Männer-Nationalmannschaft
Hermann: "Du musst ansprechbar sein, wenn es brennt"
Über zwei Jahrzehnte hinweg begleitete er die Männer-Nationalmannschaft durch einige Tiefen und noch mehr Höhen. Inzwischen arbeitet er an der weiteren Professionalisierung der Sportpsychologie im Profibereich mit. Im DFB.de-Interview schildert Prof. Dr. Hans-Dieter Hermann, wie er die Erfahrungen auf diesem Weg einordnet.
DFB.de: In mehr als 20 Jahren sind Sie als Psychologe der Nationalmannschaft selten öffentlich in Erscheinung getreten - und doch vielen Menschen bekannt. Herr Hermann, wie sind Sie 2004 überhaupt zum DFB gekommen?
Prof. Dr. Hans-Dieter Hermann: Bereits ab 2002 war ich im Talentförderprogramm für den DFB tätig, als es die ersten Schulungsmaßnahmen für Stützpunkkoordinatoren gab. Und als Jürgen Klinsmann Bundestrainer wurde, hat er sich bei anderen Trainern umgehört, ob sie jemanden kennen, der als Sportpsychologe tätig ist und im Fußball Erfahrung hat. Bernhard Peters (damals Hockey-Bundestrainer; Anm. d. Red.) hat mich dann empfohlen - und mir ist vor Überraschung und Freude fast der Hörer aus der Hand gefallen, als Jürgen mich anrief.
DFB.de: Liegt man richtig in der Annahme, dass Ihre ersten beiden Jahre bis zur Heim-WM 2006 intensiv waren?
Hermann: Ja, sehr intensiv - vor allem medial. Es gab sofort öffentlichen Widerspruch. Jürgen hat einige Dinge neu eingeführt, beispielsweise die Fitnesstrainer und mich als Psychologen. Dazu haben sich einige Experten wenig wertschätzend geäußert. Aber es hat sich dann trotzdem alles gut entwickelt. Die tolle Zeit während des Confed Cups 2005 und das unglaubliche Sommermärchen ein Jahr später waren dann aber Game Changer in meinem beruflichen Leben.
DFB.de: Wie waren die Reaktionen der Spieler auf Ihre Person und Arbeit?
Hermann: Sehr wertschätzend. Sie haben mich überraschend schnell angenommen. Vieles war für die Spieler und Trainer neu, und ich konnte in mehreren kleinen Workshops erklären, warum der Kopf im Sport so wichtig ist. Das wäre heute anders, wenn man als Psychologe im Profisport anfängt, dieses Wissen ist mittlerweile weit verbreitet. Ich hatte das Glück, mit Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und Tim Meyer zwei Ärzte und dazu die Physiotherapeuten um Klaus Eder im Team zu haben, die den Trainern und Spielern positiv von meiner Arbeit berichtet haben. Dadurch gingen einige Türen schnell auf.
DFB.de: Was waren Beispiele für diese neuen Themen, an denen Sie mit den Spielern gearbeitet haben?
Hermann: Dass der Kopf einen entscheidenden Anteil an der eigenen Leistung hat und vor allem, dass Spieler ihre Leistung verbessern können, wenn sie den Kopf trainieren. Dieses Paradigma gab es davor im Profifußball kaum, ich konnte das zum Beispiel mit kinesiologischen Übungen vermitteln. Psychische Regenerationszeiten nach dem Training sind ein anderes Beispiel: Wie ich runterkomme oder bei Stress gegenwirken kann - da hatte ich neue Angebote für die Spieler. Viele haben das schnell angenommen.
DFB.de: Stichwort Stress: Wie arbeiteten Sie vor wichtigen Spielen, zuletzt zum Beispiel vor dem EM-Eröffnungsspiel gegen Schottland, mit dem Team zusammen?
Hermann: Nicht anders als sonst. Im Vorfeld vor Turnieren hatten wir nur mehr Zeit zusammen. Alle vier Bundestrainer, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, haben mir Raum für Teambuilding-Maßnahmen mit der Mannschaft gegeben. Vor der EM haben wir zum Beispiel mit dem Sondereinsatzkommando der Polizei von Rheinland-Pfalz zusammengearbeitet und ein internes Teamevent organisiert, bei dem sich die Spieler gegenseitig auf das Turnier eingeschworen haben.
DFB.de: Zwischen Ihren ersten Einsätzen und dem SEK-Training liegen 20 Jahre. Wie hat sich die Sportpsychologie in diesem Zeitraum weiterentwickelt?
Hermann: Ich glaube sagen zu dürfen, dass meine Tätigkeit bei der A-Nationalmannschaft dazu beigetragen hat, dass sich die Sportpsychologie im gesamten deutschen Sport etabliert hat, weil das Fach öffentlich immer stärker wahrgenommen wurde.
DFB.de: Gab es Stellen, an denen die Entwicklung in die falsche Richtung ging?
Hermann: Die Psychologie wurde - entsprechend ihrem Bild in weiten Teilen der Gesellschaft - vor allem als klinische Psychologie wahrgenommen. Fußballer mussten damit rechnen, dass die Öffentlichkeit bei einer Zusammenarbeit mit einem Psychologen annahm, dass sie ein größeres psychisches Problem hätten. Die meisten Spieler und Trainer kamen aber aus einem anderen Grund: Sie wollten mental besser werden, um ihre sportliche Leistung zu steigern. Diese Seite der Psychologie, die Optimierungspsychologie, beinhaltet das Training im und für den Kopf.
DFB.de: Wie bedeutungsvoll ist es, eine Vertrauensperson aus der Sportpsychologie bei oder innerhalb einer Mannschaft zu haben?
Hermann: Im Fußball gibt es mittlerweile so viele Spezialisierungen, denken Sie nur an das Fitnesstraining oder die Aufbereitung von Daten aus dem Training und dem Spiel. Daher wäre es meines Erachtens ein Fehler, auf eine psychologische Begleitung, die ja den Kopf bedient, also die zentrale Steuereinheit, zu verzichten.
DFB.de: Mit Dr. Philipp Laux gibt es einen Sportpsychologen, der Ihre Rolle nach der Heim-EM übernommen hat. Warum ist er der richtige dafür?
Hermann: Niemand im deutschen Fußball hat mehr sportpsychologische Erfahrung als Philipp Laux. Er war Fußballprofi, auch bei deutschen Spitzenvereinen, und Kapitän in der Bundesliga. Nach der Karriere hat er Psychologie studiert. Er kennt sehr viele Spieler, weil er Sportpsychologe mehrerer Bundesligavereine, der U 21 und dazu Torwarttrainer, unter anderem der Frauen-Nationalmannschaft, war. Philipp ist die perfekte Besetzung für diese Rolle und wird für Spieler und Trainer ein unglaublicher Mehrwert sein.
DFB.de: Und mit seiner Arbeit, so die Hoffnung in Fußball-Deutschland, einen Teil zu einer weiterhin erfolgreichen Nationalmannschaft beitragen. Sie waren dabei, als sich die Mannschaft in der Spanne zwischen 2006 und 2017 zu einer der erfolgreichsten der Welt entwickelte. Welche Bedeutung hatte der WM-Titel 2014 in Ihren Augen?
Hermann: Das war unglaublich! Die Erfüllung all der Wünsche, die wir über die Jahre gemeinsam hatten. Trotzdem möchte ich auch das Sommermärchen 2006 nennen - was das für Deutschland bedeutet hat! Dabei im Zentrum dabei zu sein, die Euphorie im Land und bei den Spielen und all die Menschen in Berlin nach unserem dritten Platz zu erleben - das sind Bilder, die ich nie vergessen werde.
DFB.de: Es folgte ein weiterer dritter Platz, 2010 in Südafrika.
Hermann: Ebenfalls ein ganz besonderes Turnier. Es fand unter ganz anderen Bedingungen als 2006 statt. Man merkte, dass eine junge Mannschaft zusammenwächst, der jeder Erfolg zuzutrauen ist. All die U 21-Europameister von 2009, die den Kern der Mannschaft bildeten, dazu der erstmals nominierte Thomas Müller. Sie brachten eine Qualität und eine Stimmung mit, die 2010 zu einem echten Aufbruchturnier werden ließ. Das habe ich sehr genossen. Wie übrigens auch die Turniere später: die EM 2016, der Confed Cup 2017 mit einer Rookie-Mannschaft um den herausragenden Kapitän Julian Draxler, die sich gegenseitig berauscht und den Titel geholt hat. Selbst bei den Turnieren 2018 und 2022 war im Vorfeld nicht abzusehen, wie sie enden würden. Die Spieler hätten sich auch da für den Erfolg zerrissen. Leider blieben wir weit unter den selbst gesetzten Erwartungen.
DFB.de: Aus der Depression der beiden verpatzten Turnierauftritte hat sich die Mannschaft mit der begeisternden Heim-EM herausgearbeitet. Hat sie das auch geschafft, weil es aus psychologischer Sicht leichter ist, mit Niederlagen und Rückschlägen umzugehen, als mit Siegen und dem Erreichen eines großen Ziels?
Hermann: Der Umgang mit Niederlagen ist immer unangenehm. Aber die Zielrichtung danach ist klar: Man will es unbedingt besser machen. Rein theoretisch ist es nach ganz großen Erfolgen schwerer, die allerletzten Prozente herauszuholen, als nach Niederlagen. Aber das ist Theorie.
DFB.de: Genau, denn mit ihren Auftritten bei der EM 2016 hat die damals noch anders besetzte Nationalmannschaft gezeigt, dass sie diese Hürde nehmen kann.
Hermann: Absolut. Trotz des Riesenerfolgs zuvor, dem Gewinn des WM-Titels 2014, waren Trainerstab und Mannschaft heiß darauf, bei diesem Turnier wieder zu gewinnen. Sie waren maximal motiviert. Und die Jungs hätten es wirklich verdient gehabt.
DFB.de: Im Gegensatz zu den Leistungszentren der Vereine hat dennoch nicht jede Profimannschaft eine ausgebildete sportpsychologische Fachkraft im Team hinter dem Team. Daher möchte der DFB gemeinsam mit Ihnen Sportpsycholog*innen durch einen Zertifikatslehrgang speziell für den Profifußball ausbilden. Wo haben Sie bei diesem neuen Angebot mitgewirkt?
Hermann: Der DFB, hier vor allem organisatorisch tätig, und meine Firma CCC (Coaching Competence Cooperation; Anm. der Red.) waren schon länger in gutem Austausch. Gemeinsam mit Philipp Laux haben wir den Unterricht für das Zertifikat konzipiert und dank unseres großen Fußball-Netzwerkes weitere Referenten und Gäste - Manager, Trainer und Sportdirektoren - gewinnen können.
DFB.de: Was zeichnet den Zertifikatslehrgang aus, und wer kann daran teilnehmen?
Hermann: Wir bilden darin speziell für den Profibereich aus. In den Leistungszentren arbeiten bereits sehr gute Sportpsycholog*innen. Aber nur wenige bekommen die Chance, in den Profibereich zu wechseln, da die Vereine hier spezielles Erfahrungswissen erwarten. Da setzt das europaweit einzigartige Zertifikat an. Seit wir den Lehrgang 2023 gestartet haben, haben mich mehrere Bundesligatrainer nach geeigneten Sportpsychologen gefragt, die über das Zertifikat verfügen. Teilnehmen können alle Psychologen, die in den professionellen Sport - auch in anderen Sportarten als Fußball - wollen.
DFB.de: Anschließend an Ihren letzten Punkt: Was kann der Fußball - nicht nur, aber auch im psychologischen Bereich - von anderen Sportarten lernen?
Hermann: Oh, das hat schon eine gewisse Tradition seit Bernhard Peters vor mittlerweile 20 Jahren inspirierende Gedanken aus dem Offensivspiel des Hockeys in den Fußball übertragen hat. 2014 hat der österreichische Skirennläufer Hermann Maier über seine Einstellung zum Sport erzählt, zuletzt war Arthur Abraham zu Gast bei der Nationalmannschaft. Er hat die außergewöhnliche Mentalität eines Boxers beschrieben und erklärt, was Fußballer davon übernehmen können. Julian Nagelsmann hat sich im Vorfeld der vergangenen EM Ideen bei der Rollendefinition für die Spieler von Gordon Herbert, dem Ex-Basketball-Bundestrainer, geholt. Ich persönlich hatte die Freude, mit der Handball-Nationalmannschaft zu arbeiten. Mich hat beeindruckt, wie lebendig die Bank ist, wie sie zu 100 Prozent am Spiel teilnimmt. Ein großartiges Teamverständnis, besonders auch zwischen den Torhütern, die sich gegenseitig coachen. Die Liste lässt sich leicht fortsetzen. Aber andere Sportarten können auch vom Fußball lernen.
DFB.de: Worauf kommt es Ihrer Erfahrung nach - sportartenübergreifend - als Psychologe im Profibereich an?
Hermann: Sportpsychologie ist Hintergrundarbeit. Als Sportpsychologe musst du immer ansprechbar sein, natürlich insbesondere, wenn es brennt. Und wenn es läuft, solltest du dich schön zurückhalten und in jedem Fall medial äußerst defensiv sein. Auch auf dieses Rollenverständnis, dieses Gefühl für Gruppen, gehen wir im Lehrgang dezidiert ein.
DFB.de: Was muss eintreten, dass Sie in einem Jahr zurückblicken und den Zertifikatslehrgang als erfolgreich einordnen?
Hermann: Den Verantwortlichen im Profisport sollte dann bekannt sein, dass die Absolventen dieses sechsmonatigen Zertifikats die erste Adresse sind, wenn sie eine Sportpsychologin oder einen Sportpsychologen suchen.
Kategorien: Männer-Nationalmannschaft, DFB-Akademie, Wissenschaft
Autor: jf
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