser", lautet eine wichtige Erkenntnis seiner Forschung. Der aktuelle DFB-Preisträger hat untersucht, woran das liegt - und im DFB.de-Interview mit Redakteur Thomas Hackbarth darüber gesprochen.

DFB.de: Wie sind Wissenschaft und Spitzenfußball verknüpft, Herr Dr. Schultz?

Dr. Florian Schultz: Mittlerweile ist viel passiert, Wissenschaft und Spitzenfußball sind deutlich besser verzahnt als noch vor einigen Jahren. Wir Wissenschaftler jedenfalls wollen nicht nur im Elfenbeinturm arbeiten. Meine Untersuchung dazu, wie Torwarte antizipieren, zielt auf die spätere Übertragbarkeit in die Praxis. Bevor mit dieser Übertragung jedoch begonnen werden kann, müssen meine Ergebnisse zunächst einmal untermauert werden. Hierfür führt ein Kollege derzeit eine Replikationsstudie mit Handballtorhütern aus der Bundesliga und 2. Bundesliga durch. Der nächste Schritt könnte dann die Entwicklung einer Trainingsintervention sein.

DFB.de: Sie bekommen heute den mit 30.000 Euro dotierten DFB-Wissenschaftspreis für die Entwicklung einer "kognitiven Leistungsdiagnostik für Torhüter". Bitte übersetzen Sie mal.

Schultz: Das Anforderungsprofil eines Torwarts hat sich in den letzten Jahren deutlich vergrößert. Fähigkeiten wie etwa die Sprungkraft, taktische Komponenten wie Spielverständnis, offensive Aktionen wie die Spieleröffnung durch lange Abwürfe und Abschläge und das Technikrepertoire eines Feldspielers - das alles gehört heute zur Grundausstattung eines Torwarts. Seine primäre Aufgabe aber bleibt das Verhindern von Toren. Der moderne Torwart muss hierfür auch kognitive Fähigkeiten einbringen. Wenn man sich vor Augen führt, mit welch hoher Geschwindigkeit - oft aus kurzer Distanz - Schüsse im Spitzenfußball abgegeben werden, wird klar, dass der Torwart häufig gar keine Zeit hat, erst nach dem Schuss zu reagieren. Er muss also antizipieren können, sprich vorhersehen, wohin der Ball geschossen wird, am besten schon während der Ausholbewegung des Schützen. Für diesen kognitiven Bereich des Torwartspiels existierte bislang keine Leistungsdiagnostik. Bislang fehlte uns ein Instrumentarium, um die Antizipationsleistung eines Torwartes zu bewerten. Dies sollte in meiner Studie entwickelt und geprüft werden.

DFB.de: Sie haben dafür eine empirische Untersuchungsreihe durchgeführt. Wie sah die aus?

Schultz: Meistens wurde bislang anhand von Elfmetersituationen die Antizipation von Torwarten untersucht. Meine Idee war, Torwartantizipation im normalen Spielgeschehen zu untersuchen, auch weil die Statistik zeigt, dass ein Torwart in der Bundesliga nur rund viermal pro Saison mit einem Elfmeter konfrontiert wird. Ich habe also ein Laborsetting konzipiert, in dem den Versuchspersonen aus der Perspektive des Torwarts Videos aus vier verschiedenen Situationen präsentiert wurden.



Dr. Florian Schultz von der Universität Tübingen erhält auf dem 3. DFB-Wissenschaftskongress in Frankfurt heute vom 1. DFB-Vizepräsidenten Dr. Rainer Koch den mit 30.000 Euro dotierten DFB-Wissenschaftspreis 2016. "Torwarte mit Erfahrung halten besser", lautet eine wichtige Erkenntnis seiner Forschung. Der aktuelle DFB-Preisträger hat untersucht, woran das liegt - und im DFB.de-Interview mit Redakteur Thomas Hackbarth darüber gesprochen.

DFB.de: Wie sind Wissenschaft und Spitzenfußball verknüpft, Herr Dr. Schultz?

Dr. Florian Schultz: Mittlerweile ist viel passiert, Wissenschaft und Spitzenfußball sind deutlich besser verzahnt als noch vor einigen Jahren. Wir Wissenschaftler jedenfalls wollen nicht nur im Elfenbeinturm arbeiten. Meine Untersuchung dazu, wie Torwarte antizipieren, zielt auf die spätere Übertragbarkeit in die Praxis. Bevor mit dieser Übertragung jedoch begonnen werden kann, müssen meine Ergebnisse zunächst einmal untermauert werden. Hierfür führt ein Kollege derzeit eine Replikationsstudie mit Handballtorhütern aus der Bundesliga und 2. Bundesliga durch. Der nächste Schritt könnte dann die Entwicklung einer Trainingsintervention sein.

DFB.de: Sie bekommen heute den mit 30.000 Euro dotierten DFB-Wissenschaftspreis für die Entwicklung einer "kognitiven Leistungsdiagnostik für Torhüter". Bitte übersetzen Sie mal.

Schultz: Das Anforderungsprofil eines Torwarts hat sich in den letzten Jahren deutlich vergrößert. Fähigkeiten wie etwa die Sprungkraft, taktische Komponenten wie Spielverständnis, offensive Aktionen wie die Spieleröffnung durch lange Abwürfe und Abschläge und das Technikrepertoire eines Feldspielers - das alles gehört heute zur Grundausstattung eines Torwarts. Seine primäre Aufgabe aber bleibt das Verhindern von Toren. Der moderne Torwart muss hierfür auch kognitive Fähigkeiten einbringen. Wenn man sich vor Augen führt, mit welch hoher Geschwindigkeit - oft aus kurzer Distanz - Schüsse im Spitzenfußball abgegeben werden, wird klar, dass der Torwart häufig gar keine Zeit hat, erst nach dem Schuss zu reagieren. Er muss also antizipieren können, sprich vorhersehen, wohin der Ball geschossen wird, am besten schon während der Ausholbewegung des Schützen. Für diesen kognitiven Bereich des Torwartspiels existierte bislang keine Leistungsdiagnostik. Bislang fehlte uns ein Instrumentarium, um die Antizipationsleistung eines Torwartes zu bewerten. Dies sollte in meiner Studie entwickelt und geprüft werden.

DFB.de: Sie haben dafür eine empirische Untersuchungsreihe durchgeführt. Wie sah die aus?

Schultz: Meistens wurde bislang anhand von Elfmetersituationen die Antizipation von Torwarten untersucht. Meine Idee war, Torwartantizipation im normalen Spielgeschehen zu untersuchen, auch weil die Statistik zeigt, dass ein Torwart in der Bundesliga nur rund viermal pro Saison mit einem Elfmeter konfrontiert wird. Ich habe also ein Laborsetting konzipiert, in dem den Versuchspersonen aus der Perspektive des Torwarts Videos aus vier verschiedenen Situationen präsentiert wurden.

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DFB.de:Beschreiben Sie die "Versuchsanordnung" doch bitte mal!

Schultz: Gern. Situation 1: Der Schütze schießt einen ruhenden Ball. Situation 2: Schuss aus dem Dribbling. Situation 3: Schuss aus einem Eins-gegen-Eins-Duell und schließlich Situation 4, der Schuss aus einer Zwei-gegen-Zwei-Situation. Die Probanden mussten entscheiden, wohin der Ball geschossen wird. Meine Kernstichprobe bestand aus 44 Torhütern der U 15- und U 18-Landesverbandsauswahlen. Um die Antizipationsleistung zu erfassen, habe ich drei gängige Verfahren aus der Kognitionspsychologie angewandt. Beim "temporal occlusion Paradigma" werden Videos zu einem bestimmten Zeitpunkt abgebrochen. Nach dem Abbruch entscheidet die Versuchsperson möglichst zügig, wohin der Ball geschossen wird. Üblicherweise erfolgt der Videoabbruch einige Millisekunden vor dem Ballkontakt des Schützen, zum Ballkontakt und einige Millisekunden nach dem Ballkontakt. In diesem Verlauf ist eine Zunahme der Antizipationsleistung zu erwarten. Je später abgebrochen wird, desto häufiger entscheiden Versuchspersonen über die Schussrichtung richtig. Das zweite Verfahren wird als "Reaktionszeit-Paradigma" bezeichnet. Hierbei wird das Video so lange gezeigt, bis sich die Versuchsperson für eine der Torecken entschieden hat. Ihre Aufgabe hier ist es, so früh wie möglich richtig zu entscheiden, wohin geschossen wird. Als drittes Verfahren habe ich das sogenannte "Eye-Tracking" eingesetzt, mit dem die Blickbewegungen der Torhüter erfasst werden. Aus welchen Arealen des Schützen ziehen Torwarte ihre Informationen, um richtig antizipieren zu können? Mit dem Eye-Tracking findet man hierzu Antworten.

DFB.de: Welches Verfahren hat sich besonders geeignet?

Schultz: Das "temporal occlusion Paradigma", das klassisch oft angewandt wird, eignet sich nach meinen Erkenntnissen nicht für eine kognitive Leistungsdiagnostik. Das Reaktionszeitparadigma, auch in Kombination mit dem Eye Tracking, ist hierfür deutlich besser geeignet.

DFB.de: Warum haben Sie sich für junge Torhüter aus den Landesverbandsauswahlen entschieden?

Schultz: Wegen des hohen Leistungsniveaus. Durch Konstanthalten dieses Faktors und der bestehenden Altersvarianz konnte ich den Einfluss der Erfahrung auf die Antizipationsleistung überprüfen. Können Toptorhüter der U 18 besser antizipieren, wohin der Schuss geht, als die 15 Jahre jungen Torhüter? Die Antwort lautet: Ja, das können sie.

DFB.de: In der Ruhe liegt die Erkenntnis, das ist - sehr flach formuliert - eins Ihrer Ergebnisse. Sie sprechen von einem synthetischen Blickverhalten. Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Schultz: Zu Beginn einer Schussbewegung betrachtet der Torwart den Kopf des Schützen. Der Torwart will wissen, wohin der Schütze schaut. Je näher der Zeitpunkt der Schussabgabe kommt, desto mehr wandert der Blick nach unten, zum Standbein, zum Schussbein und zum Ball. Experten, also Spieler auf höherem Leistungsniveau, verwenden dabei weniger Fixationen und benötigen dadurch auch weniger Blicksprünge, Sakkaden genannt.

DFB.de: Und warum ist das von großem Vorteil?

Schultz: Sakkaden sind sehr schnelle Blicksprünge, und zwar so schnell, dass man dabei nichts wahrnimmt. Sakkaden sind die schnellsten Bewegungen des menschlichen Körpers. Dieser Blicksprung ist so schnell, dass ich bewusst keinerlei Informationen registrieren kann. Ein Expertisemerkmal ist deshalb, dass gute Torhüter nur wenige dieser Blicksprünge machen, weil sie wissen, wohin sie schauen müssen. Experten nutzen eine eingeschliffene Blickstrategie und müssen nicht suchen. Sie haben dadurch mehr Zeit zur Verfügung, um wahrzunehmen. Und sie fixieren bestimmte Areale länger. Die erfahreneren Torhüter in meiner Untersuchung, also die Toptorwarte im Alter von 18 Jahren, schauten ab 80 Millisekunden vor der Schussausführung verstärkt auf das Standbein und erzielten dadurch eine bessere Antizipationsleistung als die unerfahreneren Torhüter. Seinem Torwart nun aber nur beizubringen, er solle künftig immer aufs Standbein schauen, wäre zu einfach. Man muss auch verstehen, was diese Informationen bedeuten.

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DFB.de: Was sind "Chunks"?

Schultz: Das sind Gruppen von Informationen. Nehmen wir zum Beispiel die Art und Weise, wie wir uns Telefonnummern merken. Dabei "chunken" die meisten von uns: Wir merken uns lange Nummern nicht Ziffer für Ziffer, sondern wir bilden Ziffernpärchen. Übertragen auf den Torwart ist es so, dass er ganze Areale als Körpereinheiten sieht, also beispielsweise Oberkörper und Schulterdrehung. Aufgrund der Erfahrung kann der Torwart ein Körperteil sehen und auf den Rest rückschließen.

DFB.de: Sie haben verschiedene Hypothesen untersucht. Eine lautete: Die Schussseite ist leichter zu antizipieren als die Schusshöhe.

Schultz: Das war eine Absicherungshypothese, um zu prüfen, ob ich mit meinem Versuchsaufbau Ergebnisse bestätigen kann, für die in der Literatur bereits eindeutige Ergebnisse vorliegen. Auch ich konnte zeigen, dass die Schussseite deutlich besser zu antizipieren ist als die Schusshöhe.

DFB.de: Noch eine untersuchte Hypothese: Die Antizipationsleistung nimmt mit wachsender Situationskomplexität ab. Das bedeutet...?

Schultz: Je mehr los ist auf dem Videobild, desto schwerer wird es zu antizipieren. Experten müssten mit einer hohen Komplexität besser zurechtkommen als Novizen. Das hätte bedeutet, dass die besten Ergebnisse beim einzelnen Schützen und ruhendem Ball erzielt werden, die schlechtesten bei der 2:2-Situation. Das konnte ich aber mit meinen Ergebnissen nicht belegen.

DFB.de: Die Antizipationsleistung erfahrener Torhüter liegt höher als die unerfahrener Torhüter.

Schultz: Das konnte ich mit dem zuverlässigen Verfahren des Reaktionszeit-Paradigmas voll bestätigen. Beim Vergleich der Torwarte aus den Landesverbandsauswahlen zeigte sich, dass bei allen Spielsituationen die U 18-Torwarte immer besser antizipieren konnten als die der U 15. Selbst bei dieser hochselektiven Stichprobe machte die Erfahrung also einen großen Unterschied.

DFB.de: Das Blickverhalten unterscheidet sich zwischen korrekt und falsch angezeigten Schüssen.

Schultz: Auch das hat sich so gezeigt. Bei korrekt angezeigten Schüssen viel der Blick häufiger auf das Standbein. Bei falschen Vorhersagen wurden häufiger andere Areale angeschaut.

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DFB.de: Sollten junge Spitzentorwarte gezielt im Blickverhalten gecoacht werden?

Schultz: Das wäre verfrüht. Mit meinen Erkenntnissen haben wir einen Anfang gemacht. Wir wissen jetzt, welches Paradigma sich eignet, um eine Leistungsdiagnostik aufzubauen. Aber um einem jungen Torwart zu sagen, du musst erst dort hinschauen, und dann dort - dafür sind wir noch nicht weit genug.

DFB.de: WM-Viertelfinale 2014, Deutschland führt durch ein Tor von Mats Hummels 1:0 gegen Frankreich. Kurz vor dem Abpfiff taucht Karim Benzema frei vor Manuel Neuers Tor auf. Was ist antizipatorisch in diesem Moment passiert?

Schultz: Unabhängig von der Antizipation spielt da erst mal seine hervorragende Ausbildung eine Rolle, etwa das lange Stehenbleiben. Der DFB-Trainer Jörg Daniel postuliert das immer wieder, nicht schon frühzeitig "abzutauchen", sondern "groß zu bleiben". Den Weg, den Neuers Hand dann noch zurücklegen musste, um den Ball zu erreichen, hat er dadurch sehr gering gehalten. Es war also wirklich eine sehr effiziente Bewegung, eine fast unglaubliche Parade. Neuer muss zudem aber auch antizipiert haben, der Schuss kam mit voller Wucht aus kürzester Distanz und wäre aus spitzem Winkel klar im kurzen Eck eingeschlagen. Manuel Neuer würde seine Antizipationsfähigkeit vielleicht als Vorahnung bezeichnen - ohne sie hätte er keine Chance gehabt.

DFB.de: Sollten Torwarte sich unendlich viele Torabschlüsse anschauen, um so die Gedächtnisspeicher zu füllen?

Schultz: Das könnte unterstützend wirken. Während einer Verletzungsphase wäre das zum Beispiel denkbar. Wichtig wäre dann nur, dass die Schüsse aus der Torwartperspektive aufgenommen sind. Wenn man sicher sagen könnte, wohin der Blick zu welchem Zeitpunkt gehen sollte, wäre es hilfreich, wenn man dabei mit Aufmerksamkeitslenkern arbeiten würde, die die entsprechenden Bereiche zum richtigen Zeitpunkt hervorheben.

DFB.de: Sollten Torwarte im Training selbst aufs Tor schießen?

Schultz: Es gibt Theorien, die besagen, wenn man eine Bewegung selbst gut ausführen kann, erkennt man sie bei anderen auch schneller. Das ist also, zumindest gelegentlich, empfehlenswert. Der moderne Torwart hat aber eigentlich ohnehin im Training viele Bewegungserfahrungen außerhalb des Tors.

DFB.de: Wie ist die Perspektive wissenschaftlicher Berater im Fußball?

Schultz: Die Fragen der Fußballpraxis an die Wissenschaft sind oft so speziell, dass ein allgemeiner sportwissenschaftlicher Berater im Trainerstab vielleicht nicht die richtige Lösung ist. Experten aus Teilbereichen der Sportwissenschaft würden als Ansprechpartner für spezifische Fragen aber sicher gut tun. Zum Teil ist dies ja auch heute schon der Fall: Sportmediziner sind schon großflächig vertreten. Die Nachwuchsleistungszentren werden durchgehend durch einen Sportpsychologen beraten. Einige Vereine arbeiten auch mit Trainingswissenschaftlern und Biomechanikern zusammen.

DFB.de: Haben Sie eigentlich einen Lieblingstorwart?

Schultz: Auch für mich ist Manuel Neuer unbestritten die Nummer eins der Welt.

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