Schiedsrichter mit Pfiff: Retter in schwarz

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Sie gehören zum Spiel wie der Ball ins Tor. 80.000 Schiedsrichter sorgen auf Deutschlands Fußballplätzen für Recht und Ordnung. DFB.de-Redakteur Steffen Lüdeke stellt immer donnerstags Referees mit ungewöhnlichen Geschichten vor. Engagiert und unparteiisch - Schiedsrichter mit Pfiff!

Zufall, Schicksal, Fügung? Alles so wie vor acht Jahren, wieder bleibt ein Spieler nach einem Zusammenprall reglos liegen. Wieder muss der Schiedsrichter erste Hilfe leisten, wieder liegt ein Leben in seinen Händen.

2002 war sein Einsatz vergeblich. Torsten Rudolph hatte alles ihm Mögliche getan, um das Menschenleben zu retten. Ein Spieler war verunglückt, hatte seine Zunge verschluckt, Rudolph holte sie wieder hervor, doch es gelang ihm nicht, gegen die Verkrampfung anzukämpfen, obwohl er dem Verunglückten sogar gezielt den Kiefer brach.

Tod, Ohnmacht, Verzweiflung und Trauer

Die Erinnerung daran war sofort präsent. Die alten Bilder, der Schock, als er im Nachgang erfuhr, dass der Spieler einen angeborenen Herzfehler hatte und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben ist - all das fühlte sich am 13. November 2010 binnen Augenblicken wieder ganz real an. Auch die Verzweiflung und Ohnmacht, die er empfunden hatte.

Für mehr als ein Vierteljahr war für ihn damals nicht daran zu denken, auf den Platz zurückzukehren und als Schiedsrichter Fußballspiele zu leiten. Zu tief saß der Schock, zu tief waren Trauer und Verzweiflung. Der Schiedsrichter hatte sich damals in psychologische Behandlung begeben, erst nach und nach gelang es ihm, den Vorfall zu verarbeiten.

Doch so wie vor dem Unfall sollte es nie wieder werden, so unbefangen wie vor dem Todesfall ging Rudolph nie wieder auf den Fußballplatz. Immer hatte er ein Auge dafür, wie die Reaktion der Spieler nach einem Zusammenprall ist, immer schwang die Angst vor einem erneuten Unfall mit. Rudolph fühlte und fühlt sich für die 22 Spieler, die er auf den Platz führt, verantwortlich - mehr wahrscheinlich als jeder andere Schiedsrichter.

Déjà-vu-Erlebnis: "Nicht schon wieder!"

Zum Glück für Benjamin Viezens. Berlin, Prenzlauer Berg am vorvergangenen Samstag, der Sportplatz in der Dunckerstraße: Im Spiel der Kreisliga B zwischen Rotation Prenzlauer Berg und Eiche Köpenick läuft die 83. Spielminute, das Spiel ist packend, beide Mannschaften wollen den nächsten Treffer. Mit 3:0 hatte Köpenick bereits geführt, doch Rotation kämpft sich zurück ins Spiel, sieben Minuten vor dem Abpfiff ist der Vorsprung der Gäste auf ein 4:3 zusammengeschmolzen.

Dann die schicksalhafte Szene: Köpenicks Viezens attackiert einen Gegenspieler von hinten, mit beiden Beinen in den Mann. Rudolph pfeift, klarer Fall: Platzverweis. Doch die Rote Karte bleibt in der Gesäßtasche stecken. Sofort erkennt der Schiedsrichter, dass Viezens bei seiner Aktion unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen ist. Sein Alptraum nimmt Gestalt an.

Nicht schon wieder, denkt Rudolph, und, in Richtung Viezens: Los, mach schon, beweg' Dich, gib ein Lebenszeichen von Dir! Nichts, Viezens liegt reglos auf dem kalten Boden, schnell färbt sich seine Haut blau. Und Rudolph beschleicht eine Ahnung: Zunge verschluckt, alles wie vor acht Jahren, Déjà-vu-Erlebnis.

Helfen, hoffen, beten

Also handelt er, beherzt und schnell. Mit gekonntem Griff holt er die Zunge wieder hervor und presst seine Daumen drauf, um ein erneutes Abrutschen zu verhindern. Mehr als 15 Minuten lang hockt Rudolph am Boden, seine Faust im Mund des jungen Mannes, mit seinen Fingern kämpft er gegen die Kieferkraft des 21-Jährigen.

Neben ihm knien die Trainer der beiden Mannschaften und helfen mit, den Kopf des Verletzten zu fixieren. Nach 25 Minuten ist der Rettungswagen da, Viezens verschwindet im Krankenwagen, hinter ihm schließt sich die Tür. Rudolph kann in der Folge nicht mehr tun als warten. „Das war das Schlimmste“, sagt er, nichts tun, rumsitzen, hoffen, beten.

Lebensrettender Einsatz

Ein paar Spieler begleiten Viezens ins Krankenhaus. Auch sie ohnmächtig vor Sorge um den Kollegen, an Fußball und das abgebrochene Spiel denkt niemand mehr. Nach den ersten Untersuchungen dann der erste Hoffnungsschimmer. Viezens macht die Augen auf, erkennt die vertrauten Gesichter und sorgt mit einer kleinen Geste für große Erleichterung: Daumen hoch.

Sprechen kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder, auch wird er bis heute Erinnerungslücken haben, doch nach einer Computertomografie ist schnell klar: Der Patient hatte Fortuna auf seiner Seite. Ein Schädel-Hirn-Trauma als Folge des Sturzes, keine weiteren Schäden, Glück im Unglück.

Viele Fragen

Dank Rudolph, der durch seine Heldentat in gewisser Weise auch Schmied seines eigenen Glückes war. Ein zweites Mal ein Todesfall, wer weiß, wie seine Psyche dies verkraftet hätte? Spekulation. Tatsache ist, dass er durch sein beherztes Eingreifen einem Menschen das Leben gerettet hat.

Mit seiner Freundin Simone hat er am Abend des 13. November noch lange gegrübelt. Natürlich war bei ihm die Erleichterung gewaltig, als er die frohe Kunde aus dem Krankenhaus erhielt, natürlich war er stolz auf sein Handeln, wenn er es auch für selbstverständlich hielt.

Aber natürlich schlichen sich auch Fragen in sein Hirn: Warum ich, warum passiert mir so etwas, gleich zweimal? Zufall, Schicksal, Fügung? Pech? Glück vielleicht?

So schnell wie möglich zurück auf den Platz

Rudolph hat schnell beschlossen, dass es nicht viel bringt, diese Fragen beantworten zu wollen. Für ihn war wichtig, dass er weiter das tun kann, was er seit 21 Jahren tut: Fußballspiele leiten. Gleich am folgenden Tag hat er wieder auf dem Platz gestanden, das Spiel war seine persönliche Therapie. „Diesmal wollte ich mich einfach ablenken und zur Normalität zurückkehren“, sagt er.

Gestärkt von seinen Erfahrungen von damals und vor allem vom Zuspruch seiner Freundin glaubt er, den erneuten Vorfall gut verarbeiten zu können. „Ich habe den nötigen Rückhalt meiner Familie, außerdem liebe ich den Fußball zu sehr, um jetzt einfach aufzuhören", sagt er.

Ehrung im Roten Rathaus am 2. Dezember

Am 2. Dezember um 17 Uhr wird Rudolph im großen Saal des Roten Rathauses von Klaus Wowereit für seine große Tat geehrt. Die Begegnung mit dem Regierenden Bürgermeister, eine schöne Auszeichnung für Rudolph, eine schöne Ehre für den Lebensretter mit Pfiff.

Schön - und doch nur nebensächlich. Denn für Rudolph zählen in der persönlichen Rückschau nicht die Anerkennung und das Lob, für ihn zählt etwas ganz anders: „Wichtig ist einzig, dass es dem Spieler wieder gut geht.“

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Viezens ist voller Dankbarkeit

Das tut es. Mittlerweile hat Viezens das Krankenhaus wieder verlassen, er schont sich noch, ist ansonsten aber wieder wohlauf. Und voller Dankbarkeit für den Schiedsrichter. „Ich weiß ganz genau, dass ich ohne ihn wahrscheinlich nicht mehr leben würde“, sagt Viezens.

Telefonisch hat er sich schon bedankt, der persönliche Dank steht noch aus. Beim Wiederholungsspiel im Dezember werden Retter und Geretteter begegnen, Rudolph wird wieder pfeifen, ob Viezens spielen kann, steht noch nicht fest.

Doch auch wenn nicht - auf das Treffen mit dem Schiedsrichter freut er sich ganz besonders. „Ich werde mir etwas einfallen lassen“, sagt Viezens. „Mir ist wichtig, dass Herr Rudolph weiß, wie dankbar ich ihm bin.“

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Sie gehören zum Spiel wie der Ball ins Tor. 80.000 Schiedsrichter sorgen auf Deutschlands Fußballplätzen für Recht und Ordnung. DFB.de-Redakteur Steffen Lüdeke stellt immer donnerstags Referees mit ungewöhnlichen Geschichten vor. Engagiert und unparteiisch - Schiedsrichter mit Pfiff!

Zufall, Schicksal, Fügung? Alles so wie vor acht Jahren, wieder bleibt ein Spieler nach einem Zusammenprall reglos liegen. Wieder muss der Schiedsrichter erste Hilfe leisten, wieder liegt ein Leben in seinen Händen.

2002 war sein Einsatz vergeblich. Torsten Rudolph hatte alles ihm Mögliche getan, um das Menschenleben zu retten. Ein Spieler war verunglückt, hatte seine Zunge verschluckt, Rudolph holte sie wieder hervor, doch es gelang ihm nicht, gegen die Verkrampfung anzukämpfen, obwohl er dem Verunglückten sogar gezielt den Kiefer brach.

Tod, Ohnmacht, Verzweiflung und Trauer

Die Erinnerung daran war sofort präsent. Die alten Bilder, der Schock, als er im Nachgang erfuhr, dass der Spieler einen angeborenen Herzfehler hatte und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben ist - all das fühlte sich am 13. November 2010 binnen Augenblicken wieder ganz real an. Auch die Verzweiflung und Ohnmacht, die er empfunden hatte.

Für mehr als ein Vierteljahr war für ihn damals nicht daran zu denken, auf den Platz zurückzukehren und als Schiedsrichter Fußballspiele zu leiten. Zu tief saß der Schock, zu tief waren Trauer und Verzweiflung. Der Schiedsrichter hatte sich damals in psychologische Behandlung begeben, erst nach und nach gelang es ihm, den Vorfall zu verarbeiten.

Doch so wie vor dem Unfall sollte es nie wieder werden, so unbefangen wie vor dem Todesfall ging Rudolph nie wieder auf den Fußballplatz. Immer hatte er ein Auge dafür, wie die Reaktion der Spieler nach einem Zusammenprall ist, immer schwang die Angst vor einem erneuten Unfall mit. Rudolph fühlte und fühlt sich für die 22 Spieler, die er auf den Platz führt, verantwortlich - mehr wahrscheinlich als jeder andere Schiedsrichter.

Déjà-vu-Erlebnis: "Nicht schon wieder!"

Zum Glück für Benjamin Viezens. Berlin, Prenzlauer Berg am vorvergangenen Samstag, der Sportplatz in der Dunckerstraße: Im Spiel der Kreisliga B zwischen Rotation Prenzlauer Berg und Eiche Köpenick läuft die 83. Spielminute, das Spiel ist packend, beide Mannschaften wollen den nächsten Treffer. Mit 3:0 hatte Köpenick bereits geführt, doch Rotation kämpft sich zurück ins Spiel, sieben Minuten vor dem Abpfiff ist der Vorsprung der Gäste auf ein 4:3 zusammengeschmolzen.

Dann die schicksalhafte Szene: Köpenicks Viezens attackiert einen Gegenspieler von hinten, mit beiden Beinen in den Mann. Rudolph pfeift, klarer Fall: Platzverweis. Doch die Rote Karte bleibt in der Gesäßtasche stecken. Sofort erkennt der Schiedsrichter, dass Viezens bei seiner Aktion unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen ist. Sein Alptraum nimmt Gestalt an.

Nicht schon wieder, denkt Rudolph, und, in Richtung Viezens: Los, mach schon, beweg' Dich, gib ein Lebenszeichen von Dir! Nichts, Viezens liegt reglos auf dem kalten Boden, schnell färbt sich seine Haut blau. Und Rudolph beschleicht eine Ahnung: Zunge verschluckt, alles wie vor acht Jahren, Déjà-vu-Erlebnis.

Helfen, hoffen, beten

Also handelt er, beherzt und schnell. Mit gekonntem Griff holt er die Zunge wieder hervor und presst seine Daumen drauf, um ein erneutes Abrutschen zu verhindern. Mehr als 15 Minuten lang hockt Rudolph am Boden, seine Faust im Mund des jungen Mannes, mit seinen Fingern kämpft er gegen die Kieferkraft des 21-Jährigen.

Neben ihm knien die Trainer der beiden Mannschaften und helfen mit, den Kopf des Verletzten zu fixieren. Nach 25 Minuten ist der Rettungswagen da, Viezens verschwindet im Krankenwagen, hinter ihm schließt sich die Tür. Rudolph kann in der Folge nicht mehr tun als warten. „Das war das Schlimmste“, sagt er, nichts tun, rumsitzen, hoffen, beten.

Lebensrettender Einsatz

Ein paar Spieler begleiten Viezens ins Krankenhaus. Auch sie ohnmächtig vor Sorge um den Kollegen, an Fußball und das abgebrochene Spiel denkt niemand mehr. Nach den ersten Untersuchungen dann der erste Hoffnungsschimmer. Viezens macht die Augen auf, erkennt die vertrauten Gesichter und sorgt mit einer kleinen Geste für große Erleichterung: Daumen hoch.

Sprechen kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder, auch wird er bis heute Erinnerungslücken haben, doch nach einer Computertomografie ist schnell klar: Der Patient hatte Fortuna auf seiner Seite. Ein Schädel-Hirn-Trauma als Folge des Sturzes, keine weiteren Schäden, Glück im Unglück.

Viele Fragen

Dank Rudolph, der durch seine Heldentat in gewisser Weise auch Schmied seines eigenen Glückes war. Ein zweites Mal ein Todesfall, wer weiß, wie seine Psyche dies verkraftet hätte? Spekulation. Tatsache ist, dass er durch sein beherztes Eingreifen einem Menschen das Leben gerettet hat.

Mit seiner Freundin Simone hat er am Abend des 13. November noch lange gegrübelt. Natürlich war bei ihm die Erleichterung gewaltig, als er die frohe Kunde aus dem Krankenhaus erhielt, natürlich war er stolz auf sein Handeln, wenn er es auch für selbstverständlich hielt.

Aber natürlich schlichen sich auch Fragen in sein Hirn: Warum ich, warum passiert mir so etwas, gleich zweimal? Zufall, Schicksal, Fügung? Pech? Glück vielleicht?

So schnell wie möglich zurück auf den Platz

Rudolph hat schnell beschlossen, dass es nicht viel bringt, diese Fragen beantworten zu wollen. Für ihn war wichtig, dass er weiter das tun kann, was er seit 21 Jahren tut: Fußballspiele leiten. Gleich am folgenden Tag hat er wieder auf dem Platz gestanden, das Spiel war seine persönliche Therapie. „Diesmal wollte ich mich einfach ablenken und zur Normalität zurückkehren“, sagt er.

Gestärkt von seinen Erfahrungen von damals und vor allem vom Zuspruch seiner Freundin glaubt er, den erneuten Vorfall gut verarbeiten zu können. „Ich habe den nötigen Rückhalt meiner Familie, außerdem liebe ich den Fußball zu sehr, um jetzt einfach aufzuhören", sagt er.

Ehrung im Roten Rathaus am 2. Dezember

Am 2. Dezember um 17 Uhr wird Rudolph im großen Saal des Roten Rathauses von Klaus Wowereit für seine große Tat geehrt. Die Begegnung mit dem Regierenden Bürgermeister, eine schöne Auszeichnung für Rudolph, eine schöne Ehre für den Lebensretter mit Pfiff.

Schön - und doch nur nebensächlich. Denn für Rudolph zählen in der persönlichen Rückschau nicht die Anerkennung und das Lob, für ihn zählt etwas ganz anders: „Wichtig ist einzig, dass es dem Spieler wieder gut geht.“

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Viezens ist voller Dankbarkeit

Das tut es. Mittlerweile hat Viezens das Krankenhaus wieder verlassen, er schont sich noch, ist ansonsten aber wieder wohlauf. Und voller Dankbarkeit für den Schiedsrichter. „Ich weiß ganz genau, dass ich ohne ihn wahrscheinlich nicht mehr leben würde“, sagt Viezens.

Telefonisch hat er sich schon bedankt, der persönliche Dank steht noch aus. Beim Wiederholungsspiel im Dezember werden Retter und Geretteter begegnen, Rudolph wird wieder pfeifen, ob Viezens spielen kann, steht noch nicht fest.

Doch auch wenn nicht - auf das Treffen mit dem Schiedsrichter freut er sich ganz besonders. „Ich werde mir etwas einfallen lassen“, sagt Viezens. „Mir ist wichtig, dass Herr Rudolph weiß, wie dankbar ich ihm bin.“