Engel: "Werden uns nicht zurücklehnen!"

Vierzehn Jahre nach der Neuausrichtung der Talentförderung ist nichts mehr wie es war. Der Fußball in Deutschland hat sich grundlegend verändert. Nun "geht es um Nuancen", sagt Frank Engel. Der ehemalige Bundesligatrainer leitete die institutionsübergreifenden Fortbildungsveranstaltungen für die Trainer im Land, die die Mario Götzes von Morgen erst entdecken und dann fördern sollen.

DFB.de: Herr Engel, der deutsche Vereins-Fußball und die Nationalmannschaft sorgt für sehr gute Nachrichten momentan. Ist der Erfolg eine Gefahr?

Frank Engel: Nein, denn wir werden uns sicher nicht zufrieden zurücklehnen. Nach dem Schock der EM 2000 wurden sofort erste Reformen umgesetzt. 2002 wurde die Talentförderung radikal ausgebaut. Der DFB betreibt in Zusammenarbeit mit den Landesverbänden heute 366 Stützpunkte. Dazu kommen die 49 Leistungszentren, 33 Eliteschulen des Fußballs, die U-Nationalmannschaften und die Maßnahmen der Landesverbände. Wichtig ist jetzt, dass wir Kompetenzen bündeln, im Dialog bleiben und voneinander lernen.

DFB.de: Mittlerweile treffen sich Trainer aus der Nachwuchsförderung regelmäßig. Was sind die Ziele?

Engel: In diesen regionalen Veranstaltungen werden altersübergreifend die U-Trainer und sportlichen Leiter der Leistungszentren, die Verbandssportlehrer, die Stützpunktkoordinatoren und die Trainer der U-Nationalmannschaften eingeladen – insgesamt rund 400 Trainer. Unsere Struktur greift - beispielhaft dafür steht Toni Kroos, der in der Spezialförderung im Stützpunkt, der Eliteschule des Fußballs, in der Landesauswahl und im Leistungszentrum gefördert wurde. Daran wird ersichtlich, dass er auf dem Weg zur Profikarriere von unterschiedlichen Trainern gefördert und beeinflusst wurde. Deshalb ist uns der alters- und institutionsübergreifende Austausch wichtig.

DFB.de: Das Motto der ersten Trainertagungen lautete 'Der Spieler steht im Mittelpunkt'.

Engel: Die Talententwicklung ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir alle leisten nur einen Anteil an der Entwicklung des nächsten Mesut Özil oder Julian Draxler. Wir legen Grundlagen, wir stellen Weichen. Über Belastung und Inhalte muss man sich austauschen.

DFB.de: Ein weiteres wichtiges Thema ist der Umgang mit Stress.

Engel: Wichtig ist, dass wir eben nicht versuchen, Stress zu vermeiden. Ein junger Spieler steht unter großem Druck. Dauernd wird seine Leistung beurteilt, er muss wichtige Spiele bestreiten, steht ständig im Fokus. Wir können dem jungen Talent kein stressfreies Umfeld schaffen. Aber wir müssen ihm Mittel an die Hand geben, um mit dem Stress umzugehen. Ich übernehme jährlich den U 15-Jahrgang. Dort spielen Jahr für Jahr circa 350 Spieler vor. Nicht jeder wird Nationalspieler, im Gegenteil, nur der allerkleinste Bruchteil. Wenn es aus einem Jahrgang, 15 Spieler in die Bundesliga und zwei sogar den Sprung in die Nationalmannschaft schaffen, ist das ein Erfolg. Wir als Trainer tragen Verantwortung für alle, auch für die, die es später einmal nicht in den Profifußball schaffen. Teamwork, Ausdauer, Ehrgeiz, Druckresistenz – das sind Fähigkeiten, die wir dem jungen Fußballer vermitteln können und die ihm weiterhelfen. Auch wenn er später keinen Profivertrag unterschreibt.

DFB.de: Die Scheinwerfer stehen in der Bundesliga. Dabei kommen starke Trainer aus den Junioren-Bundesligen - siehe Thomas Tuchel oder Christian Streich.

Engel: Stimmt. Immer häufiger vertrauen die Vereine auf Trainer, die aus der Nachwuchsförderung kommen. Zudem hat sich die Zahl der im Nachwuchs hauptamtlich angestellten Trainer von 40 im Jahr 2000 auf aktuell 400 erhöht. Somit haben wir in Deutschland ein großes Reservoir an exzellenten Trainern. Allerdings sollte der Stellenwert der Trainer im Aufbau- und Grundlagenbereich erhöht werden. Hier erhalten die Trainer oftmals noch nicht die angemessene Anerkennung. Ein 12-jähriger ist im besten motorischen Lernalter – hier Versäumtes holen wir nie mehr auf. Juniorentrainer sind Altersspezialisten. Natürlich macht Pep Guardiola einen famosen Job, liefert Jürgen Klopp eine sensationelle Leistung ab. Wenn aber keine hochkompetente Vorarbeit geleistet worden wäre, hätten die Trainer oben keine Chance.

DFB.de: Längst zeigt sich die Qualität der Talentförderung auch im A-Team.

Engel: Genau, die Zahlen sind bekannt, das sind Welten. Bei der EM 2000 hatte die Nationalmannschaft einen Altersschnitt von 31 Jahren. In Südafrika lag der Schnitt bei 25 Jahren, zwei Jahre später war die Mannschaft sogar noch jünger. Aus dem aktuellen Kader haben 13 Spieler einen internationalen Titel gewonnen.

DFB.de: Wie wird der Fußball in zehn Jahren aussehen?

Engel: Das Tempo im modernen Fußball ist extrem hoch. Schon die U 15-Junioren, die ich betreue, spielen ein unglaublich hohes Tempo. Dennoch wird das Spiel in den kommenden Jahren noch schneller werden. Viel wird nachgedacht über Positionsprofile, wie beispielsweise des Innenverteidigers. Früher waren sie kopfballstark, zweikampfstark und konnten den Ball weit nach vorne schlagen. Heute müssen sie technisch und spieltaktisch die Fähigkeiten eines Spielmachers mitbringen. Sie müssen sofort erkennen, ob sie in die Tiefe passen und damit eine Reihe überspielen können. Mertesacker, Boateng oder Hummels – das sind Spieler, die kannst Du mit den Innenverteidigern von früher nicht vergleichen.

DFB.de: Ist Barcelona noch das große Vorbild bei der Jugendförderung?

Engel: Die Jugendakademie von Barcelona zählt zu den besten der Welt. Barcas Jugendspieler haben jede Menge Titel geholt, sind in den U-Mannschaften Europa- und Weltmeister geworden. Aber klar ist auch: Wir gehen unseren eigenen Weg. Die Bayern sind heute ähnlich ballsicher, aber viel zwingender im Abschluss. Den deutschen Weg werden nur wenige andere Länder kopieren können. Wir sind in einer ungeheuren Breite aufgestellt.

DFB.de: Sammer, Ballack, Bernd Schneider, Doll – unmittelbar nach der Wende besetzten Talente aus der DDR wichtige Rollen. Heute fällt die Liste der Talente aus den neuen Bundesländern kürzer aus. René Adler und Marcel Schmelzer zählen dazu. Was ist passiert?

Engel: 1994 spielten 154 Spieler der ehemaligen DDR in Westmannschaften, von der Bundesliga bis zur damaligen Regionalliga. Das war ein Ausverkauf. Die alten Strukturen im Osten mussten aufgegeben werden. Staatliche Förderung, Betriebssport, das alles fiel weg. Und natürlich gab es eine massenhafte Umsiedlung junger Menschen in den Westen. Heute spielen nur noch knapp zehn Prozent des männlichen Fußballnachwuchses in den neuen Bundesländern. Viele junge Talente wechseln früh zu Bundesligaklubs. Patrick Pflücke in Mainz, Lukas Fröde in Bremen, ein Paul Szymanski in Mönchengladbach. Es gibt schon noch gute Fußballer aus dem Osten.