Dieter Müller fährt ohne Länderspiel-Erfahrung mit

Und so nahm Schön als Alternative den 22-jährigen Kölner Dieter Müller mit, der ebenso wie HSV-Verteidiger Peter Nogly ohne jegliche Länderspiel-Erfahrung war. Überhaupt war die zweite Reihe ziemlich grün: die sieben Reservisten kamen zusammen auf 26 Länderspiele, von denen Kölns Heinz Flohe alleine 19 bestritten hatte. Viel durfte also nicht passieren in Jugoslawien, aber für zwei Spiele schienen die Deutschen gewappnet. Dass es Dramen werden würden, die beide in die Verlängerung gingen, das ahnte wohl nicht mal Pessimist Beckenbauer. Der lehnte jedenfalls die Favoritenrolle ab: "Vor vier Jahren hatten wir es leichter, weil die Konkurrenz schwächer war."

Die Konkurrenz machte den ersten Schritt in diesem Mini-Turnier und als am 16. Juni 1976 nach zwei Stunden in Zagreb der Abpfiff erklang, hatte es seine erste Überraschung. Außenseiter Tschechoslowakei, vorwiegend aus Spielern von Meister Slovan Pressburg bestehend, schlug die Niederländer mit 3:1. Es war ein Skandalspiel, das die EM noch nicht gesehen hatte und so bald auch nicht mehr sehen würde. Der Waliser Unparteiische Clive Thomas sah sich zu drei Platzverweisen gezwungen; zwei gegen die Niederländer Johan Neeskens und Wim van Hanegem. Der große Johan Cruyff wurde wegen Schiedsrichter-Beleidigung verwarnt, weshalb er für das nächste Spiel gesperrt war. Was ihm nach der Niederlage herzlich egal gewesen sein dürfte. Er reiste sofort ab und stellte drei Bedingungen für seine Rückkehr: "Mehr Geld für Nationalspieler, weniger Training und weniger Trainingslager."

Die deutsche Mannschaft, die das Spiel im Belgrader 1200-Betten-Hotel "Jugoslawija" sah, verspürte wenig Mitleid mit den Nachbarn. Uli Hoeneß sagte: "Es wurde höchste Zeit dass Herr Cruyff einmal spürte, dass der Fußballplatz nicht dazu da ist, sich mit seinen Eitelkeiten zu produzieren. Mit seiner Sperre hat er die verdiente Quittung erhalten." Das Spiel entgleiste kurz nachdem Tschechen-Libero Ondrus für beide Mannschaften getroffen hatte – das 1:1 war ein Eigentor (73.). In der Verlängerung nutzten die überlegenen Tschechen die durch van Hanegemens Rot entstandene Überzahl aus, Nehoda und Vesely schossen den Vize-Weltmeister aus dem Titelrennen.

Deren deutscher Trainer Georg Kessler gestand: "Das war eine enttäuschende Leistung meiner Mannschaft. Außerdem muss ich auch sagen, dass unter diesen widrigen Umständen gar nicht hätte angepfiffen werden dürfen." Er meinte den Dauerregen, der an der dürftigen Kulisse (17.879) nicht ganz unschuldig gewesen sein dürfte. Die Tschechen platzten dagegen vor Stolz. Trainer Vaclav Jezek: "Wir haben prächtig gespielt. So haben wir auch im Finale eine Chance." Der Kicker bilanzierte ungewohnt poetisch: "Die CSSR, das Mauerblümchen dieser Europameisterschaft, ist plötzlich zur strahlenden Blume geworden."

Am nächsten Tag, man schrieb den 17. Juni und in der Bundesrepublik wurde der Tag der Deutschen Einheit gefeiert, wurde ihr Gegner ermittelt. Die Jugoslawen, die für Ihre EM extra die Saison unterbrochen hatten, brannten auf den Europameister. In Branko Oblak (Schalke) und Danilo Popivoda (Braunschweig) standen zwei Bundesliga-Gastarbeiter im Team, die Trainer Ante Mladinic wertvolle Tipps geben konnten. Popivoda machte sich auch anderweitig nützlich und brachte den Hexenkessel der 70.000 im Stadion von Roter Stern zum Kochen: nach 18 Minuten überwand er Sepp Maier zum 1:0. Die Deutschen waren geschockt, Angriff auf Angriff rollte auf ihr Tor und nach 32 Minuten traf auch Dzajic – 0:2 zur Pause.

Schön bringt Flohe für Danner

Schön brachte Flohe für den überforderten Mönchengladbacher Dietmar Danner. Ein guter Griff des Bundestrainers, wie sich bald zeigen wird. Flohe fand sofort ins Spiel, bereitete zwei Chancen vor und nach 65 Minuten traf er gar ins Tor – noch leicht abgefälscht von Hacki Wimmer. Die Minuten verrannen, ein Retter wurde gesucht. In der 79. Minute erhielt die DFB-Elf eine Ecke und bevor sie ausgeführt wurde, wechselte Schön Neuling Dieter Müller ein. Es folgte das spektakulärste Debüt in der über hundertjährigen Länderspiel-Geschichte Deutschlands. 40 Sekunden erst war Müller auf dem Feld, da segelte der Ball nach Bonhofs Ecke genau auf seinen Kopf. Niemand störte ihn, die Jugoslawen hatten ihn noch gar nicht wahr genommen. Ein schwerer, folgenreicher Fehler: mit seinem ersten Ballkontakt glich Müller aus. Nun hatte der Kölner Blut geleckt und in der Verlängerung schoss er nach Vorlagen von Hölzenbein und Bonhof noch zwei Tore (115., 119.). Was für ein Einstand! Ein Star war den Deutschen geboren und sein Name verhieß nichts Gutes für den Rest der Welt. Schon nach dem 3:2 herzte ihn Beckenbauer mit den Worten "Wir haben wieder einen Müller" und in der Kabine sagte Sepp Maier: „Es wird wieder gemüllert in der National-Elf!".

Die jugoslawische Zeitung "Borba" schrieb: "Ein Müller ist gegangen, ein anderer ist gekommen." Dass "ich auch viel Glück gehabt habe an dem Tag", gab Müller später noch oft zu. Es erscheint schon erstaunlich, wie frei ein Stürmer bei einem dermaßen bedeutenden Spiel zum Schuss kommen durfte – aber die demoralisierten Jugoslawen waren auch am Ende ihrer körperlichen Kräfte als der 22-jährige Müller erst so richtig los legte. Natürlich konnte Helmut Schön diesen Wunderknaben nicht aus der Elf nehmen, die am 20. Juni das Finale an gleicher Stelle bestreiten sollte.

Dass es nicht ausverkauft war, stand zu befürchten. Die Jugoslawen waren enttäuscht vom Aus ihrer Helden und ließen ihre bereits erworbenen Endspieltickets teilweise verfallen. Das Spiel um Platz drei straften sie mit Missachtung: die 2:3-Niederlage (n. V.) gegen die Niederländer sahen in Zagreb offiziell nur 6766 Zuschauer. 324.000 Tickets wurden für die vier Spiele angeboten, nur 106.000 erworben.

Kicker-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann schrieb schon zwei Tage vorher: "Hat die Europameister-schaft in ihrer jetzigen Form noch eine Zukunft? Ich meine, wenn man ein Finalturnier mit vier Mannschaften durchführt, dann soll jeder gegen jeden spielen. Zwei Halbfinalspiele, deren Sieger um den Titel und die Verlierer um den 3. Platz spielen zu lassen, das hat sich nicht bewährt. Ein Fest des europäischen Fußballs, so wie es die WM für die ganze Welt ist, wird eine Europameisterschaft so sicher nie werden." Mit seiner Meinung stand er nicht alleine - und sie sollte sich durchsetzen.