Erstmals 24 Mannschaften dabei

In immer neue Dimensionen stößt der Fußball vor. Die EM 2016 in Frankreich setzte in Sachen Teilnehmerzahlen wie schon die WM 1998 im selben Land neue Maßstäbe: die UEFA gewährte erstmals 24 Mannschaften Zugang zu ihrem bedeutendsten Turnier. Trotzdem gab es einige prominente Abwesende, die es nicht durch die Mühlen der Qualifikation schafften: Vize-Weltmeister Niederlande musste unter anderem EM-Neuling Island den Vortritt lassen, gegen das er in 180 Minuten nicht mal ein Tor schoss. Der Europameister von 2004, Griechenland, blieb ebenfalls auf der Strecke, während sich in seiner Gruppe mit Nordirland noch ein EM-Debütant durchsetzte – und mit Ungarn ein überaus seltener Gast (nach 44 Jahren). In den Playoffs scheiterte mit Dänemark der Europameister von 1992. Die deutsche Mannschaft ging mit dem frischen Ruhm des Weltmeisters in die Qualifikation und überstand sie trotz der ersten Niederlage überhaupt gegen Polen (0:2 in Warschau) als Gruppensieger. So bekam die Mannschaft wieder einmal die Favoritenrolle aufgedrückt. "Das muss auch unser Anspruch sein, wir wollen das Turnier gewinnen", sagte Bundestrainer Joachim Löw, dessen Aufgebot noch 14 Weltmeister enthielt. Mit Julian Weigl (Dortmund) und Joshua Kimmich (Bayern) standen vor der Nominierung auch zwei Talente ohne Länderspiele darin, Leroy Sané (Schalke) hatte einen Einsatz. Die Verjüngungskur hatte begonnen, aber außer dem Kölner Linksverteidiger Jonas Hector setzte Löw in der Stammformation auf seine Weltmeister. Auch weil Dortmunds Stürmer Marco Reus der Pechvogel der Nation blieb. Schon die WM 2014 hatte er kurz vor Abflug verletzt verpasst, 2016 musste er wegen Adduktoren-Problemen noch am Tag der endgültigen Nominierung passen. "Was hat der Fußball-Gott gegen Reus?" fragte die Bild. Zudem erwischte es Verteidiger Antonio Rüdiger (AS Rom), für den der Leverkusener Jonathan Tah aus dem Miami-Urlaub nachnominiert wurde. Trotzdem wurde der Kader für stark genug gehalten, den vierten EM-Titel einzufahren. Natürlich wurden auch Titelverteidiger Spanien, Gastgeber Frankreich und die großen Fußballnationen Italien und England hoch gehandelt, Löw rechnete "vielleicht mit Belgien."

Über den Spielen von Frankreich lastete ein dunkler Schatten, der die sonst übliche große Vorfreude dämpfte. Europa stand seit Monaten im Fokus islamistischer Bedrohungen und nach zahlreichen Attentaten mit vielen Todesopfern, auch im Ausrichterland, war Frankreich 2016 auch eine Hochsicherheits-EM. Mit Maschinengewehren patrouillierende Soldaten gehörten zum Bild aller neun EM-Städte. Die Deutschen erhielten einen bitteren Vorgeschmack, als sich im November 2015 in Paris ein Attentäter beim Testspiel gegen Frankreich am Stadioneingang in die Luft sprengte, nachdem ihn Ordner abgefangen hatten. Eigentlich wollte er seinen Sprengstoffgürtel im Stadion zünden. Bis zur Klärung der Sicherheitslage musste der DFB-Tross im Stadion bleiben und dort auf Matratzen in der Kabine übernachten. Eine Absage der EM kam dennoch nicht in Frage, der Fußball wich dem Terror nicht. Eine richtige Entscheidung. Bei dem Turnier wurde dann zum Glück nur mit Bällen geschossen.

95 neue Regeln

Das Turnier: Für die 15. EM hatten sich die Hüter des internationalen Regelboards einiges einfallen lassen, es gab 95 neue Regeln. Die meisten blieben den Zuschauern verborgen, aber dass der erste Anstoß des Eröffnungsspiels zwischen Frankreich und Rumänien nach hinten ausgeführt wurde, das irritierte jeden der je Fußball gespielt hatte. Als nützlicher erwies sich die Abschaffung der Dreifachstrafe bei Notbremsen im Strafraum, die nicht mehr automatisch eine Rote Karte einbrachten. Neu war auch, dass vier Gruppendritte das Achtelfinale erreichen würden, die Besten im Quervergleich der sechs Gruppen. Ein fragwürdiges Verfahren, da natürlich nicht alle Gruppen gleich stark sein konnten. Aber irgendwie musste man auf die Zahl 16 kommen.

Am 10. Juni ging das Turnier los, die Grande Nation erwartete einen Sieg gegen Rumänien und natürlich den Gruppensieg dazu – das Los hatte Frankreich noch Debütant Albanien und die braven Schweizer beschert. Nach Abschluss der Gruppe A war das Team von Trainer Didier Deschamps froh, irgendwie durchgekommen zu sein. Gegen Rumänien traf Dimitri Payet in vorletzter Minute zum 2:1, gegen Albanien (2:0) fielen die Tore noch später (90., 90+6) und vom Spiel gegen die Schweiz (0:0) blieb nur das Trikotdesaster des Gegners in Erinnerung: gleich sieben Spieler mussten ihr Dress wechseln, weil es zerrissen war. Ausrüster Puma bedauerte den Materialfehler zutiefst. Auch das sportliche Niveau des Abends von Lille durfte man getrost bedauern, die Mannschaften aber erreichten ihr Ziel: Frankreich den Gruppensieg, die Schweiz Platz zwei. Sie überstand damit erstmals die Vorrunde bei einer EM. Das ging zu Lasten der Rumänen, die nach dem 1:1 gegen die Schweiz nun gegen Albanien ihre letzte Chance suchten, aber 0:1 verloren. Damit zogen die zuvor zweimal unterlegenen Skipetaren an Rumänien vorbei, der Treffer von Sadiku brachte die ersten EM-Punkte für dieses Land. "Es ist unfassbar, was das für unser Volk bedeutet", sagte der für den HSV spielende Mergim Mavrai. Ausgeschieden waren sie trotzdem, wie die Rumänen, die für die eigenen Medien nun nur noch"eine Ansammlung mittelmäßiger Spieler" waren. Der Vertrag von Nationaltrainer Anghel Iordanescu wurde nicht verlängert. In Gruppe A fielen im Schnitt nur 1,5 Tore, in keiner Paarung schoss ein Team mehr als zwei.

So war es auch in Gruppe B bis zum letzten Spiel, als Außenseiter Wales sich durch ein furioses 3:0 über Russland zum Gruppensieg schoss. Besser kann eine EM-Historie für ein Land kaum beginnen. Zumal sich Wales in einer Gruppe mit England befand. Das Mutterland des Fußballs gewann zwar das Bruderduell durch ein Tor in der Nachspielzeit mit 2:1, kam aber gegen Russland (1:1) und zum Abschluss gegen die Slowakei (0:0) – einer Partie mit 27 Torschüssen – nur zu zwei Remis. Es reichte für Platz zwei, aber die Rolle des Mitfavoriten waren sie los. Die Slowakei, die nur zum Auftakt gegen Wales (1:2) verlor, beendete ihre EM-Premiere als einer der vier besten Gruppendritten und blieb im Turnier, die Russen dagegen fuhren nach Hause. Sportler und Fans des Riesenreiches hatten kein gutes Bild in Frankreich abgegeben, zum Auftakt gegen England kam es im und vor dem Stadion von Marseille zu heftigen Verletzten. Die UEFA drohte mit dem Ausschluss beider Mannschaften vom Turnier und drückte ihre"große Abscheu für die gewaltsamen Auseinandersetzungen aus, zu denen es im Stadtzentrum von Marseille gekommen ist" aus. Ebenso über den Blocksturm russischer Hooligans, die wahllos auf englische Fans einprügelten. Einige retteten sich panisch aufs Spielfeld. 43 russische Hooligans wurden verhaftet. In Russland hielt man die Reaktion für überzogen, Moskau bestellte sogar den französischen Botschafter ein." Der andere Terror" (Frankfurter Rundschau) hielt die EM für ein paar Tage in Atem, blieb aber auf die Gruppe B beschränkt. Trotz der Warnung der UEFA kam es auch vor dem russischen Spiel gegen die Slowakei wieder zu Ausschreitungen, dann war der Spuk vorbei. Zum Glück.

Schweinsteiger kommt und trifft

Deutschland als Kopf der Gruppe C griff am 12. Juni ins Turnier ein, die Polen und Nordirland eröffnet hatten. Die Polen gewannen hochverdient und noch viel zu niedrig durch ein Tor des Ex-Leverkuseners Arkadiusz Milik mit 1:0. Es war der erste Sieg des Landes bei einer EM-Endrunde. Die Briten enttäuschten ihren Anhang (10.000 waren in Nizza) und schafften keinen einzigen Torschuss, wofür sich Kapitän Steven Davies entschuldigte. Polen blieb nur drei Stunden Tabellenführer, dann zog der Weltmeister vorbei. Keineswegs locker-leicht, der Abend von Lille wurde eine zähe Angelegenheit. Weil die Ukraine trotz des frühen Kopfballtors durch Verteidiger Shkodran Mustafi, den nur wenige als ersten Torschützen auf dem Zettel hatten, nicht aufmachten. 63 Prozent Ballbesitz garantierten kein Schützenfest. Bis zur Nachspielzeit mussten die Fans (26,57 Millionen TV-Zuschauer in der ARD) zittern, ehe das zweite Tor fiel. Auch dieser Schütze überraschte, denn er kam erst in Minute 90 ins Spiel und stopfte gewöhnlich Löcher. Der noch angeschlagene Sechser, Kapitän Bastian Schweinsteiger, hatte genug Luft für einen Konter und drosch den Ball nach einem 30-Meter-Spurt ins Netz. Was für ein Comeback nach dreimonatiger Pause! Hinterher war "Schweini" angeblich "ein bisschen außer Atem". Die Bild titelte: "Mann, haben wir Schweini-Glück". Bezogen auch auf die artistische Rettungstat von Abwehrchef Jerome Boateng, der vor der Pause auf der Torlinie den Ausgleich verhinderte. Die Nation war beruhigt, holprige Starts verzeichneten alle Favoriten. Den Rekord, auch das zwölfte Startspiel einer EM nicht verloren zu haben, nahmen die Deutschen gerne mit.

Das zweite Spiel in Nordirlands EM-Historie war denkwürdig. Hagelkörner in Golfballgröße erzwangen gleich zwei Spielunterbrechungen, Verteidiger Gareth Mc Auley köpfte das erste EM-Tor seines Landes, das gegen die Ukraine den ersten Sieg (2:0) einleitete. "Nationale Helden, Geschichtsschreiber, Legenden", jubilierte der Belfast Telegraph. Die Ukraine dagegen schaffte es, schon nach zwei Spielen ausgeschieden zu sein, da selbst Platz 3 wegen des direkten Vergleichs unerreichbar geworden war. "Wir waren mental nicht auf der Höhe", entschuldigte sich Trainer Michail Formenko. Das Aus der Ukraine war erst drei Stunden nach Abpfiff perfekt, als sich Deutschland und Polen in Paris 0:0 getrennt hatten. Der stärkste deutsche Gegner in der Qualifikation zeigte erneut Zähne. Die Löw-Elf errichtete einen Belagerungsring um den Strafraum, aber keiner brach hindurch. "Diese Deutschen machen niemandem Angst", lästerte Spaniens Sportzeitung AS und Bild forderte: "Jogi, für den Titel muss mehr kommen!" Kritik kam auch aus den eigenen Reihen. Boateng sprach ins TV-Mikrofon warnende Worte: "Wir können froh sein, dass wir 0:0 gespielt haben. Wir müssen auch mal zum Abschluss kommen." So wie die Polen, die gegen die von Rückkehrer Mats Hummels geführte Abwehr zwei Großchancen hatten, während Deutschland nur den Ball hatte (meistens). Das Modell mit der "falschen Neun", die bis zu seiner Auswechslung WM-Held Mario Götze gab, stand auf dem Prüfstand. Löw reagierte und brachte im letzten Gruppenspiel gegen Nordirland Brechertyp Mario Gomez, Götze wich auf den linken Flügel und Julian Draxler musste auf die Bank. Überraschend spielte auf rechts Joshua Kimmich, der erst 23 Bundesligaspiele auf dem Buckel hatte. Für ihn musste Weltmeister Benedikt Höwedes weichen. Die Maßnahmen fruchteten. Kimmich interpretierte die Rolle offensiver als Höwedes und schlug mutig Flanken, hatte über 100 Ballkontakte. Und Gomez schoss das Tor des Tages (30.), das den Gruppensieg sicherte. Löw hatte dennoch keine gute Laune, seine Elf betrieb geradezu Chancenwucher in Paris. "Wenn ich fünfmal allein vor dem Torhüter bin, erwarte ich ein Tor." Damit konnten weder Thomas Müller noch Götze dienen, auch Gomez vergab drei Großchancen. Immerhin hatte die Abwehr die Vorrunde ohne Gegentor überstanden, das gab es für eine DFB-Auswahl bei einer EM nur beim Triumph von 1996. Ein gutes Omen? Franz Beckenbauer verwies in seiner Bild-Kolumne zudem auf eherne Gesetze: "Wir steigern uns ja in jedem Turnier." Im Parallelspiel schoss Dortmunds Jakub Blaszczykowski alias "Kuba" die Auswahl Polens mit einem Schlenzer in den Winkel zum 1:0-Sieg gegen die Ukraine, die tor- und punktlos abreiste, und erstmals ins Achtelfinale. Da ließ es sich verschmerzen, dass der Bundesligatorschützenkönig 2016, Robert Lewandowski, auch im dritten Spiel leer ausgegangen war. Er entgegnete den Kritikern: "Ich will als Kapitän, dass meine Mannschaft gewinnt. Wir betreiben keine Einzelsportart, sondern Fußball." Glücklicher waren die Nordiren, die vom deutschen Chancenwucher profitierten und wegen der knapp besseren Tordifferenz gegenüber Albanien (Gruppe A) und der Türkei (D) auch als Dritter ins Achtelfinale einzogen.