Spanien verpasst Rekord

In Gruppe D residierte Titelverteidiger Spanien, der mit Tschechien, der Türkei und Kroatien keine Glückslose bekommen hatte. Dennoch war er nach zwei Spielen bereits durch. Ein arbeitsreiches 1:0 gegen die Tschechen legte die Basis, ein deutliches 3:0 gegen die Türkei sorgte für Klarheit. Den Türken wiederum blieb nur noch ein dünner Strohhalm, da sie zum Auftakt schon den Kroaten unterlagen (0:1). Am letzten Gruppenspieltag trafen daher zwei schon qualifizierte Teams in Bordeaux aufeinander, was Spaniens Trainer Vicente del Bosque trotzdem nicht dazu verleitete, gegen Kroatien der Reserve Auslauf zu geben. Die zuvor zweimal siegreiche Elf, weiter ohne Torwartikone Iker Casillas, ließ die Zügel diesmal jedoch locker und verlor 1:2. Sergio Ramos verschoss sogar einen Elfmeter, das kostete letztlich den Gruppensieg und die Rekordserie von 14 Endrundenspielen ohne Niederlage. Den Türken wiederum half selbst ein 2:0 gegen erstmals enttäuschende Tschechen nicht, ihnen fehlte im Quervergleich der Dritten ein Tor. Auch in dieser Gruppe sorgten Fans für Ärger. Die wiederholt auffällig gewordenen Kroaten provozierten wie schon 2012 eine Spielunterbrechung, als sie kurz vor Ende der Partie gegen die Tschechen Feuerwerkskörper auf den Rasen warfen, ein Ordner erlitt schwere Verletzungen. Nach der Unterbrechung kamen die Tschechen noch zum 2:2, was mancher als gerechte Strafe empfand.

Gruppe E stand ganz im Zeichen der Erfahrung. Mit Irland und Italien befanden sich die Teams mit den ältesten Kadern des Turniers darin, Schweden setzte auf seinen Altstar Zlatan Ibrahimovic, damals schon 34. Nur die jungen Belgier tanzten aus der Reihe, waren aber gerade wegen ihrer Unbekümmertheit ein Geheimfavorit. "Wenn Du mit dieser Mannschaft nicht mindestens bis ins Halbfinale kommst, musst Du Dir einen anderen Job suchen", legte Ex-Keeper Jean-Marie Pfaff die Latte hoch für Trainer Marc Wilmots. Aber schon im ersten Spiel gab es einen Dämpfer, die alten Italiener um Torwart Gianluigi Buffon (38) zockten sie nach bewährtem Muster ab. Ein Tor vor der Pause, dann Schoten dicht und noch ein Konter in der Nachspielzeit – 2:0. Nebenher stellten sie einen Seniorenrekord der EM-Historie auf, im Schnitt war Antonio Contes Squadra Azzura 31 Jahre und 168 Tage alt. Alter schützte jedoch vor Siegen und Toren nicht. Schon nach dem zweiten Spiel war Italien durch – diesmal reichte ein Tor, das Eder in der 88. Minute den Schweden einschenkte. Die waren nach dem 1:1 gegen die Iren unter Druck und nun fast ausgeschieden. Superstar Ibrahimovic warf schon nach dem ersten Spiel die Kapitänsbinde achtlos weg, nach dem 0:1 in Toulouse ignorierte er alle Reporter. "Das ist eine Schande", kritisierte die Zeitung "Expressen" den Hoffnungsträger der Drei-Kronen-Auswahl. Im Kampf um die anderen Achtelfinalplätze setzte Belgien, das zuvor eine Krisensitzung ohne Trainer abhielt, ein Ausrufezeichen und fegte über die wackeren Iren hinweg. 3:0 hieß es am Ende in Bordeaux, Romelu Lukaku traf nach der Pause doppelt und beendete die belgische Flaute nach 27 vergeblichen Torschüssen bei dieser EM. Der Everton-Stürmer war einer von sage und schreibe 18 Premier-League-Spielern auf dem Platz. Vor dem letzten Spieltag hatten noch alle drei Teams hinter Italien eine Chance und der Gegner der nur mit einer B-Elf angetretenen Azzuri nutzte sie direkt: fünf Minuten vor dem Abpfiff schoss Robbie Brady Irland zum Sieg und ins Achtelfinale. Zwar nur als Dritter, aber vier Punkte waren genug für "ein Stück Geschichte", wie der Irish Independent formulierte. Bei der dritten Teilnahme überstand Irland erstmals die Vorrunde. Natürlich hatte der Sieg sein "Gschmäckle", angesichts von neun Änderungen in der Startelf schrieb die Gazetta dello Sport verärgert: "Wie hässlich ist dieses B-Italien." Ein Tor fiel auch nur in Nizza. Belgiens Radja Nainggolan schoss Schweden aus dem Turnier und beendete Ibrahimovic‘ Länderspielkarriere nach 116 Einsätzen und 62 Toren. Ein 63. Tor wurde ihm von Felix Brych aberkannt. "Ich bin enttäuscht, aber auch stolz", gab "Ibra" zu Protokoll. Immerhin hatte er seine Stimme wieder gefunden, aber für ihn und sein Land war das letzte Wort bei dieser EM gesprochen.

Isländer sorgen für Gänsehautmomente

Gruppe F war von der Papierform her die schwächste, kein Mensch konnte hier ernstlich den kommenden Europameister vermuten. Portugal als Gruppenkopf bekam es mit Debütant Island und den seltenen EM-Gästen Ungarn und Österreich zu tun und hätte das Achtelfinale trotzdem fast verpasst. Denn gleich zum Auftakt patzte es gegen die vom Schweden Lars Lagerbäck trainierten Isländer (1:1), deren stimmgewaltiger Anhang der Welt einen neuen Jubel lehrte. Das vom rhythmischen Klatschen begleitete "UUU" erklang nach allen drei Spielen des krassesten Außenseiters, der auch von den Ungarn (1:1) und den Österreichern nicht zu schlagen war. Verhinderte gegen die Ungarn noch ein spätes Eigentor den ersten isländischen Sieg, so wurde er im entscheidenden Spiel in Paris gegen Österreich wahr. Das hatte gegen Ungarn (0:2) verloren und gegen Portugal (0:0) einfach gepunktet, auch nur weil Cristiano Ronaldo einen Elfmeter verschoss. Nun mussten sie gewinnen, doch in der vierten Minute der Nachspielzeit glückte Joker Amor Ingvi Traustason das 2:1, das Island auf Platz zwei katapultierte. Der Torjubel des isländischen TV-Kommentators geriet zur Hysterie und währte 90 Sekunden – wahre Gefühlsexplosionen von Bewohnern aus dem Land der Geysire. Trainer Lagerbäck schlug vor, den Nationalfeiertag (17. Juni) um fünf Tage nach hinten zu verschieben nach dem "größten Moment des isländischen Fußballs", den der erste Torschütze Jon Dadi Bödvarsson ausrief. Die deprimierten Österreicher, nach einer starken Qualifikation schon als neues Wunderteam gefeiert, mussten beschämt abreisen. Bayern-Star David Alaba: "Wir sind noch nicht so weit, um ein Großereignis wie die EM zu spielen." Von den vom Deutschen Bernd Storck trainierten Ungarn hätte das zuvor auch keiner beschworen, doch nach dem irrsten Vorrunden-spiel der EM kamen sie in Lyon gar als Gruppensieger ins Ziel. Das 3:3 reichte auch den Portugiesen, deren Weltstar Cristiano Ronaldo vor der Partie seine Gereiztheit offenbarte indem er ein TV-Mikrofon, das ihm beim Spaziergang unter die Nase gehalten worden war, in den See warf. Nun zeigte er sich auch auf dem Platz treffsicher und erzielte seine ersten beiden Turniertore, womit sein Team als Dritter mit drei Remis ins Achtelfinale kroch. Trainer Fernando Santos suchte und fand das Positive an der Hitzeschlacht (32 Grad): "Dreimal waren wir schon draußen, das hätte jedes Team verunsichert. Aber meines hat dreimal ausgeglichen."

Trotz dieses Spektakels schloss die Vorrunde mit einem mäßigen Schnitt von 1,92 Treffern pro Spiel. Nach zwei Ruhetagen begannen die Achtelfinals, in denen noch alle Favoriten, vier Ex-Europameister und drei EM-Debütanten standen. Nur das erste Spiel musste im Elfmeterschießen entschieden werden, die Polen hatten gegen die Schweiz das bessere Ende für sich und erreichten erstmals das Viertelfinale. Die ausgeschiedenen Schweizer trösteten sich damit, dass Ex-Bayern-Profi Xherdan Shaqiri das wohl schönste Tor der EM gelang – per Seitfallzieher brachte er seine Auswahl immerhin noch in die Verlängerung. "Wenn Du ausscheidest, bringt auch das schönste Tor nicht mehr viel", empfand der Schütze nur wenig Freude. Im Elfmeterschießen wurde kein Ball gehalten, aber der in Mönchengladbach sein Geld verdienende Granit Xhaka schoss am Tor vorbei. "Was für ein Drama – und so brutal für die Schweiz", bildete der Tagesanzeiger die Gefühle der Eidgenossen ab. Am selben Tag fanden noch zwei hart umkämpfte, aber weit niveauärmere Spiele statt. Im Briten-Derby setzte sich Wales gegen Nordirland mit 1:0 durch, ein Eigentor von McAuley entschied die "Battle of Britain II". Alan Shearer, englische Fußballlegende beklagte das "erschreckende Niveau", den Walisern war es letztlich einerlei. "Ein Spiel auf diese Weise zu verlieren ist sehr, sehr grausam", klagte Trainer Michael O’Neill. Um den sportlichen Unterhaltungs-wert der Nordiren war es nicht sonderlich schade, doch nun fehlte auch das Lied dieser EM. Das hatten die Fans dem populären Ersatzspieler Will Grigg gewidmet, der sein Team Wigan Athletic in die 2. Englische Liga geschossen hatte. So sehr sie ihn aber auch besangen –"Will Grigg’s on Fire" wurde ein echter Ohrwurm – so sehr ignorierte ihn sein Trainer: "Er ist nur Stürmer Nummer vier bei uns". Keine Sekunde gespielt, aber plötzlich weltbekannt – auch eine der schönen Geschichten dieser EM.

In Lens stieg das furchtbarste Spiel des Turniers, Kroatien und Portugal brachten es nach 36 Jahren wieder einmal fertig, eine EM-Partie ohne Torschuss in den ersten 90 Minuten zu absolvieren. Den Präzedenzfall hatten Belgien und Italien 1980 geliefert, aber damals ging es um Punkte. In Lens musste ein Sieger ermittelt werden und er fand sich erst in der Verlängerung. Im Gegenzug nach einem kroatischen Pfostenschuss glückte Portugals Joker Ricardo Queresma per Kopf nach 117 Minuten das Tor des Tages. Die Bild am Sonntag forderte empört: "Ein solches Spiel wollen wir bei dieser EM nie wieder sehen!" Portugals Trainer Fernando Santos entschuldigte sein Defensivkonzept mit der Klasse des Gegners, denn "Kroatien hat mit den besten Fußball in der Gruppenphase gespielt." Es war aber trotzdem raus und litt. Ivan Rakitic: "Ich habe noch nie so viel Trauer und Tränen gesehen. Manchmal ist Fußball das dümmste Spiel der Welt." Am zweiten Achtelfinaltag wurde es deutlich besser. Gastgeber Frankreich stand in Lyon schon vor dem Aus, da die Iren seit der zweiten Minute durch einen Brady-Elfmeter führten. Wunderknabe Antoine Griezmann rettete jedoch mit einem Doppelschlag binnen 226 Sekunden die Stimmung im Land des Gastgebers. Am Ende war das 2:1 noch schmeichelhaft für die "boys in green" und Franzosen-Trainer Didier Deschamps bemerkte: "Ich denke, die Mannschaft hat das Stadion zum Beben gebracht." Die Iren dagegen konnten ihren Frankreich-Komplex nicht beheben. Vor der WM 2010 waren sie nach einem eindeutigen Handspiel von Thiery Henry um ihr Südafrika-Ticket gebracht und von der Fifa sogar mit fünf Millionen Euro besänftigt worden. Ihr Wunsch nach einer sportlichen Revanche blieb, erfüllte sich aber nicht.

Niemand spricht mehr von Torflaute

Am frühen Abend trat der Weltmeister wieder in den Ring. Immer noch ohne Bastian Schweinsteiger, aber plötzlich mit Julian Draxler für Mario Götze. Der Schachzug von Löw ging auf, der 22 Jahre alte Wolfsburger gehörte zu den Gewinnern des Abends von Lille, wo die slowakische Mannschaft von Beginn an auf verlorenem Posten stand. Hatte sie das Testspiel Ende Mai in Augsburg noch 3:1 gewonnen, musste sie diesmal eine 0:3-Klatsche quittieren. Nach Treffern von Boateng und Gomez vor und Draxler nach der Pause sprach plötzlich niemand mehr von der Torflaute, auch der verschossene Elfmeter von Mesut Özil fiel nicht weiter ins Gewicht. "Jogi hat wieder sein goldenes Händchen", frohlockte Bild. Nur um einen sorgte sich die Nation: Thomas Müller, bei WM-Endrunden zuverlässigster Schütze, blieb wie schon 2012 ohne Tor. 28,11 Millionen TV-Zuschauer bei dieser Partie markierten einen neuen Rekord für ein DFB-Länderspiel. In der dritten Partie jenes 26. Juni gab es die geringste Spannung. Belgien stutzte den neuen Geheimfavoriten Ungarn auf Normalmaß zurecht und gewann souverän mit 4:0. Den Ungarn blieb neben dem Respekt für den Achtelfinaleinzug ein Rekord: Torwart Gabor Kiraly avancierte mit 40 Jahren und 86 Tagen zum ältesten EM-Spieler aller Zeiten. Damit löste er Lothar Matthäus ab. Am nächsten Tag kam es zur Neuauflage des EM-Finales von 2012, aber einem gänzlich anderen Verlauf. Hatte Spanien den Italienern damals keine Chance gelassen (4:0), zog die überalterte Selecion diesmal den Kürzeren. Erstmals seit 1994 konnte Italien diesen Gegner bezwingen, wieder nach bewährter Manier. Vor der Pause in Führung gehen – durch Giorgio Chiellini – dann dicht machen und kurz vor Schluss den Todesstoß setzen – durch Graziano Pellé. Verdient, nach einer auch spielerisch überzeugenden Leistung, zog Italien ins Viertelfinale, wo die Deutschen warteten. "Wir haben bewiesen, dass Italien nicht nur Catenaccio ist", stellte der stolze Trainer Antonio Conte fest. Kollege del Bosque gestand: "Italien war die bessere Mannschaft." Dass sich nicht der Spott der ganzen Fußballwelt über dem Titelverteidiger ergoss, lag an der letzten Partie des Achtelfinals. Die hatten die Engländer nach der Papierform schon vorher gewonnen, doch am Ende lachte nicht nur Fußballzwerg Island. Dabei hatte Superstar Wayne Rooney die Briten schon nach vier Minuten per Strafstoß in Führung gebracht, was sollte da noch schief gehen? Das Ensemble aus der reichsten und vermeintlich besten Liga der Welt traf auf ein Land, in dessen Ligen es nur 75 Profis gab. Aber die ließen sich nicht beeindrucken, fast im Gegenzug fiel der Ausgleich durch Sigurdsson und das frühe Siegtor durch einen Mann mit dem entsprechenden Namen: Kolbeinn Sigthorsson. Obwohl den Briten noch 72 Minuten Zeit blieb, das Unglaubliche abzuwenden, blieb es beim 2:1 für Island. "Das ist peinlich für uns", knurrte Rooney und Englands Fußballphilosoph Gary Lineker twitterte: "Das ist die schlimmste Niederlage unserer Geschichte. England ist von einem Land geschlagen worden, das mehr Vulkane als Fußballprofis hat." Trainer Roy Hodgson flüchtete so bald als möglich aus der Schusslinie der angriffslustigen britischen Presse und trat noch am selben Abend zurück. So endete das Achtelfinale mit einem vielstimmigen "UUU".

Im Viertelfinale standen fünf Auswahlmannschaften, die noch nie Europameister geworden waren. Vier von ihnen bestritten die ersten beiden Duelle, so dass garantiert zwei Außenseiter ins Halbfinale einziehen würden. Die Partie Polen gegen Portugal hatte keinen klaren Favoriten und ging beinahe folgerichtig ins Elfmeterschießen. Nachdem zuvor Robert Lewandowski – nach 118 Sekunden – endlich sein erstes EM-Tor erzielt und der 18-jährige Renato Sanches ausgeglichen hatte. Nach der EM sollten sie sich bei Bayern München, das das Talent umgehend verpflichtete, wiedersehen. Die beiden trafen auch vom Elfmeterpunkt, an dem nur einer die Nerven verlor: ausgerechnet der Dortmunder "Kuba", der seinen Stellenwert mit zwei Turniertoren noch unter Beweis gestellt hatte, scheiterte an Rui Patricio. Polen reiste, nach 90 Minuten unbesiegt, heim. "Das Aus schmerzt und es wird noch länger schmerzen. Elfmeterschießen ist immer eine Lotterie", klagte Kapitän Lewandowski. Die wieder sehr destruktiv agierenden Portugiesen waren wie schon 2004 im eigenen Land unter den letzten Vier, aber niemand bewunderte sie. Renato Sanches kommentierte das gelassen: "Die Leute kritisieren uns, aber uns ist das egal." Mit mehr Fußball war am 1. Juli in Lille zu rechnen, aber nicht mit einem Sieg der Waliser über Belgien. Schon gar nicht, als der Geheimfavorit durch Radja Nanggolains Schuss aus 28 Metern in Führung ging. Die Reaktion der Waliser blieb nicht lange aus, Abwehrchef Ashley Williams köpfte den Ausgleich und so ging es mit 1:1 in die Kabinen. Dann kam der große Moment eines Arbeitslosen: Am Vortag war sein Vertrag mit dem FC Watford ausgelaufen, für sein Land aber durfte Hal Robson-Kanu weiter spielen und das war gut so: in der 50. Minute düpierte er die ganze belgische Abwehr mit einer Körpertäuschung, legte sich selbst per Hacke auf und traf zum 2:1. Belgien war geschockt und all den großen Namen wie de Bruyne, Hazard oder Lukaku fiel nichts mehr ein. Ein Joker-Tor von Sam Volkes nagelte den belgischen Sarg zu und Wales feierte, ausnahmsweise ohne ein Tor von Weltstar Gareth Bale, das nächste Fußballwunder. Der Außenseiter unter den vier britischen Teams fuhr als letzter heim. Wann, das war noch die Frage.