Fußball: Eine Schutzimpfung für das Leben?

Wenn’s im Training wirklich mal kracht, greift Silvio Wemmer zur Standardlösung. "Sobald ich merke, dass einer zu bissig wird, geht der für zehn Minuten auf die Bahn". Silvio Wemmer ist seit 25 Jahren Mitglied beim 1. FC Rheinbach. Der 46-Jährige trainiert die Ersten Herren des Bonner Klubs, nächste Saison will man in der Kreisliga A mitmischen.

Überwintern wird man als Tabellenführer, aber auch bei den Roten Karten liegt man vorne. Vor ein paar Wochen nahm Wemmer an einem Workshop seines Kreises teil. Alle Trainer waren eingeladen. Thema: "Fußball und Gewaltprävention". Wemmer meint: "Der Trainer, gerade bei Jugendmannschaften, kann viel bewirken." Doch kann er das wirklich? Wie eignet sich der Fußball insgesamt als Medium um Werte wie Fairplay, Integration oder Gewaltprävention zu vermitteln? Und was muss konkret passieren? Eine DFB.de-Analyse von Redakteur Thomas Hackbarth.

Rückläufige Zahl der Gewalttaten

Die Zahl der Gewalttaten von Jugendlichen ist rückläufig. Das belegen Statistiken, sagt Janina Deininger. So unterteilt die Polizeiliche Kriminalstatistik Jugendkriminalität in vier Altersklassen, von unter 14 bis unter 25 Jahren. Die bereits analysierten Zahlen von 2011 für Tatverdächtige bei Gewaltdelikten belegen in jeder Kategorie einen Rückgang. Und die neusten Zahlen aus dem Jahr 2013 zeigen für Kinder und Jugendliche allgemein unter allen Tatverdächtigen Rückgänge von 8,2 und 5 Prozent.

Die Fakten und unsere Wahrnehmung widersprechen sich. Immer wieder schockieren brutale Einzeltaten. Janina Deininger leitet die Sozialpädagogische Abteilung der einzigen Jugendstrafanstalt Berlins. Auch sie vertraut für ihre Arbeit in der JSA Berlin auf die Kraft des Fußballs – wie auch unzählige andere Projekte in Deutschland, durchgeführt von Jugendhäusern und Kirchen, von Kommunen und freien Trägern, die alle versuchen, Jugendliche über den Fußball positiv zu erreichen. Mittels Training und Spiel sollen Fairplay, Streitanstand und Regelakzeptanz vermittelt werden. Etwas weiter oben im Norden leitet der Sportpädagoge Michael Arends für Werder Bremen das Projekt "Spielraum". Gemeinsam mit Jugendlichen werden Bolzplätze gebaut oder wieder in Schuss gesetzt, anschließend bietet Arends ein wöchentliches Werder-Training an. Manchmal schauen Profis des Bundesligaklubs vorbei. "Spielraum" soll Zusammenhalt stärken, auch präventiv wirken. Ob das klappt? Welche Statistik misst, was verhindert wird?



Wenn’s im Training wirklich mal kracht, greift Silvio Wemmer zur Standardlösung. "Sobald ich merke, dass einer zu bissig wird, geht der für zehn Minuten auf die Bahn". Silvio Wemmer ist seit 25 Jahren Mitglied beim 1. FC Rheinbach. Der 46-Jährige trainiert die Ersten Herren des Bonner Klubs, nächste Saison will man in der Kreisliga A mitmischen.

Überwintern wird man als Tabellenführer, aber auch bei den Roten Karten liegt man vorne. Vor ein paar Wochen nahm Wemmer an einem Workshop seines Kreises teil. Alle Trainer waren eingeladen. Thema: "Fußball und Gewaltprävention". Wemmer meint: "Der Trainer, gerade bei Jugendmannschaften, kann viel bewirken." Doch kann er das wirklich? Wie eignet sich der Fußball insgesamt als Medium um Werte wie Fairplay, Integration oder Gewaltprävention zu vermitteln? Und was muss konkret passieren? Eine DFB.de-Analyse von Redakteur Thomas Hackbarth.

Rückläufige Zahl der Gewalttaten

Die Zahl der Gewalttaten von Jugendlichen ist rückläufig. Das belegen Statistiken, sagt Janina Deininger. So unterteilt die Polizeiliche Kriminalstatistik Jugendkriminalität in vier Altersklassen, von unter 14 bis unter 25 Jahren. Die bereits analysierten Zahlen von 2011 für Tatverdächtige bei Gewaltdelikten belegen in jeder Kategorie einen Rückgang. Und die neusten Zahlen aus dem Jahr 2013 zeigen für Kinder und Jugendliche allgemein unter allen Tatverdächtigen Rückgänge von 8,2 und 5 Prozent.

Die Fakten und unsere Wahrnehmung widersprechen sich. Immer wieder schockieren brutale Einzeltaten. Janina Deininger leitet die Sozialpädagogische Abteilung der einzigen Jugendstrafanstalt Berlins. Auch sie vertraut für ihre Arbeit in der JSA Berlin auf die Kraft des Fußballs – wie auch unzählige andere Projekte in Deutschland, durchgeführt von Jugendhäusern und Kirchen, von Kommunen und freien Trägern, die alle versuchen, Jugendliche über den Fußball positiv zu erreichen. Mittels Training und Spiel sollen Fairplay, Streitanstand und Regelakzeptanz vermittelt werden. Etwas weiter oben im Norden leitet der Sportpädagoge Michael Arends für Werder Bremen das Projekt "Spielraum". Gemeinsam mit Jugendlichen werden Bolzplätze gebaut oder wieder in Schuss gesetzt, anschließend bietet Arends ein wöchentliches Werder-Training an. Manchmal schauen Profis des Bundesligaklubs vorbei. "Spielraum" soll Zusammenhalt stärken, auch präventiv wirken. Ob das klappt? Welche Statistik misst, was verhindert wird?

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Die Diskussion, ob Fußballspielen Werte (und auch die richtigen) vermittelt, wird geführt, seitdem 1848 Studenten in Cambridge die ersten Regeln aufschrieben oder 30 Jahre später Engländer in Dresden den ersten deutschen Klub gründeten. Der österreichische Schriftsteller Robert Musil, 1880 am Wörthersee geboren, formulierte über die Frage, was der Ball denn außer rollen und ins Tor fliegen noch so kann, diese schönen Sätze: "Es ist einseitig, wenn man immer nur schreibt, dass der Sport zu Kameraden mache, verbinde, einen edlen Wetteifer wecke. Denn ebenso kann man sicher auch behaupten, dass er einem weit verbreiteten Bedürfnis, dem Nebenmenschen eine aufs Dach zu geben, oder ihn umzulegen, entgegenkommt, dem Ehrgeiz der Überlebende zu sein."

Pilz: "Gewaltpräventive Wirkung des Sports kein Automatismus"

Gunter A. Pilz sieht die Sache ähnlich. Der Soziologe berät den DFB in vielen Fragen, so auch bei den Themen Fankultur und Anti-Diskriminierung. Seit seinen akademischen Anfängen zu Beginn der 70er-Jahre reitet Pilz Attacken gegen den Glauben, der "Sport sei per se gut, integrativ, gewaltpräventiv oder sozial". Pilz: "Damals galt meine Sichtweise als Hochverrat". Statt Automatismus also Steuerung, so lautet das Credo des inzwischen 70-jährigen Wissenschaftlers. "Die gewaltpräventiven Wirkungen sportlicher Aktivität stellen sich nicht automatisch ein. Hierzu bedarf es einer spezifischen Inszenierung des Sports", erklärt der renommierte Gewalt- und Konfliktforscher. Und da der Sport eben nicht einfach so das Gute befördere, solle der Sport, so fordert es der Mahner aus Hannover, "darauf hinwirken, dass soziales, faires, kameradschaftliches Handeln befolgt und geschützt wird".

Beim FC Rheinbach spüren sie gerade den WM-Boom. Der Klub hat 13 Juniorenteams, zehn bei den Jungs, drei bei den Mädchen. Tendenz steigend. "Wir haben bei uns viele Dortmund- und viele Bayern-Fans. Alle sind sie Fans der Nationalmannschaft", sagt Silvio Wemmer und fährt fort. "Der Trainer unserer B-Jugend leitet die Gruppe sehr gut." Fairplay, Teamgeist, Respekt füreinander – das alles werde praktiziert und vorgelebt. "Aber", beobachtet Wemmer, "der Trainer kann nicht alles leisten. Ein Teil, bestimmt der wichtigste, muss von den Eltern kommen." Und wenn wiederholt Regeln gebrochen werden, müsse der Verein reagieren. Manchmal auch mit Vereinsausschluss.

"Auf dem Fußballplatz klappt das Zusammenspiel der Nationen"

429 Plätze hat die Strafanstalt im Berliner Stadtteil Charlottenburg, 300 Zellen sind momentan belegt. Fußballspielen ist hier ein Privileg, wer zur Gruppe dazu gehören will, muss sich an die Regeln halten. Die Auserwählten dürfen einmal pro Woche auf dem Rasenplatz trainieren. Die Sozialpädagogin Janina Deininger ist von der Heilkraft des Fußballs überzeugt. "Natürlich vermittelt der Mannschaftssport Werte wie Fairplay und Teamgeist. In unserer Strafanstalt haben wir junge Männer aus unglaublich vielen Nationen. Auf dem Fußballplatz klappt das Zusammenspiel der Nationen, denn die Fußballregeln kennt jeder."

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Wer sich nicht an die Regeln auf und neben dem Platz hält, fliegt aus der Gruppe. Einmal im Jahr veranstaltet die DFB-Stiftung Sepp Herberger ein Finalturnier der Gefängnismannschaften. In Wuppertal und Schifferstadt und in der eigenen Stadt als Gastgeber spielten die Berliner mit. Die Anreise per Gefängnisbus, alle in Einzelzellen eingesperrt, ist beschwerlich, acht Stunden oder länger über die Autobahn. Doch das Gemeinschaftserlebnis, der Erfolg, das Spiel bewirke Wunder, sagt Janina Deininger. "Für diese drei Tage herrschte eine Atmosphäre, wie ich sie in Gefängnissen noch nicht erlebt habe."

"Spielraum" und Co.: Starkes Werder-Engagement

Der Kriminologe Christian Pfeiffer bescheinigte einst dem Sport die Wirkung einer "Schutzimpfung gegen Jugendkriminalität". Dass alles doch etwas komplizierter sein könnte, beschreibt Michael Arends. Angestoßen durch den dieser Tage aus dem Amt scheidenden Präsidenten Klaus-Dieter Fischer, leistet sich Werder Bremen seit einigen Jahren eine eigene CSR-Abteilung. Corporate Social Responsibility, es geht um soziale Projekte. Zu diesem jungen, hoch motivierten Team gehört der Sportpädagoge Arends, er leitet das gemeinsam mit einem Sponsor finanzierte Projekt "Spielraum". Zuletzt entstand ein Bolzplatz im Stadtteil Blumenthal. Kinder aus Flüchtlingsfamilien besuchen die wöchentliche Trainingsstunde, auch Kinder aus Sinti und Roma-Familien kicken regelmäßig mit. "Blumenthal", sagt Arends, "liegt weit ab vom Weserstadion".

Werders Projekt soll selbstverständlich Werte transportieren, manchmal sogar gewaltpräventiv wirken. Theoretisch. In der Praxis kommt alles auf den Moment an, erzählt Arends. "Die wissen genau, ob man sie veräppelt, ob man hier nur eine PR-Nummer durchziehen will." Vor ein paar Wochen wollten die Kids aus Blumenthal das Match Ausländer gegen Deutsche austragen. Es wurde giftig, es wurde kälter in dem Käfig, den Werder und die Jugendlichen vereint gebaut hatten. Einfach nur 'Nein' sagen, wäre falsch gewesen, berichtet Arends, selbst Inhaber einer Trainer B-Lizenz, stattdessen habe er mit den Kids über Unterschiede und Gemeinschaft diskutiert. "Am Ende einigten wir uns darauf, dass wir schließlich alle Bremer sind."

Ist Gewaltprävention Aufgabe des Sportvereins?

Gewaltprävention als Aufgabe des Sportvereins, das sieht Professor Sebastian Braun durchaus kritisch. Braun ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität und darüber hinaus Leiter der Abteilung "Integration, Sport und Fußball". Braun kritisiert zum einen die Überfrachtung des Fußballvereins. "Dem Sportverein insgesamt", sagt Braun, "werden eine ganze Fülle von gesellschaftlichen Funktionen zugeschrieben, auch gewaltpräventive Funktionen." Der Fußball sei aufgrund seiner "unglaublich flächendeckenden Infrastruktur" und der Ansprache unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus aus Sicht etwa der Politik ein ideales Medium, um all diese Themen zu transportieren.

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Doch klappt der "Spill Over"-Effekt wirklich? Ist ein fairer Fußballer immer auch ein fairer Kollege? Ist ein ehrenamtlich Engagierter auch außerhalb des Vereins ein besonders aktiver und guter Bürger? Dass im Fußball erlernte Werte auch sonst gelebt werden, hält Braun "für eine sehr komplexe Annahme". Eine Garantie gäbe es zumindest nicht. In seiner Jugend ein hochbegabter Fußballer, der mit Hertha Zehlendorf Deutscher Juniorenmeister wurde, hat Braun selbst eine ganze Menge vom Fußballspielen mitgenommen. "Dass ich ein höheres Leistungsniveau erreiche, durch ein beharrliches, langfristig angelegtes Arbeiten, dass Positionen in einem Spiel gehalten werden müssen, dass die Einzelleistung nicht reicht – das alles habe ich auch beim und durch den Fußball gelernt."

Camus und der Fußball

Also klappt es vielleicht doch, die Wertevermittlung durch den Fußball, die Gewaltprävention durch den Sport. Zumindest wenn kompetente, qualifizierte Praktiker daran arbeiten. Wenn die Eltern ihrer Verantwortung gerecht werden, wenn andere verantwortliche gesellschaftliche Institutionen funktionieren (und finanzieren).

Schließlich hat nicht nur Robert Musil schöne Sätze über den Sport aufgeschrieben. Der französische Nobelpreisträger Albert Camus, in der Jugend ein passabler Torwart, schrieb 1957 für das Magazin "France Football" diesen bekannten Satz: "Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball." Ein Anspruch, für den Silvio Wemmer, Janina Denniger und Michael Arends täglich kämpfen. Und keine selbstverständliche Wirklichkeit.