Julius Hirsch: An einem Tag vor 100 Jahren

Seit 2005 verleiht der Deutsche Fußball-Bund den Julius Hirsch Preis. Und gedenkt damit des Nationalspielers jüdischen Glaubens, der von den Nationalsozialisten entrechtet, verfolgt und ermordet wurde. Siebenmal spielte Hirsch für die DFB-Auswahl, und neben Gottfried Fuchs war er der einzige Jude, dem dies gelang.

Vor 100 Jahren trug er erstmals das Trikot der besten Elf Deutschlands. Redakteur Gereon Tönnihsen erinnert für DFB.de an diesen besonderen Spieler und sein Debüt in einer Zeit, in der der Fußball hierzulande noch in den Kinderschuhen steckte.

1911 waren Fußballer noch keine Stars

Vor 100 Jahren war ein Fußball-Länderspiel noch keine besonders große Sache. Fußballer waren noch keine Stars, Zeitungen widmeten den Spielen selten mehr als ein paar Zeilen, vom Profitum war man noch weit entfernt. Und es gab noch keinen Bundestrainer, die Mannschaft wurde in der Regel paritätisch nach Landesverbänden aufgestellt.

Das führte dazu, dass nicht immer die elf Besten nominiert wurden und dass für viele das erste Länderspiel zugleich das letzte war. Als das deutsche Team zum Abschluss seines vierten Länderspieljahres in München die Auswahl Ungarns empfing, war das nicht anders.

Es gab Kritik an der Zusammensetzung der elf Adlerträger, das war so üblich anno 1911. Den einen oder anderen kannten selbst die wenigen Experten nicht. Julius Hirsch, 19 Jahre alt und Spieler des Karlsruher FV, gehörte nicht dazu. Ganz im Gegenteil: Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten hatten sich längst herumgesprochen.

Julius Hirsch: Bekannt, aber nicht berühmt

Seit zwei Jahren gehörte der Stürmer zur ersten Mannschaft der Karlsruher, die damals die beste Angriffsreihe in ganz Deutschland hatten. Hirsch, Max Breunig, Fritz Förderer und Gottfried Fuchs waren 1910 mit dem KFV durch einen Sieg gegen Holstein Kiel Deutscher Meister und ihre Namen waren auch über die badische Stadt hinaus bekannt geworden. Bekannt, nicht berühmt, zumindest damals nicht. 1911 hatten sie es bis ins Halbfinale geschafft, und beim Länderspiel gegen die Ungarn am 17. Dezember waren in Förderer und Hirsch zwei von ihnen dabei.

Nur zwei. "Wie wohl das Lob vom KFV-Innensturm durch die Fußball- Lande rauschte und die Größe Breunigs schon seit Jahren feststand, glaubten die Herren in Hamburg, die Wahl eines ganzen Mannschaftsblocks nicht wagen zu dürfen", hieß es in einem zeitgenössischen Zeitungsbericht. "Damit fiel die deutsche Mannschaft, bevor noch der Ball rollte. Damit hatten die Räder keine Achse mehr!"

Einladung zu den Olympischen Spielen in Stockholm

8000 Zuschauer sahen sich das erste Länderspiel in München an, in den Tagen zuvor hatte es viel geregnet, das machte das Spielen nicht einfacher. Die Begegnung verlief einseitig, Ungarns eingespielte Mannschaft mit ihrem Top-Stürmer Imre Schlosser hatte wenig Mühe mit den Deutschen, die sich zum Teil erst kurz vor dem Spiel kennengelernt hatten. Die Gäste trafen viermal, für die DFB-Auswahl traf nur der Berliner Willi Worpitzky.

Es war kein Spiel, über das man noch lange sprach, aber immerhin: Hirsch, der junge Karlsruher, hatte bei seinem Debüt eine gute Leistung geboten. Hirsch durfte wiederkommen. Im Februar des nächsten Jahres bekam er Post vom DFB. In dem Brief, unterzeichnet von DFB-Geschäftsführer Walter Sanß, hieß es: "Der Spiel-Ausschuss hat Sie für würdig befunden, an den Olympischen Spielen in Stockholm teilzunehmen, dort also die Fußballspiele des DFB mitzumachen."

Vier Tore gegen die Niederlande

Es war eine Einladung, noch keine Nominierung. Bis Turnierbeginn waren es noch vier Monate, und Hirsch, der gerade seinen Militärdienst begonnen hatte, musste erst um Urlaub bitten. "Ich ging also zum Spieß (Feldwebel) und fragte ihn um Rat", schreibt Hirsch in seinen Erinnerungen. "Er zuckte nur mit den Achseln und sagte: Gehen Sie nur zum Herrn Hauptmann! Inzwischen war aber die Mitteilung vom Kriegsministerium Berlin eingetroffen, dass Oberle von Phönix und meiner Wenigkeit Zivilurlaub zu gewähren sei. Nun war mir ein großer Stein vom Herzen gefallen."

Einen Teil des Sommers würde er also in Schweden verbringen. Schon beim nächsten nationalen Vergleich im März gegen die Niederlande stand er wieder auf dem Platz. Acht Karlsruher waren dabei, zwei von Phönix, sechs vom KFV, darunter die vier Angreifer, die man nach dem Ungarn-Spiel noch gefordert hatte. Zweimal schon hatten beide Länder gegeneinander gespielt, beide Male hatte "Oranje" gewonnen. Das Spiel in Zwolle endete 5:5, für die Deutschen ein gefühlter Sieg. Für Hirsch ein Triumph. Denn er erzielte an diesem Tag vier Tore. Das war vorher noch keinem im deutschen Dress gelungen.

Sieben Länderspiele, vier Tore

Bei den Olympischen Spielen kam Hirsch in zwei von drei deutschen Spielen zum Einsatz. Nur beim 16:0 gegen Russland war er nicht dabei. Trotzdem behielt er die Tage von Stockholmin guter Erinnerung, nicht nur, weil ihn niederländische Spieler auf seine vier Tore von Zwolle ansprachen: "Stockholm selbst ist eine wunderbare Stadt. Wir wurden vom König und der Königin (einer geborenen Prinzessin von Baden) empfangen, ebenso vom Kronprinzen."

Bis 1913 gehörte Hirsch, der inzwischen zur SpVgg Fürth gewechselt war, regelmäßig zum deutschen Aufgebot und war ein wichtiger Leistungsträger. Im Jahr darauf wurde er auch mit Fürth noch einmal Meister. Dann kam der Krieg, der Fußball war mit einem Mal ganz weit weg. Hirsch musste an die Front nach Belgien und kehrte nach dem Krieg nach Karlsruhe zurück. Seinen sieben Länderspielen und vier Toren konnte er keines mehr hinzufügen.

Entrechtet, verfolgt, erniedrigt - und ermordet

Am 10. April 1933, kurz nach seinem 41. Geburtstag, las er in der Zeitung, dass sich die süddeutschen Klubs, darunter auch der Karlsruher FV, entschlossen hatten, ihre jüdischen Mitglieder auszuschließen. Am selben Tag schrieb er seinem Verein: "Ich gehöre dem KFV seit dem Jahre 1902 an und habe demselben treu und ehrlich immer meine schwacheKraft zur Verfügung gestellt. Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch Herzblut vergossene deutsche Juden gibt."

Hirsch, der erst für Deutschland Fußball gespielt und später im Krieg gekämpft hatte, der beliebt war und geschätzt, wurde aufgrund seines Glaubens an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Auch aus den Statistiken der Nationalmannschaft wurden seine Leistungen in dieser Zeit gelöscht. Er verlor seine Arbeit, erwurde entrechtet, verfolgt, erniedrigt.

1945 wurde er vermutlich im Vernichtungslager Auschwitz getötet. Wer vor einem Jahrhundert für Deutschland spielte, den kennt heute fast niemand mehr. Julius Hirsch jedoch ist nicht vergessen.

[gt]

[bild1]

Seit 2005 verleiht der Deutsche Fußball-Bund den Julius Hirsch Preis. Und gedenkt damit des Nationalspielers jüdischen Glaubens, der von den Nationalsozialisten entrechtet, verfolgt und ermordet wurde. Siebenmal spielte Hirsch für die DFB-Auswahl, und neben Gottfried Fuchs war er der einzige Jude, dem dies gelang.

Vor 100 Jahren trug er erstmals das Trikot der besten Elf Deutschlands. Redakteur Gereon Tönnihsen erinnert für DFB.de an diesen besonderen Spieler und sein Debüt in einer Zeit, in der der Fußball hierzulande noch in den Kinderschuhen steckte.

1911 waren Fußballer noch keine Stars

Vor 100 Jahren war ein Fußball-Länderspiel noch keine besonders große Sache. Fußballer waren noch keine Stars, Zeitungen widmeten den Spielen selten mehr als ein paar Zeilen, vom Profitum war man noch weit entfernt. Und es gab noch keinen Bundestrainer, die Mannschaft wurde in der Regel paritätisch nach Landesverbänden aufgestellt.

Das führte dazu, dass nicht immer die elf Besten nominiert wurden und dass für viele das erste Länderspiel zugleich das letzte war. Als das deutsche Team zum Abschluss seines vierten Länderspieljahres in München die Auswahl Ungarns empfing, war das nicht anders.

Es gab Kritik an der Zusammensetzung der elf Adlerträger, das war so üblich anno 1911. Den einen oder anderen kannten selbst die wenigen Experten nicht. Julius Hirsch, 19 Jahre alt und Spieler des Karlsruher FV, gehörte nicht dazu. Ganz im Gegenteil: Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten hatten sich längst herumgesprochen.

Julius Hirsch: Bekannt, aber nicht berühmt

Seit zwei Jahren gehörte der Stürmer zur ersten Mannschaft der Karlsruher, die damals die beste Angriffsreihe in ganz Deutschland hatten. Hirsch, Max Breunig, Fritz Förderer und Gottfried Fuchs waren 1910 mit dem KFV durch einen Sieg gegen Holstein Kiel Deutscher Meister und ihre Namen waren auch über die badische Stadt hinaus bekannt geworden. Bekannt, nicht berühmt, zumindest damals nicht. 1911 hatten sie es bis ins Halbfinale geschafft, und beim Länderspiel gegen die Ungarn am 17. Dezember waren in Förderer und Hirsch zwei von ihnen dabei.

Nur zwei. "Wie wohl das Lob vom KFV-Innensturm durch die Fußball- Lande rauschte und die Größe Breunigs schon seit Jahren feststand, glaubten die Herren in Hamburg, die Wahl eines ganzen Mannschaftsblocks nicht wagen zu dürfen", hieß es in einem zeitgenössischen Zeitungsbericht. "Damit fiel die deutsche Mannschaft, bevor noch der Ball rollte. Damit hatten die Räder keine Achse mehr!"

Einladung zu den Olympischen Spielen in Stockholm

8000 Zuschauer sahen sich das erste Länderspiel in München an, in den Tagen zuvor hatte es viel geregnet, das machte das Spielen nicht einfacher. Die Begegnung verlief einseitig, Ungarns eingespielte Mannschaft mit ihrem Top-Stürmer Imre Schlosser hatte wenig Mühe mit den Deutschen, die sich zum Teil erst kurz vor dem Spiel kennengelernt hatten. Die Gäste trafen viermal, für die DFB-Auswahl traf nur der Berliner Willi Worpitzky.

Es war kein Spiel, über das man noch lange sprach, aber immerhin: Hirsch, der junge Karlsruher, hatte bei seinem Debüt eine gute Leistung geboten. Hirsch durfte wiederkommen. Im Februar des nächsten Jahres bekam er Post vom DFB. In dem Brief, unterzeichnet von DFB-Geschäftsführer Walter Sanß, hieß es: "Der Spiel-Ausschuss hat Sie für würdig befunden, an den Olympischen Spielen in Stockholm teilzunehmen, dort also die Fußballspiele des DFB mitzumachen."

Vier Tore gegen die Niederlande

Es war eine Einladung, noch keine Nominierung. Bis Turnierbeginn waren es noch vier Monate, und Hirsch, der gerade seinen Militärdienst begonnen hatte, musste erst um Urlaub bitten. "Ich ging also zum Spieß (Feldwebel) und fragte ihn um Rat", schreibt Hirsch in seinen Erinnerungen. "Er zuckte nur mit den Achseln und sagte: Gehen Sie nur zum Herrn Hauptmann! Inzwischen war aber die Mitteilung vom Kriegsministerium Berlin eingetroffen, dass Oberle von Phönix und meiner Wenigkeit Zivilurlaub zu gewähren sei. Nun war mir ein großer Stein vom Herzen gefallen."

Einen Teil des Sommers würde er also in Schweden verbringen. Schon beim nächsten nationalen Vergleich im März gegen die Niederlande stand er wieder auf dem Platz. Acht Karlsruher waren dabei, zwei von Phönix, sechs vom KFV, darunter die vier Angreifer, die man nach dem Ungarn-Spiel noch gefordert hatte. Zweimal schon hatten beide Länder gegeneinander gespielt, beide Male hatte "Oranje" gewonnen. Das Spiel in Zwolle endete 5:5, für die Deutschen ein gefühlter Sieg. Für Hirsch ein Triumph. Denn er erzielte an diesem Tag vier Tore. Das war vorher noch keinem im deutschen Dress gelungen.

[bild2]

Sieben Länderspiele, vier Tore

Bei den Olympischen Spielen kam Hirsch in zwei von drei deutschen Spielen zum Einsatz. Nur beim 16:0 gegen Russland war er nicht dabei. Trotzdem behielt er die Tage von Stockholmin guter Erinnerung, nicht nur, weil ihn niederländische Spieler auf seine vier Tore von Zwolle ansprachen: "Stockholm selbst ist eine wunderbare Stadt. Wir wurden vom König und der Königin (einer geborenen Prinzessin von Baden) empfangen, ebenso vom Kronprinzen."

Bis 1913 gehörte Hirsch, der inzwischen zur SpVgg Fürth gewechselt war, regelmäßig zum deutschen Aufgebot und war ein wichtiger Leistungsträger. Im Jahr darauf wurde er auch mit Fürth noch einmal Meister. Dann kam der Krieg, der Fußball war mit einem Mal ganz weit weg. Hirsch musste an die Front nach Belgien und kehrte nach dem Krieg nach Karlsruhe zurück. Seinen sieben Länderspielen und vier Toren konnte er keines mehr hinzufügen.

Entrechtet, verfolgt, erniedrigt - und ermordet

Am 10. April 1933, kurz nach seinem 41. Geburtstag, las er in der Zeitung, dass sich die süddeutschen Klubs, darunter auch der Karlsruher FV, entschlossen hatten, ihre jüdischen Mitglieder auszuschließen. Am selben Tag schrieb er seinem Verein: "Ich gehöre dem KFV seit dem Jahre 1902 an und habe demselben treu und ehrlich immer meine schwacheKraft zur Verfügung gestellt. Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch Herzblut vergossene deutsche Juden gibt."

Hirsch, der erst für Deutschland Fußball gespielt und später im Krieg gekämpft hatte, der beliebt war und geschätzt, wurde aufgrund seines Glaubens an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Auch aus den Statistiken der Nationalmannschaft wurden seine Leistungen in dieser Zeit gelöscht. Er verlor seine Arbeit, erwurde entrechtet, verfolgt, erniedrigt.

1945 wurde er vermutlich im Vernichtungslager Auschwitz getötet. Wer vor einem Jahrhundert für Deutschland spielte, den kennt heute fast niemand mehr. Julius Hirsch jedoch ist nicht vergessen.