Zimmermann: "Mit einem sachlichem Blick an Lösungen arbeiten"

Der 1. DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann ist im Präsidium des Dachverbandes für den Amateurfußball und das Schiedsrichterwesen zuständig. Zwei Tage nach dem Tod eines 15-jährigen Berliner Fußballers, der am Mittwoch an den Folgen einer Gewalttat verstarb, spricht Zimmermann, 63, über die aktuellen Zahlen an Gewaltvorfällen sowie über die Grenzen und Möglichkeiten von Gewaltprävention.

DFB.de: Herr Zimmermann, hat der Fußball ein Gewaltproblem?

Ronny Zimmermann: Wir haben ein gesellschaftliches Problem beim respektvollen Umgang miteinander. Das betrifft nicht allein den Fußball, aber eben auch. Mir geht es wie vielen anderen, mit denen ich in den vergangenen Tagen gesprochen habe. Der Tod von Paul ist furchtbar, es ist eine schlimme Tat. Unser Mitgefühl ist in diesen Tagen ganz bei der Familie und seinen Freunden. Bei aller Betroffenheit müssen wir jedoch weiter mit sachlichem Blick an Lösungen arbeiten. Wir müssen klar und entschlossen sein. Gerade jetzt sind wir als Fußballgemeinschaft aufgefordert, gegen jede Form der Gewalt aufzustehen. Und da Gewalt regelmäßig mit Beleidigungen beginnt, schließe ich diese ausdrücklich mit ein - und zwar gleichgültig ob persönlich oder über die digitalen Medien. Zu einem wirksamen Vorgehen gehört es auch, die Größenordnungen zu kennen. 

DFB.de: Wie lauten und woher stammen die Zahlen zu Gewalt und Diskriminierung im Amateurfußball?

Zimmermann: Seit 2014 erhebt der DFB mit seinen Landesverbänden jährlich das Lagebild Amateurfußball. Die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter melden in ihrem Online-Spielbericht, ob es zu einem Gewalt- oder Diskriminierungsvorfall kam und, falls ja, ob dieser Vorfall einen Abbruch zur Folge hatte. 911 Spiele mussten laut der Online-Spielberichte, die von den Schiedsrichter*innen ausgefüllt werden, in der Saison 2021/22 wegen eines Diskriminierungs- oder Gewaltvorfalls abgebrochen werden. 911 Spielabbrüche bei mehr als 1,2 Millionen erfassten Spielen, das entspricht 0,075 Prozent. Die Thematik ist sehr komplex. Wir dürfen auf keinen Fall verharmlosen, weil jeder Gewaltvorfall zu viel ist. Wir können und dürfen aber auch kein generelles Gewaltproblem des Fußballs ableiten. Das wäre eine verzerrte Wahrnehmung. Denn auch die gesellschaftlichen Gewalt- und Kriminalitätszahlen steigen gegenwärtig.

DFB.de: Sind 911 Spielabbrüche nicht trotzdem eine alarmierende Zahl?

Zimmermann: Jedenfalls ist es ein Zustand, mit dem wir ganz und gar nicht einverstanden sind. Zumal wir in der Saison 2021/22 einen sichtbaren Anstieg erleben mussten. In der letzten Saison vor Corona lagen wir bei 685 Abbrüchen. Die Zahlen der gerade endenden Saison wird der DFB bis Ende des Sommers zusammenfassen und dann veröffentlichen. Nach aktuellem Stand scheint sich die Zahl der Vorfälle und Abbrüche auf einem ähnlichen Niveau wie im Vorjahr zu bewegen. Wir haben das Themenfeld Gewalt in einer AG neu aufgesetzt, mit DFB-Personal, aber auch externen Experten. Zudem wurden die Landesverbände von mir aufgefordert, das Thema zur Chefsache zu machen.

DFB.de: Was kann man anhand der Online-Spielberichte noch sagen?

Zimmermann: Das Lagebild ermöglicht einen Einblick, in welcher Dimension die verschiedenen Gruppen als Beschuldigte oder Geschädigte vertreten sind. Unter den Spieler*innen befanden sich in der Saison 2021/22 leicht mehr beschuldigte (3.700) als geschädigte Personen (3.152), bei den Zuschauer*innen ist das Verhältnis eindeutiger (1884/421). Schiedsrichter*innen (78/2399) sind fast ausnahmslos Geschädigte von Diskriminierungen oder Gewalthandlungen. Wir haben auch aus diesem Grund das "Jahr der Schiris“ ausgerufen. Übrigens steckt in den Zahlen noch ein Widerspruch. Denn die Zahl der Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle ist nicht gestiegen, die der Spielabbrüche schon. Da müssen wir noch mehr Klarheit reinbringen.

DFB.de: Was machen der DFB und seine Landesverbände in puncto Gewaltprävention?

Zimmermann: Ein wesentlicher Schritt war die Einrichtung von Anlaufstellen für Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle in allen 21 Landesverbänden. Wem etwas zustößt, der kann sich hier Beratung oder auch konkrete Hilfe holen. Das Präventionskonzept "Fair ist mehr“ bündelt die bestehenden Maßnahmen zur Gewaltprävention auf Ebene des DFB. Zuletzt haben wir ein Schulungsvideo mit Deniz Aytekin und Katrin Rafalski gedreht, also mit dem Schiedsrichter und der Schiedsrichterin des Jahres. Was kann ich tun, wenn etwas passiert, darum geht es in dem siebenminütigen Lehrfilm. Als Pilotprojekt haben wir Deeskalationstrainings für Schiedsrichter angeboten. Da prüfen wir aktuell, ob es funktioniert und ob wir das über die Landesverbände in die Fläche bringen können. Mit den Fair Play-Medaillen und dem Julius Hirsch Preis zeichnen wir faires Verhalten auf dem Fußballplatz oder das couragierte Aufstehen gegen Gewalt aus. Denn Vorbilder müssen gestärkt werden. Wir müssen auch die Vereine mehr in die Pflicht nehmen, etwa bei der Umsetzung eines Heimspiels. Und wer dann noch meint, auf dem Fußballplatz gewalttätig werden zu müssen, ob gegen Schiedsrichter oder Mitspieler, gehört gesperrt, manchmal auch über Jahre. Ich meine, die Sportgerichte urteilen hier bis auf wenige Ausnahmen mit dem richtigen Maß. Daneben gibt es natürlich bei jedem Landesverband umfangreiche eigene Gewaltpräventionskonzepte.

DFB.de: Noch einmal zu den Zahlen: Reicht dem DFB das Lagebild oder müsste man sich einen noch genaueren Überblick verschaffen?

Zimmermann: Es ist gut und richtig, dass wir die Lage beobachten. Nur wenn man weiß, was los ist, kann man Fehlentwicklungen erkennen und Gegenmaßnahmen entwickeln. Wir arbeiten gerade daran, konkretere Daten zu bekommen, ohne den Schiedsrichter noch zusätzlich zu belasten. Die knapp 50.000 Schiris im Land leisten einen super Job, denen können und wollen wir nicht zumuten, noch mehr Daten in den Online-Spielbericht einzutragen. Aber wir können gezielte Analysen erstellen. Im Württembergischen Fußballverband etwa wurden in der Hinrunde 45.267 Spiele ausgetragen. Bei 134 Spielen meldete der Schiri einen Gewalt- oder Diskriminierungsvorfall. 26-mal wurde Gewalt angedroht, neunmal wurde körperliche Gewalt ausgeübt. Eine erhöhte Datenqualität und noch differenzierte Betrachtung helfen auf jeden Fall, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.

[th]

Der 1. DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann ist im Präsidium des Dachverbandes für den Amateurfußball und das Schiedsrichterwesen zuständig. Zwei Tage nach dem Tod eines 15-jährigen Berliner Fußballers, der am Mittwoch an den Folgen einer Gewalttat verstarb, spricht Zimmermann, 63, über die aktuellen Zahlen an Gewaltvorfällen sowie über die Grenzen und Möglichkeiten von Gewaltprävention.

DFB.de: Herr Zimmermann, hat der Fußball ein Gewaltproblem?

Ronny Zimmermann: Wir haben ein gesellschaftliches Problem beim respektvollen Umgang miteinander. Das betrifft nicht allein den Fußball, aber eben auch. Mir geht es wie vielen anderen, mit denen ich in den vergangenen Tagen gesprochen habe. Der Tod von Paul ist furchtbar, es ist eine schlimme Tat. Unser Mitgefühl ist in diesen Tagen ganz bei der Familie und seinen Freunden. Bei aller Betroffenheit müssen wir jedoch weiter mit sachlichem Blick an Lösungen arbeiten. Wir müssen klar und entschlossen sein. Gerade jetzt sind wir als Fußballgemeinschaft aufgefordert, gegen jede Form der Gewalt aufzustehen. Und da Gewalt regelmäßig mit Beleidigungen beginnt, schließe ich diese ausdrücklich mit ein - und zwar gleichgültig ob persönlich oder über die digitalen Medien. Zu einem wirksamen Vorgehen gehört es auch, die Größenordnungen zu kennen. 

DFB.de: Wie lauten und woher stammen die Zahlen zu Gewalt und Diskriminierung im Amateurfußball?

Zimmermann: Seit 2014 erhebt der DFB mit seinen Landesverbänden jährlich das Lagebild Amateurfußball. Die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter melden in ihrem Online-Spielbericht, ob es zu einem Gewalt- oder Diskriminierungsvorfall kam und, falls ja, ob dieser Vorfall einen Abbruch zur Folge hatte. 911 Spiele mussten laut der Online-Spielberichte, die von den Schiedsrichter*innen ausgefüllt werden, in der Saison 2021/22 wegen eines Diskriminierungs- oder Gewaltvorfalls abgebrochen werden. 911 Spielabbrüche bei mehr als 1,2 Millionen erfassten Spielen, das entspricht 0,075 Prozent. Die Thematik ist sehr komplex. Wir dürfen auf keinen Fall verharmlosen, weil jeder Gewaltvorfall zu viel ist. Wir können und dürfen aber auch kein generelles Gewaltproblem des Fußballs ableiten. Das wäre eine verzerrte Wahrnehmung. Denn auch die gesellschaftlichen Gewalt- und Kriminalitätszahlen steigen gegenwärtig.

DFB.de: Sind 911 Spielabbrüche nicht trotzdem eine alarmierende Zahl?

Zimmermann: Jedenfalls ist es ein Zustand, mit dem wir ganz und gar nicht einverstanden sind. Zumal wir in der Saison 2021/22 einen sichtbaren Anstieg erleben mussten. In der letzten Saison vor Corona lagen wir bei 685 Abbrüchen. Die Zahlen der gerade endenden Saison wird der DFB bis Ende des Sommers zusammenfassen und dann veröffentlichen. Nach aktuellem Stand scheint sich die Zahl der Vorfälle und Abbrüche auf einem ähnlichen Niveau wie im Vorjahr zu bewegen. Wir haben das Themenfeld Gewalt in einer AG neu aufgesetzt, mit DFB-Personal, aber auch externen Experten. Zudem wurden die Landesverbände von mir aufgefordert, das Thema zur Chefsache zu machen.

DFB.de: Was kann man anhand der Online-Spielberichte noch sagen?

Zimmermann: Das Lagebild ermöglicht einen Einblick, in welcher Dimension die verschiedenen Gruppen als Beschuldigte oder Geschädigte vertreten sind. Unter den Spieler*innen befanden sich in der Saison 2021/22 leicht mehr beschuldigte (3.700) als geschädigte Personen (3.152), bei den Zuschauer*innen ist das Verhältnis eindeutiger (1884/421). Schiedsrichter*innen (78/2399) sind fast ausnahmslos Geschädigte von Diskriminierungen oder Gewalthandlungen. Wir haben auch aus diesem Grund das "Jahr der Schiris“ ausgerufen. Übrigens steckt in den Zahlen noch ein Widerspruch. Denn die Zahl der Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle ist nicht gestiegen, die der Spielabbrüche schon. Da müssen wir noch mehr Klarheit reinbringen.

DFB.de: Was machen der DFB und seine Landesverbände in puncto Gewaltprävention?

Zimmermann: Ein wesentlicher Schritt war die Einrichtung von Anlaufstellen für Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle in allen 21 Landesverbänden. Wem etwas zustößt, der kann sich hier Beratung oder auch konkrete Hilfe holen. Das Präventionskonzept "Fair ist mehr“ bündelt die bestehenden Maßnahmen zur Gewaltprävention auf Ebene des DFB. Zuletzt haben wir ein Schulungsvideo mit Deniz Aytekin und Katrin Rafalski gedreht, also mit dem Schiedsrichter und der Schiedsrichterin des Jahres. Was kann ich tun, wenn etwas passiert, darum geht es in dem siebenminütigen Lehrfilm. Als Pilotprojekt haben wir Deeskalationstrainings für Schiedsrichter angeboten. Da prüfen wir aktuell, ob es funktioniert und ob wir das über die Landesverbände in die Fläche bringen können. Mit den Fair Play-Medaillen und dem Julius Hirsch Preis zeichnen wir faires Verhalten auf dem Fußballplatz oder das couragierte Aufstehen gegen Gewalt aus. Denn Vorbilder müssen gestärkt werden. Wir müssen auch die Vereine mehr in die Pflicht nehmen, etwa bei der Umsetzung eines Heimspiels. Und wer dann noch meint, auf dem Fußballplatz gewalttätig werden zu müssen, ob gegen Schiedsrichter oder Mitspieler, gehört gesperrt, manchmal auch über Jahre. Ich meine, die Sportgerichte urteilen hier bis auf wenige Ausnahmen mit dem richtigen Maß. Daneben gibt es natürlich bei jedem Landesverband umfangreiche eigene Gewaltpräventionskonzepte.

DFB.de: Noch einmal zu den Zahlen: Reicht dem DFB das Lagebild oder müsste man sich einen noch genaueren Überblick verschaffen?

Zimmermann: Es ist gut und richtig, dass wir die Lage beobachten. Nur wenn man weiß, was los ist, kann man Fehlentwicklungen erkennen und Gegenmaßnahmen entwickeln. Wir arbeiten gerade daran, konkretere Daten zu bekommen, ohne den Schiedsrichter noch zusätzlich zu belasten. Die knapp 50.000 Schiris im Land leisten einen super Job, denen können und wollen wir nicht zumuten, noch mehr Daten in den Online-Spielbericht einzutragen. Aber wir können gezielte Analysen erstellen. Im Württembergischen Fußballverband etwa wurden in der Hinrunde 45.267 Spiele ausgetragen. Bei 134 Spielen meldete der Schiri einen Gewalt- oder Diskriminierungsvorfall. 26-mal wurde Gewalt angedroht, neunmal wurde körperliche Gewalt ausgeübt. Eine erhöhte Datenqualität und noch differenzierte Betrachtung helfen auf jeden Fall, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.

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