Gegen tiefstehende Gegner: Stoßstürmer oder "falsche" Neun?

Im Zweifel ist das kollektive Verteidigen nahe am eigenen Strafraum einfacher, als einen vermeintlich übermächtigen Gegner durch hohes Pressing und proaktiven Offensivfußball zu bespielen. So wählt der "Underdog" gerne mal ein kompaktes Abwehrpressing als Verteidigungsstrategie und treibt die Favoriten damit hin und wieder mal zur Weißglut. Wie knackt man so einen Block und worauf kommt es an?

Ein Allheilmittel gibt es nicht

Gerade bei einem Turnier wie der laufenden Weltmeisterschaft der Männer gibt es diese Konstellationen immer wieder zu beobachten. Gleich in den ersten Spieltagen gab es wieder Überraschungssiege, die für reichlich Spannung in der Gruppenphase sorgten. Daher stellt sich einmal mehr die Frage: "Was tun, wenn sich der Gegner aufs Verteidigen und Kontern beschränkt?"

Die Ernüchterung gleich vorweg: Würde es eine Musterlösung für solche Duelle geben, wäre das typische "hinten rein stellen" wohl keine allzu beliebte Taktik mehr. Trotzdem lohnt sich ein genauer Blick auf die Charakteristika dieser Defensivstrategie, um daraus die Konsequenzen für den eigenen Angriff abzuleiten.

Egal ob der Gegner nun eine Vierer-, Fünfer- oder Sechserkette wählt. Entscheidend ist eher die Höhe, auf der sich die Abwehrkette vor dem eigenen Tor positioniert. Meist ist die so gewählt, dass kein Raum für tiefe Läufe und den entsprechenden Steckpass bleibt. Angreifer, die also vor allem über ihr hohes Tempo kommen, könnten in solchen Spielen an Effektivität verlieren.

Auch in den Zwischenlinienräumen wird es eng. Eine Positionierung zwischen mehreren Gegenspielern ist kaum möglich, und so wird auch das Aufdrehen erschwert. Vielmehr wird das Spiel zwischen den Linien zu einem Risiko. Denn wer tief steht, lauert auch auf Konter – und die resultieren häufig aus einem Ballgewinn zwischen den Linien.

Aus den ersten beiden Punkten ergibt sich die Konsequenz, dass Angriffe am ehesten über den Flügel ausgespielt werden. Von dort ist der Weg zum Tor am weitesten und führt an einer Vielzahl von Verteidigern vorbei. Darüber hinaus müssen meist fünf oder mehr Angreifer den Strafraum besetzen, um mindestens Gleichzahl herzustellen.

Fixpunkt Stümer

Die meiste Torgefahr strahlen in der Regel die Stürmer einer Mannschaft aus. Doch welcher Stürmertyp eignet sich in einem solchen Spiel am besten? Stoßstürmer bestechen meist durch eine besondere Physis, die es ihnen ermöglicht auch gegen robuste Innenverteidiger zu bestehen. Gerade gegen tiefstehende Gegner kann es hilfreich sein, den klassischen "Keil" in der gegnerischen Abwehr zu positionieren, um über dessen Wucht immer wieder zu gefährlichen Abschlüssen zu kommen sowie auch bei Standards die Lufthoheit zu haben und Bälle vorne festzumachen, damit der restliche Angriff nachrücken und Überzahl schaffen kann.

Niclas Füllkrug unterstrich in der laufenden Bundesligasaison einmal mehr die Wichtigkeit dieser Rolle und löste so sein Ticket für Flicks WM-Kader. Meist reicht dem Stürmer von Werder Bremen ein einziger Kontakt aus, um den Ball im Tor unterzubringen. Ermöglicht wird dies vor allem durch seine gute Positionierung im Strafraum und den ebenso harten wie präzisen Abschlüssen. Für solche "Strafraumstürmer" spielt es keine wirkliche Rolle wie tief der Gegner steht, da sie im Sechzehner ohnehin mit wenig Platz und dafür viel Gegnerdruck auskommen müssen.

Trickreich und kaum zu greifen – die "falsche" Neun

Als passendes Pendant dazu gilt die "falsche" Neun. Eine Rolle, die vor allem mit dem modernen Fußball in Verbindung gebracht wird, wenngleich sicherlich auch einige der ganz großen Namen von früher diese Rolle bekleidet haben: Johan Cruyff, Eusébio, Alessandro Del Piero, Raúl und selbst ein Pelé haben zu Hochzeiten ihrer Karrieren im Prinzip das gespielt, was wir heute als "falsche" Neun bezeichnen. "Falsch" deshalb, weil die Spieler auf dieser Position keine reinen Zielspieler waren, sondern gleichzeitig auch als Spielmacher auftraten – selbst an vorderster Front, wie wir es heutzutage von Spielern wie Christopher Nkunku, Kai Havertz und mitunter auch Thomas Müller gewohnt sind.

Im Gegensatz zu den Stoßstürmern sind Spieler dieses Profils deutlich umtriebiger und haben in der Regel auch mehr Ballaktionen pro 90 Minuten. Sie holen sich Bälle gerne mal etwas tiefer ab oder lassen sich auf den Flügel heraustreiben, um von dort aus 1-gegen-1-Situationen aufzulösen und mit Ball am Fuß in den Strafraum einzudringen. Mit diesem Verhalten reißen sie außerdem häufig Lücken in den gegnerischen Defensivverbund, in den nun andere Angreifer vorstoßen können. Sie zeichnen sich also nicht bloß mit ihrer Qualität im Abschluss, sondern auch durch eine gewisse Raffinesse und den Blick für die Mitspieler aus.

Abstimmungssache

Zu den absoluten Hauptaufgaben eines Trainer-Teams gehört die perfekte Abstimmung der verschiedenen Spielertypen in der Startelf. Die unterschiedlichen Fähigkeitenprofile sollten im Idealfall so zusammengesetzt werden, dass sie sich ergänzen, unterstützen und die Stärken der jeweils anderen Spieler auf dem Platz betonen, während Schwächen aufgefangen werden. Wer beispielsweise auf kopfballstarke Stoßstürmer setzt, wird in der Regel auch mit Außenverteidigern arbeiten, die über eine gute Flankentechnik und den entsprechenden Offensivdrang verfügen.

Doch auch die Bank ist für den Matchplan relevant. So kann es sich durchaus auszahlen, den Gegner mit einer spiel- und laufstarken Mannschaft regelrecht zu "zermürben", um dann in der Endphase der Partie mit der Einwechslung der "richtigen" Neun nochmal einen neuen Weg einzuschlagen und der ermüdeten Hintermannschaft durch die Frische und Zielstrebigkeit den Rest zu geben. Genau diesen Plan verfolgten augenscheinlich sowohl die Spanier als auch die deutsche Nationalmannschaft im direkten Duell in der Gruppenphase der Weltmeisterschaft. In beiden Teams standen zunächst keine richtigen Neuner auf dem Platz. Beide Teams brachten ein intensives Spiel auf den Rasen und kamen immer wieder durchaus gefährlich vor das gegnerische Tor – doch die Treffer wurden jeweils mit den Stoßstürmern eingewechselt.