WM-Serie: Das Wunder von Bern 1954

Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnier-Historie.

Teil 5: Die WM 1954 in der Schweiz

Die Weltmeisterschaft 1954 war für die FIFA ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Turnier. Nie fielen mehr Tore, der Veranstalter machte ein sattes Plus von 2,75 Millionen Franken, und schon im Vorfeld zeichnete sich ab, dass die fünfte Ausspielung des Weltpokals unter erfreulicheren Vorzeichen stehen würde als die der Vorläufer. Erstmals musste der Weltverband nicht auf Betteltour gehen, um Teilnehmer in die Schweiz zu locken, vielmehr konnte er den Spieß sogar umdrehen und Absagen erteilen. Sieben Verbände, darunter der der Niederlande, wurden wegen zu später Anmeldung ausgeschlossen. Nun verblieben immer noch 38 Nationen, die um die 14 vakanten Plätze kämpfen durften, der Gastgeber und der Titelverteidiger (Uruguay) waren traditionsgemäß kampflos qualifiziert.

Die Schweizer bereiteten sich übrigens länger als jeder andere Gastgeber auf ihr Turnier vor, den Zuschlag erhielten sie schon 1946 – ursprünglich aber für das Jahr 1951, doch wurde der Turnus noch geändert. 1954 hätte die WM eigentlich in Schweden stattfinden sollen, und so hätte es für Deutschland vielleicht ein Wunder von Stockholm statt des Wunders von Bern gegeben. Ganz glatt lief aber auch diese Qualifikation nicht: Argentinien verzichtete wieder mal, und insgesamt traten nur vier Nicht-Europäer die Reise in die Schweiz an, wo ab dem 16. Juni erneut eine verkappte Europameisterschaft stattfand. Kurios dabei: Ohne gegen einen Ball getreten zu haben, nahmen die Ungarn an der WM teil. Qualifikationsgegner Polen zog angesichts der Aussichtslosigkeit zurück, was man sogar verstehen konnte. Seit 14. Mai 1950 war die Elf um Major Ferenc Puskas von Sieg zu Sieg geeilt, 1952 holte sie Olympia-Gold und im November 1953 stürmte sie mit einem furiosen 6:3 als erste kontinentale Mannschaft überhaupt die britische Fußball-Festung Wembley.

Ungarn als Wett-Favorit

Die Ungarn waren bei den Buchmachern der Weltmeister-Tipp schlechthin (Quote: 3,5:2), auch wenn sie gar nicht von dieser Welt zu sein schienen. Ausgerechnet diese Wunder-Mannschaft, die im Schnitt 4,3 Tore schoss, wurde den Deutschen, die sich gegen das damals eigenständige Saarland und Norwegen ungeschlagen qualifiziert hatten, zugelost.

Die Herberger-Elf war nur 9:1-Favorit, also krasser Außenseiter. Der Nürnberger Max Morlock hatte schon einen Italien-Urlaub gebucht, der mit dem Viertelfinale begonnen hätte. Als das deutsche Team am 11. Juni in grünen DFB-Anzügen in Karlsruhe den Zug nach Basel bestieg, sprach auch niemand vom WM-Titel. Die Zöllner an der Schweizer Grenze fragten die Reisegesellschaft beinahe mitleidig: „Was wollt denn ihr in der Schweiz? Ihr habt doch nicht etwa vor, die Ungarn, Brasilianer oder Urus zu schlagen?“ Und als der Kicker am 14. Juni erschien, titelte er: „Hoffen wir auf ein Wunder!“. Es „entspräche aller nüchternen Papierform-Vernunft, wenn die deutsche Mannschaft in acht Tagen aus Spiez besiegt abreisen“ würde, schrieb das Fachmagazin. Doch bekanntlich kam es anders – die deutschen Gäste blieben bis zuletzt auf der Fußball-Party im schönen Nachbarland. Das vielbesungene Wunder von Bern, es war vor allem ein geplantes Wunder – entstanden im schlauen Kopf von Bundestrainer Sepp Herberger.

10 Mark Tagesgeld

Und das mit 22 Amateuren, denn eine Bundesliga gab es noch nicht, Profispieler daher ebenso wenig. Die WM-Teilnahme bedeutete für etliche Spieler vor allem Verdienstausfall, sie mussten teilweise unbezahlten Urlaub nehmen, 10 Mark Tagesgeld waren ein schwaches Trostpflaster. Zusatzeinnahmen gab es nicht: Keiner hatte einen Werbevertrag, geschweige denn eine Schallplatte besungen. Der Star-Kult um Fußballer war noch nicht erfunden und nur über Kapitän Fritz Walter war schon eine Biographie erschienen. International war diese Mannschaft mit im Schnitt 6,7 Länderspielen ein unbeschriebenes Blatt.

„Der Chef“, wie Herberger im Team genannt wurde, suchte sich seine Kandidaten aus den vier Regionalligen zusammen und fuhr mit seinem Opel Olympia unermüdlich an den Wochenenden durch die Lande. Anders konnte er ihre Form nicht überprüfen, bewegte Fußballbilder gab es nur im Kino – kleine Ausschnitte im Rahmen der Wochenschau.

Minigolf und Wanderungen

Im Mai zog er die Spieler erstmals zusammen, doch ohne Ball und Hütchen. Im Schwarzwald sollten sie entspannen und sich besser kennenlernen, bei Minigolf und Wanderungen mit Versteckspielen. In München-Grünwald brachte Herberger sie konditionell auf die Höhe, bis zu dreieinhalb Stunden am Tag wurde trainiert. „Dieser Lehrgang schuf die Grundvoraussetzung für unsere sehr gute Verfassung in der Schweiz, wo wir die konditionsstärkste Mannschaft waren“, beteuert Weltmeister Horst Eckel. Herberger reduzierte den Kader dort von 30 auf 22 Spieler. Dabei demonstrierte er Härte und suspendierte den Sodinger Gerhard Harpers, der nachts ausgebüchst war. Besser verlassen konnte er sich auf seine Kaiserslauterer Spieler, von denen fünf im Kader und auch in der Stammelf standen. Ihr Kapitän Fritz Walter war auch der Herbergers, der Lauterer Block somit automatisch ein Machtfaktor und die interne Hierarchie geklärt. Von den 22 Männern, die den Zug nach Basel stiegen, wussten mindestens neun, dass sie nur Statisten sein würden, zumal Auswechseln verboten war. Aufgebäumt hat sich keiner. „Herberger war ein großartiger Psychologe, der es mit Genialität verstand, 22 Spieler unter einen Hut zu bringen“, lobte der Fürther Karl Mai später das Klima.

Sie bezogen Quartier am Thuner See im idyllischen Örtchen Spiez. Um diese ruhige Unterkunft wurden die Deutschen beneidet, die Wahl war natürlich kein Zufall. Im Auftrag von Herberger war der neunmalige Nationalspieler Albert Sing im Frühjahr auf Quartiersuche gegangen. Als Trainer von Young Boys Bern kannte er den Hotelier des Belvedere und überredete ihn, die Deutschen aufzunehmen, was nicht leicht war. Sein Haus hatte holländische Stammgäste und wegen des noch keineswegs überall verwundenen Krieges befürchtete er Komplikationen. Sing setzte aber Herbergers Willen durch und so kam Spiez zu seinem heute schon mythischen Geist.

Zimmerbelegung mit Bedacht

Die Zimmerbelegung folgte mit Bedacht. Herberger legte nach Möglichkeit immer zwei Spieler eines Mannschaftsteils zusammen, so „dass sie sich bis in die letzten Träume hinein noch fachlich unterhalten können“, wie Fritz Walter später süffisant berichtete. Er selbst bekam mit dem positiv verrückten Essener Rechtsaußen Helmut Rahn in Zimmer 303 einen Partner, der vom Naturell her das krasse Gegenteil war. Spaßvogel Rahn sollte Walter aufbauen, der nach der 1:5-Niederlage der Lauterer im Meisterschaftsfinale gegen Hannover frustriert angereist war.

So folgte alles einem Plan. „Der Chef“ regierte mit sanfter Strenge. In Zimmer 313 am Ende des Ganges schien er alles mitzubekommen, was auf der Etage vor sich ging. Als sich die Lauterer Ottmar Walter und Werner Liebrich eines Abends zu später Stunde im Zimmer noch eine Flasche Bier gönnen wollten, schaute Herberger herein noch ehe sie einen Schluck genommen hatten. Er wünschte nur freundlich „Lasst’s euch schmecken, Männer“. „Das kann doch nicht wahr sein“, seufzte Ottmar Walter. Auch dass die Spieler im geheimen Abkommen mit dem Barkeeper ihr Feierabendbier aus Milchgläsern tranken, durchschaute er bald. „Na Männer, trinkt ihr wieder euer’ Milch?“, sagte Herberger dann und lächelte wissend. So hat es Eckel erzählt.

Es war, wie der „Spiegel“ schrieb, eine sanfte Tyrannei und sie führte zum wohl größten Erfolg des deutschen Fußballs.

Gesetzte und Ungesetzte

Damit war auch aufgrund des eigentümlichen Modus nicht zu rechnen. Die 16 Mannschaften kamen zwar in Vierer-Gruppen, doch wurden diese noch mal unterteilt – in Gesetzte und Ungesetzte. So durften die vermeintlich Starken nur gegen die vermeintlich Schwachen spielen. Deutschland wurde nebst Punktelieferant Südkorea nicht gesetzt und musste nur gegen Ungarn und die Türkei spielen. Ein Sieg im Auftaktspiel war daher nötig und er gelang. Wer das 4:1 sehen wollte, musste nach Bern kommen. Das gerade erst in Mode kommende Fernsehen übertrug nicht, das Radio nur die zweite Halbzeit. Am nächsten Morgen kamen 500 deutsche Fans zum Training und feierten die Helden und holten sich Autogramme, „soweit es der Dienstplan gestattet“, wie Herberger vermeldete.

Vor dem nächsten Spiel in Basel gegen die Ungarn, die Südkorea mit 9:0 verputzten, schonte Herberger fünf Stammspieler und riskierte eine hohe Niederlage. Ihm ging es nur um das sich anbahnende Entscheidungsspiel gegen die Türken, doch 20.000 Deutsche unter den 65.000 sahen das anders. Sie wollten einen fairen Kampf mit der Übermannschaft sehen. Die Partie war das einzige Vorrundenspiel, das schon vor der WM ausverkauft gewesen war – und ausgerechnet da spielte Deutschland nur mit halber Kraft? Am Ende stand die bis heute höchste deutsche WM-Niederlage, ein unerhörtes 3:8. Herberger sagte vor der Presse: „Ich kann mir denken, dass nun Vorwürfe kommen. Was aber hätte man gesagt, wenn die beste deutsche Mannschaft verloren hätte? So werden wir alles tun, unsere Chance aufs Viertelfinale zu nutzen.“

Das geplante Wunder

Seinen Plan mit der B-Elf hatte er dem DFB-Vorstand übrigens schon im April schriftlich mitgeteilt. Das geplante Wunder!

Die empörte Öffentlichkeit wusste das nicht. Der Briefträger brachte nun tagelang etwas andere Fan-Post nach Spiez: Herberger wurde zum Rücktritt aufgefordert oder gleich dazu, sich aufzuhängen.

Nur der Kicker hatte Verständnis für das Täuschungsmanöver und die „Freistunde“ der Stammformation: „Noch einmal: als Deutscher musste man froh sein, dass sie geschont wurde und zusehen durfte!“ Nun also wieder gegen die Türken, die nach ihrem 7:0- Schützenfest gegen Südkorea punktgleich waren – das Torverhältnis spielte keine Rolle. Psychologe Herberger verlas in der Kabine einige der bittersten Briefe aus der Heimat, um die Solidarität der Spieler mit ihrem Chef zu verstärken. Die Türken hatten trotz des 1:4 eine Woche zuvor ihre Gelassenheit bewahrt und ließen sogar einen deutschen Reporter mit der Reserve trainieren. Sie stellten ihn ins Tor – Hochmut kommt eben vor dem Fall und diesmal war er besonders tief.

Drei Treffer von Morlock

In Zürich gewann Deutschland A unter den Augen von Schauspieler Hans Albers mit 7:2 und Max Morlock brachte sich mit drei Toren selbst ganz wesentlich um seinen Italien-Urlaub. Denn nun ging es ja weiter – gegen die Jugoslawen in Genf.

Im Viertelfinale standen auch fast alle Favoriten: Brasilien, Ungarn, Uruguay, Österreich und England. Nur Italien strauchelte und verlor sein Entscheidungsspiel gegen die Gastgeber mit 1:4, weshalb die Squadra azzura zuhause nicht mal ignoriert wurde. Bei der Ankunft der Italiener am 24. Juni am Mailänder Bahnhof war kein Mensch erschienen. „Das ist noch bitterer als ausgepfiffen zu werden“, kommentierte die Teamleitung frustriert.

Gravierende Leistungsunterschiede

Die Vorrunde hatte gravierende Leistungsunterschiede offenbart und stellte so manche Teilnahme in Frage. Hatte Asien wirklich nichts Besseres zu bieten als diese Südkoreaner, die mit 0:16 Toren in zwei Spielen abgespeist wurden? Der Züricher „Sport“ befand, die Koreaner könnten „von jeder schweizerischen Nationalliga-B-Mannschaft geschlagen“ werden. Und wer hätte gedacht, dass die Schotten gegen Uruguay 0:7 untergehen würden? Auch die Tschechen enttäuschten (0:5 gegen Österreich, 0:2 gegen Uruguay), und Mexiko (0:5 gegen Brasilien und 2:3 gegen Frankreich) war überfordert. Im Vergleich zu den Turnieren 1950 und 1938 war das Teilnehmerfeld 1954 wesentlich unausgeglichener und es waren vermehrt regelrechte Klassenunterschiede zu registrieren.

Immerhin sahen die Zuschauer deshalb bei der bis heute torreichsten WM aller Zeiten im Schnitt 5,38 Treffer und kein einziges 0:0. Und wenn schon Unentschieden, die es laut Modus nur nach 120 Minuten gab, dann nicht ohne Nervenkitzel – England mit dem 40-jährigen Stan Matthews und Belgien trennten sich nach Verlängerung 4:4. „Vom Start weg wirkten die Engländer geradezu lächerlich“, richtete der Kicker hart über die von den Ungarn 1953 entthronte Weltmacht des Fußballs.

"Die Revue ist vorbei"

Im Viertelfinale war dann auch Schluss für Matthews & Co, Weltmeister Uruguay besiegte sie mit 4:2. Genauso endete das Spiel zwischen Ungarn und Brasilien, das auch noch einige Treffer im Kabinengang verzeichnete. Die Brasilianer haderten nach zwei Platzverweisen mit Schiedsrichter und Gegner, so dass sich Puskas mit einem Flaschenhieb auf den Kopf von Pinheiro Respekt verschaffte. Der Stadionsprecher trug wenig zur Deeskalation bei als er durchsagte: „Polizei und Heerespolizei sofort in die Umkleideräume!“ Das sorgte für noch mehr Tumult, Zuschauer stürmten ins Innere, weshalb die nächste Durchsage kam: „Gehen Sie doch nach Hause, die Revue ist vorbei, es gibt nichts mehr zu sehen.“

Bern hatte 1954 nicht nur ein Wunder, sondern auch sein Skandalspiel. Aber das Viertelfinale der Gastgeber in Lausanne stellte alles in den Schatten. Schweiz gegen Österreich war nichts für schwache Nerven, es endete 5:7! Diese zwölf Tore bedeuten WM-Rekord. Dabei verspielten die Schweizer eine 3:0-Führung und kassierten binnen neun Minuten fünf Tore, auch das ist bis heute einmalig in der WM-Historie. Beide Torhüter hatten nicht ihren besten Tag, wie sich erahnen lässt, aber auch gute Ausreden. Der Schweizer Parlier war vor der Pause stark von der Sonne geblendet, sein Gegenüber Schmied erlitt sogar einen Sonnenstich und bekam wenig mit vom Spiel. „Geheimnisvolle Impulse regierten sein Handeln“, schrieb ein Journalist seines Landes.

"Es war eines der schönsten Spiele"

WM-Organisator Ernst Thommen sagte trotz des Ausscheidens seines Landes: „Es war eines der schönsten Spiele, das ich jemals sah.“ Vom Spiel der Deutschen gegen die Jugoslawen in Genf sagte das niemand, es war das einzige mit einem „normalen“ Ergebnis (2:0) und Toni Turek der einzige Torhüter, der im Viertelfinale zu Null spielte. Vor dieser Partie fasste Herberger erstmals Vertrauen zu Helmut Rahn, den er Schalkes Berni Klodt auf Rechtsaußen vorzog. Es war ein Glücksgriff, denn Rahns Tor zum 2:0 entschied die Zitter-Partie. Das 1:0 war ein Eigentor-Geschenk des späteren Schalker Trainers Ivica Horvath nach zehn Minuten, dem eine einstündige Belagerung des deutschen Tores folgte

Allgemein wurde der deutsche Sieg als glücklich bezeichnet, was die Anhänger nicht davon abhielt, die Helden vom Platz zu tragen.

Noch in der Nacht wurden die Halbfinal-Lose gezogen und von vorbeifahrenden Fans erfuhren die Deutschen an einer Ampel, dass sie nun auf Österreich träfen – in Basel. An diesem 30. Juni wurden die Helden von Bern geboren, erstmals überhaupt spielte die kommende Weltmeister-Elf. Verteidiger Jupp Posipal war nach seinem freiwilligen Verzicht gegen Jugoslawien wieder im Team, für den Hamburger Fritz Laband. 57.418 Zuschauer sollten an diesem Tag die vielleicht beste Vorstellung einer deutschen Mannschaft bei einer WM sehen.

Sie waren kein Favorit, aber sie glaubten an sich. Bezeichnend, dass sich Werner Kohlmeyer noch zehn Minuten vor dem Anpfiff in aller Ruhe zu rasieren begann.

Schraubstollen - die deutsche Spezialität

Bis zur Pause war es noch ein normales Spiel, Kölns Hans Schäfer hatte das einzige Tor erzielt. Dann wechselten die Deutschen die Stollen – ein Tribut an den regennassen, tiefen Rasen. Schraubstollen kannte die Welt eigentlich noch nicht, sie waren eine deutsche Spezialität und ihr Ass im Ärmel bei diesem Turnier.

Nach dem Wechsel regnete es Tore, die meisten für die in Grün antretenden Deutschen. Nur gut, dass der Stadionsprecher extra daraufhin gewiesen hatte, dass sie heute nicht in Weiß spielten. Max Morlock erhöhte auf 2:0, und nach dem Gegentor von Probst schlug die große halbe Stunde der Walter-Brüder. Fritz verwandelte zwei Elfmeter, jeweils angestachelt von Ottmar („Was isch, haste Mumm?“), der wiederum zwei Kopfballtore nach Ecken des Bruders machte. Das sagenhafte 6:1 war auch in der Höhe verdient, Peco Bauwens jubilierte: „Das ist der größte Tag in der Geschichte des DFB“, dessen Präsident er war.

Ungarn wartet im Finale

Im Finale warteten wieder die Ungarn, der scheinbar übermächtige Vorrundengegner hatte auch Titelverteidiger Uruguay eliminiert. Erstmals mussten die Magyaren jedoch in die Verlängerung, in der der WM-Torschützenkönig Sandor Kocsis mit zwei Treffern alles klar machte (4:2). Ohne Puskas, der sich beim 8:3 gegen Deutschland verletzt hatte, lief es eben nicht so rund. Dennoch schraubten sie ihre Serie auf 32 Spiele ohne Niederlage, 28 davon waren Siege – bei 144:33 Toren. Dass sie das Finale gewinnen würden, stand für die Heimat außer Frage. Eine Sonderbriefmarke für die kommenden Weltmeister war bereits gedruckt, und hinter dem Budapester Nep-Stadion wurden die Sockel für 17 überlebensgroße Denkmäler errichtet. Sie stehen noch heute da als Mahnmal für sträflichen Leichtsinn. Eine ungarische Zeitung hatte eine Weltmeister-Seite vorproduziert: fünfzehn Porträts der Ungarn, je sechs Zentimeter hoch, darunter die der Deutschen, nur halb so groß.

Aber alle hatten sie ihre Rechnung ohne Sepp Herberger gemacht, der sein Wunder nun konsequent zu Ende plante. Er schickte Albert Sing ins Hotel der Ungarn nach Solothurn. „Er schrieb alles auf, was wir aßen, wann wir tafelten, wann und wie wir trainierten, wann wir zu Bett gingen, ob allein oder nicht, und was wir abends tranken“, berichtete Gyula Lorant später. Sogar eine Filmrolle vom 6:3 der Ungarn 1953 in Wembley wurde organisiert, damals ein echtes Kunststück, und den Spielern vorgeführt. Am Spieltag inspizierte Herberger schon morgens den Rasen und ließ sich sogar von einem kleinen Autounfall nicht davon abbringen: Er nahm einen anderen Wagen und fuhr schon Stunden vor dem Anpfiff ins Wankdorf-Stadion. Außerdem setzte er buchstäblich auf die Wetter-Karte und hoffte auf Regen, auf Fritz-Walter-Wetter. Für den anderen Fall hatte er bereits ernsthaft erwogen, den Rasen sprengen zu lassen. Doch nach seinem Anruf bei der Wetterwarte, die „Dauerregen im Gebiet Südbaden und der Schweiz“ verhieß, nahm er davon Abstand. Als der große Tag des Finales kam, kam auch der Regen, wenngleich mit Verzögerung. Morgens um neun klopfte Werner Liebrich noch aufrichtig besorgt an Zimmertür 303 im Hotel Belvedere und stellte im Pfälzer Idiom fest: „Na Friedrich, was meensche jetzt? Gucke mol, de Planet, wie er sticht.“

"Das Wetter wird schon nach Wunsch"

Sein Kapitän antwortete: „Kleiner, es ist ja noch früh. Das Wetter wird schon nach Wunsch.“ Er sollte recht bekommen. Als Erster merkte es Max Morlock, beim Mittagessen. Die kommenden Weltmeister saßen gerade über ihren Brathähnchen, wie vor allen Spielen, als der Nürnberger ausrief: „Friedrich, es regnet!“

So wurde es von Fritz Walter in seinem Buch „3:2“ festgehalten, wir müssen es also glauben. Er stürzte sofort auf die Veranda und genoss das Schauspiel. „Jetzt ist alles klar, nichts kann mehr schiefgehen.“

Danach sah es zunächst nicht aus, trotz Dauerregens lag Deutschland schon nach acht Minuten mit 0:2 zurück, Puskas und Czibor hatten leichtes Spiel bei ihren Treffern. Aber die Deutschen machten sich Mut, noch ein Debakel wollten sie ihren Anhängern unter den 62.471 Zuschauern nicht zumuten.

"Fritz, nur weiter"

Max Morlock rief: „Das macht nix, das schaffen wir noch.“ Und der kleine Bruder munterte den großen auf. Ottmar: „Fritz, nur weiter.“ Es ging weiter – und wie. Morlock rutschte in einen verzogenen Rahn-Schuss und verkürzte auf 1:2 (10.). Und nach einer Ecke von Fritz Walter stellte Rahn den Gleichstand her (18.) – die Masse war elektrisiert, das WM-Finale wurde spannender als gedacht.

In der Halbzeit brodelte es in der deutschen Kabine: Liebrich schimpfte mit den Stürmern, Posipal mit Rahn, Turek mit Kohlmeyer. Herberger brachte sie zum Schweigen: „Jetzt ist aber Ruhe, wir können hier Weltmeister werden, und ihr kriegt euch in die Haare. Jetzt rede ich. Kämpft. Einer für alle, alle für einen. Das war und ist unser Motto. So, und nun raus auf den Platz, ihr wisst, worum es geht!“, heißt es in der Herberger-Biographie von Jürgen Leinemann.

Bei den Ungarn hatte der Spielverlauf Spuren hinterlassen. Trainer Sebes gab knappe Anweisungen und Lorant pfiff vor lauter Verlegenheit eine Filmmelodie – „Der dritte Mann“ – vor sich hin, ehe ihn Boszik barsch zum Schweigen brachte. „Hör' auf damit.“

"Wir gewinnen das Spiel 3:2"

Als es wieder raus ging, prophezeite DFB-Arzt Logen Fritz Walter: „Machen Sie sich keinen Kummer, Fritz, wir gewinnen das Spiel 3:2.“ Er sollte Recht bekommen, weil Toni Turek, wie in der Rundfunk-Reportage von Herbert Zimmermann beschrieben, zum „Fußball-Gott“ avancierte und Helmut Rahn in der 84. Minute aus dem Hintergrund schoss. Mit dem Abpfiff von Schiedsrichter Ling war das Wunder Wirklichkeit und Deutschland erstmals Weltmeister. Es war viel mehr als nur ein sportlicher Erfolg für die Menschen im Nachkriegs-Deutschland. Neuzeitliche Historiker bezeichnen das Wunder von Bern als „die eigentliche Gründung der Bundesrepublik“.

In jedem Fall darf der Triumph von Bern als erstes freudiges Gemeinschaftserlebnis für die Deutschen nach dem Krieg gelten – übrigens auch in der DDR.

Das Schlagwort jener Tage hieß: „Wir sind wieder wer.“ Innenminister Gerhard Schröder sagte den Spielern: „Ihr Sieg in Bern hat uns ein echtes und reines Gemeinschaftsgefühl geschenkt; es hätte in der gegenwärtigen Zeit kaum aus einem schöneren Anlass geschehen können.“

1000 D-Mark Prämie und 200 DM pro Einsatz

Entsprechend war der Empfang. Überall wo der Sonder-Zug am Montag, den 5. Juli, durchkam, waren die Bahnsteige voller Menschen. Am 6. Juli strömten rund eine Million Münchner zusammen, als die Spieler in elf offenen Mercedes-Wagen zum Löwenbräu-Keller gebracht wurden. Bundespräsident Theodor Heuss verlieh den Weltmeistern, die vom DFB 1000 D-Mark Prämie und 200 DM pro Einsatz erhielten, am 18. Juli in Berlin den Silbernen Lorbeer – und noch 1977 sagte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß über den Finalsieg: „Millionen Deutschen hat er das Gefühl gegeben, im Kreis der Nationen wieder anerkannt zu sein.“ Auch das war ein Wunder.

Fakt ist: Keine Fußball-WM hatte in Deutschland größeren Nachhall in allen Bevölkerungsschichten, auch in kultureller Hinsicht. Noch heute wird bei Regen vom Fritz-Walter-Wetter gesprochen, und auf zahlreichen deutschen Sportplätzen wird nach Toren Herbert Zimmermanns Jubel nach dem 3:2 eingespielt. Seine Schilderung des Finales ist längst Kulturgut. Das Wunder von Bern wurde 2003 sogar verfilmt, und im Jubiläumsjahr 2004 erschienen allein in Deutschland 19 Bücher rund um die WM 1954. Und die Ungarn? Blieben noch zwei Jahre ungeschlagen und verloren zwischen 1950 und 1956 von 50 Spielen nur eines – am 4. Juli 1954 in Bern.

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Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnier-Historie.

Teil 5: Die WM 1954 in der Schweiz

Die Weltmeisterschaft 1954 war für die FIFA ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Turnier. Nie fielen mehr Tore, der Veranstalter machte ein sattes Plus von 2,75 Millionen Franken, und schon im Vorfeld zeichnete sich ab, dass die fünfte Ausspielung des Weltpokals unter erfreulicheren Vorzeichen stehen würde als die der Vorläufer. Erstmals musste der Weltverband nicht auf Betteltour gehen, um Teilnehmer in die Schweiz zu locken, vielmehr konnte er den Spieß sogar umdrehen und Absagen erteilen. Sieben Verbände, darunter der der Niederlande, wurden wegen zu später Anmeldung ausgeschlossen. Nun verblieben immer noch 38 Nationen, die um die 14 vakanten Plätze kämpfen durften, der Gastgeber und der Titelverteidiger (Uruguay) waren traditionsgemäß kampflos qualifiziert.

Die Schweizer bereiteten sich übrigens länger als jeder andere Gastgeber auf ihr Turnier vor, den Zuschlag erhielten sie schon 1946 – ursprünglich aber für das Jahr 1951, doch wurde der Turnus noch geändert. 1954 hätte die WM eigentlich in Schweden stattfinden sollen, und so hätte es für Deutschland vielleicht ein Wunder von Stockholm statt des Wunders von Bern gegeben. Ganz glatt lief aber auch diese Qualifikation nicht: Argentinien verzichtete wieder mal, und insgesamt traten nur vier Nicht-Europäer die Reise in die Schweiz an, wo ab dem 16. Juni erneut eine verkappte Europameisterschaft stattfand. Kurios dabei: Ohne gegen einen Ball getreten zu haben, nahmen die Ungarn an der WM teil. Qualifikationsgegner Polen zog angesichts der Aussichtslosigkeit zurück, was man sogar verstehen konnte. Seit 14. Mai 1950 war die Elf um Major Ferenc Puskas von Sieg zu Sieg geeilt, 1952 holte sie Olympia-Gold und im November 1953 stürmte sie mit einem furiosen 6:3 als erste kontinentale Mannschaft überhaupt die britische Fußball-Festung Wembley.

Ungarn als Wett-Favorit

Die Ungarn waren bei den Buchmachern der Weltmeister-Tipp schlechthin (Quote: 3,5:2), auch wenn sie gar nicht von dieser Welt zu sein schienen. Ausgerechnet diese Wunder-Mannschaft, die im Schnitt 4,3 Tore schoss, wurde den Deutschen, die sich gegen das damals eigenständige Saarland und Norwegen ungeschlagen qualifiziert hatten, zugelost.

Die Herberger-Elf war nur 9:1-Favorit, also krasser Außenseiter. Der Nürnberger Max Morlock hatte schon einen Italien-Urlaub gebucht, der mit dem Viertelfinale begonnen hätte. Als das deutsche Team am 11. Juni in grünen DFB-Anzügen in Karlsruhe den Zug nach Basel bestieg, sprach auch niemand vom WM-Titel. Die Zöllner an der Schweizer Grenze fragten die Reisegesellschaft beinahe mitleidig: „Was wollt denn ihr in der Schweiz? Ihr habt doch nicht etwa vor, die Ungarn, Brasilianer oder Urus zu schlagen?“ Und als der Kicker am 14. Juni erschien, titelte er: „Hoffen wir auf ein Wunder!“. Es „entspräche aller nüchternen Papierform-Vernunft, wenn die deutsche Mannschaft in acht Tagen aus Spiez besiegt abreisen“ würde, schrieb das Fachmagazin. Doch bekanntlich kam es anders – die deutschen Gäste blieben bis zuletzt auf der Fußball-Party im schönen Nachbarland. Das vielbesungene Wunder von Bern, es war vor allem ein geplantes Wunder – entstanden im schlauen Kopf von Bundestrainer Sepp Herberger.

10 Mark Tagesgeld

Und das mit 22 Amateuren, denn eine Bundesliga gab es noch nicht, Profispieler daher ebenso wenig. Die WM-Teilnahme bedeutete für etliche Spieler vor allem Verdienstausfall, sie mussten teilweise unbezahlten Urlaub nehmen, 10 Mark Tagesgeld waren ein schwaches Trostpflaster. Zusatzeinnahmen gab es nicht: Keiner hatte einen Werbevertrag, geschweige denn eine Schallplatte besungen. Der Star-Kult um Fußballer war noch nicht erfunden und nur über Kapitän Fritz Walter war schon eine Biographie erschienen. International war diese Mannschaft mit im Schnitt 6,7 Länderspielen ein unbeschriebenes Blatt.

„Der Chef“, wie Herberger im Team genannt wurde, suchte sich seine Kandidaten aus den vier Regionalligen zusammen und fuhr mit seinem Opel Olympia unermüdlich an den Wochenenden durch die Lande. Anders konnte er ihre Form nicht überprüfen, bewegte Fußballbilder gab es nur im Kino – kleine Ausschnitte im Rahmen der Wochenschau.

Minigolf und Wanderungen

Im Mai zog er die Spieler erstmals zusammen, doch ohne Ball und Hütchen. Im Schwarzwald sollten sie entspannen und sich besser kennenlernen, bei Minigolf und Wanderungen mit Versteckspielen. In München-Grünwald brachte Herberger sie konditionell auf die Höhe, bis zu dreieinhalb Stunden am Tag wurde trainiert. „Dieser Lehrgang schuf die Grundvoraussetzung für unsere sehr gute Verfassung in der Schweiz, wo wir die konditionsstärkste Mannschaft waren“, beteuert Weltmeister Horst Eckel. Herberger reduzierte den Kader dort von 30 auf 22 Spieler. Dabei demonstrierte er Härte und suspendierte den Sodinger Gerhard Harpers, der nachts ausgebüchst war. Besser verlassen konnte er sich auf seine Kaiserslauterer Spieler, von denen fünf im Kader und auch in der Stammelf standen. Ihr Kapitän Fritz Walter war auch der Herbergers, der Lauterer Block somit automatisch ein Machtfaktor und die interne Hierarchie geklärt. Von den 22 Männern, die den Zug nach Basel stiegen, wussten mindestens neun, dass sie nur Statisten sein würden, zumal Auswechseln verboten war. Aufgebäumt hat sich keiner. „Herberger war ein großartiger Psychologe, der es mit Genialität verstand, 22 Spieler unter einen Hut zu bringen“, lobte der Fürther Karl Mai später das Klima.

Sie bezogen Quartier am Thuner See im idyllischen Örtchen Spiez. Um diese ruhige Unterkunft wurden die Deutschen beneidet, die Wahl war natürlich kein Zufall. Im Auftrag von Herberger war der neunmalige Nationalspieler Albert Sing im Frühjahr auf Quartiersuche gegangen. Als Trainer von Young Boys Bern kannte er den Hotelier des Belvedere und überredete ihn, die Deutschen aufzunehmen, was nicht leicht war. Sein Haus hatte holländische Stammgäste und wegen des noch keineswegs überall verwundenen Krieges befürchtete er Komplikationen. Sing setzte aber Herbergers Willen durch und so kam Spiez zu seinem heute schon mythischen Geist.

Zimmerbelegung mit Bedacht

Die Zimmerbelegung folgte mit Bedacht. Herberger legte nach Möglichkeit immer zwei Spieler eines Mannschaftsteils zusammen, so „dass sie sich bis in die letzten Träume hinein noch fachlich unterhalten können“, wie Fritz Walter später süffisant berichtete. Er selbst bekam mit dem positiv verrückten Essener Rechtsaußen Helmut Rahn in Zimmer 303 einen Partner, der vom Naturell her das krasse Gegenteil war. Spaßvogel Rahn sollte Walter aufbauen, der nach der 1:5-Niederlage der Lauterer im Meisterschaftsfinale gegen Hannover frustriert angereist war.

So folgte alles einem Plan. „Der Chef“ regierte mit sanfter Strenge. In Zimmer 313 am Ende des Ganges schien er alles mitzubekommen, was auf der Etage vor sich ging. Als sich die Lauterer Ottmar Walter und Werner Liebrich eines Abends zu später Stunde im Zimmer noch eine Flasche Bier gönnen wollten, schaute Herberger herein noch ehe sie einen Schluck genommen hatten. Er wünschte nur freundlich „Lasst’s euch schmecken, Männer“. „Das kann doch nicht wahr sein“, seufzte Ottmar Walter. Auch dass die Spieler im geheimen Abkommen mit dem Barkeeper ihr Feierabendbier aus Milchgläsern tranken, durchschaute er bald. „Na Männer, trinkt ihr wieder euer’ Milch?“, sagte Herberger dann und lächelte wissend. So hat es Eckel erzählt.

Es war, wie der „Spiegel“ schrieb, eine sanfte Tyrannei und sie führte zum wohl größten Erfolg des deutschen Fußballs.

Gesetzte und Ungesetzte

Damit war auch aufgrund des eigentümlichen Modus nicht zu rechnen. Die 16 Mannschaften kamen zwar in Vierer-Gruppen, doch wurden diese noch mal unterteilt – in Gesetzte und Ungesetzte. So durften die vermeintlich Starken nur gegen die vermeintlich Schwachen spielen. Deutschland wurde nebst Punktelieferant Südkorea nicht gesetzt und musste nur gegen Ungarn und die Türkei spielen. Ein Sieg im Auftaktspiel war daher nötig und er gelang. Wer das 4:1 sehen wollte, musste nach Bern kommen. Das gerade erst in Mode kommende Fernsehen übertrug nicht, das Radio nur die zweite Halbzeit. Am nächsten Morgen kamen 500 deutsche Fans zum Training und feierten die Helden und holten sich Autogramme, „soweit es der Dienstplan gestattet“, wie Herberger vermeldete.

Vor dem nächsten Spiel in Basel gegen die Ungarn, die Südkorea mit 9:0 verputzten, schonte Herberger fünf Stammspieler und riskierte eine hohe Niederlage. Ihm ging es nur um das sich anbahnende Entscheidungsspiel gegen die Türken, doch 20.000 Deutsche unter den 65.000 sahen das anders. Sie wollten einen fairen Kampf mit der Übermannschaft sehen. Die Partie war das einzige Vorrundenspiel, das schon vor der WM ausverkauft gewesen war – und ausgerechnet da spielte Deutschland nur mit halber Kraft? Am Ende stand die bis heute höchste deutsche WM-Niederlage, ein unerhörtes 3:8. Herberger sagte vor der Presse: „Ich kann mir denken, dass nun Vorwürfe kommen. Was aber hätte man gesagt, wenn die beste deutsche Mannschaft verloren hätte? So werden wir alles tun, unsere Chance aufs Viertelfinale zu nutzen.“

Das geplante Wunder

Seinen Plan mit der B-Elf hatte er dem DFB-Vorstand übrigens schon im April schriftlich mitgeteilt. Das geplante Wunder!

Die empörte Öffentlichkeit wusste das nicht. Der Briefträger brachte nun tagelang etwas andere Fan-Post nach Spiez: Herberger wurde zum Rücktritt aufgefordert oder gleich dazu, sich aufzuhängen.

Nur der Kicker hatte Verständnis für das Täuschungsmanöver und die „Freistunde“ der Stammformation: „Noch einmal: als Deutscher musste man froh sein, dass sie geschont wurde und zusehen durfte!“ Nun also wieder gegen die Türken, die nach ihrem 7:0- Schützenfest gegen Südkorea punktgleich waren – das Torverhältnis spielte keine Rolle. Psychologe Herberger verlas in der Kabine einige der bittersten Briefe aus der Heimat, um die Solidarität der Spieler mit ihrem Chef zu verstärken. Die Türken hatten trotz des 1:4 eine Woche zuvor ihre Gelassenheit bewahrt und ließen sogar einen deutschen Reporter mit der Reserve trainieren. Sie stellten ihn ins Tor – Hochmut kommt eben vor dem Fall und diesmal war er besonders tief.

Drei Treffer von Morlock

In Zürich gewann Deutschland A unter den Augen von Schauspieler Hans Albers mit 7:2 und Max Morlock brachte sich mit drei Toren selbst ganz wesentlich um seinen Italien-Urlaub. Denn nun ging es ja weiter – gegen die Jugoslawen in Genf.

Im Viertelfinale standen auch fast alle Favoriten: Brasilien, Ungarn, Uruguay, Österreich und England. Nur Italien strauchelte und verlor sein Entscheidungsspiel gegen die Gastgeber mit 1:4, weshalb die Squadra azzura zuhause nicht mal ignoriert wurde. Bei der Ankunft der Italiener am 24. Juni am Mailänder Bahnhof war kein Mensch erschienen. „Das ist noch bitterer als ausgepfiffen zu werden“, kommentierte die Teamleitung frustriert.

Gravierende Leistungsunterschiede

Die Vorrunde hatte gravierende Leistungsunterschiede offenbart und stellte so manche Teilnahme in Frage. Hatte Asien wirklich nichts Besseres zu bieten als diese Südkoreaner, die mit 0:16 Toren in zwei Spielen abgespeist wurden? Der Züricher „Sport“ befand, die Koreaner könnten „von jeder schweizerischen Nationalliga-B-Mannschaft geschlagen“ werden. Und wer hätte gedacht, dass die Schotten gegen Uruguay 0:7 untergehen würden? Auch die Tschechen enttäuschten (0:5 gegen Österreich, 0:2 gegen Uruguay), und Mexiko (0:5 gegen Brasilien und 2:3 gegen Frankreich) war überfordert. Im Vergleich zu den Turnieren 1950 und 1938 war das Teilnehmerfeld 1954 wesentlich unausgeglichener und es waren vermehrt regelrechte Klassenunterschiede zu registrieren.

Immerhin sahen die Zuschauer deshalb bei der bis heute torreichsten WM aller Zeiten im Schnitt 5,38 Treffer und kein einziges 0:0. Und wenn schon Unentschieden, die es laut Modus nur nach 120 Minuten gab, dann nicht ohne Nervenkitzel – England mit dem 40-jährigen Stan Matthews und Belgien trennten sich nach Verlängerung 4:4. „Vom Start weg wirkten die Engländer geradezu lächerlich“, richtete der Kicker hart über die von den Ungarn 1953 entthronte Weltmacht des Fußballs.

"Die Revue ist vorbei"

Im Viertelfinale war dann auch Schluss für Matthews & Co, Weltmeister Uruguay besiegte sie mit 4:2. Genauso endete das Spiel zwischen Ungarn und Brasilien, das auch noch einige Treffer im Kabinengang verzeichnete. Die Brasilianer haderten nach zwei Platzverweisen mit Schiedsrichter und Gegner, so dass sich Puskas mit einem Flaschenhieb auf den Kopf von Pinheiro Respekt verschaffte. Der Stadionsprecher trug wenig zur Deeskalation bei als er durchsagte: „Polizei und Heerespolizei sofort in die Umkleideräume!“ Das sorgte für noch mehr Tumult, Zuschauer stürmten ins Innere, weshalb die nächste Durchsage kam: „Gehen Sie doch nach Hause, die Revue ist vorbei, es gibt nichts mehr zu sehen.“

Bern hatte 1954 nicht nur ein Wunder, sondern auch sein Skandalspiel. Aber das Viertelfinale der Gastgeber in Lausanne stellte alles in den Schatten. Schweiz gegen Österreich war nichts für schwache Nerven, es endete 5:7! Diese zwölf Tore bedeuten WM-Rekord. Dabei verspielten die Schweizer eine 3:0-Führung und kassierten binnen neun Minuten fünf Tore, auch das ist bis heute einmalig in der WM-Historie. Beide Torhüter hatten nicht ihren besten Tag, wie sich erahnen lässt, aber auch gute Ausreden. Der Schweizer Parlier war vor der Pause stark von der Sonne geblendet, sein Gegenüber Schmied erlitt sogar einen Sonnenstich und bekam wenig mit vom Spiel. „Geheimnisvolle Impulse regierten sein Handeln“, schrieb ein Journalist seines Landes.

"Es war eines der schönsten Spiele"

WM-Organisator Ernst Thommen sagte trotz des Ausscheidens seines Landes: „Es war eines der schönsten Spiele, das ich jemals sah.“ Vom Spiel der Deutschen gegen die Jugoslawen in Genf sagte das niemand, es war das einzige mit einem „normalen“ Ergebnis (2:0) und Toni Turek der einzige Torhüter, der im Viertelfinale zu Null spielte. Vor dieser Partie fasste Herberger erstmals Vertrauen zu Helmut Rahn, den er Schalkes Berni Klodt auf Rechtsaußen vorzog. Es war ein Glücksgriff, denn Rahns Tor zum 2:0 entschied die Zitter-Partie. Das 1:0 war ein Eigentor-Geschenk des späteren Schalker Trainers Ivica Horvath nach zehn Minuten, dem eine einstündige Belagerung des deutschen Tores folgte

Allgemein wurde der deutsche Sieg als glücklich bezeichnet, was die Anhänger nicht davon abhielt, die Helden vom Platz zu tragen.

Noch in der Nacht wurden die Halbfinal-Lose gezogen und von vorbeifahrenden Fans erfuhren die Deutschen an einer Ampel, dass sie nun auf Österreich träfen – in Basel. An diesem 30. Juni wurden die Helden von Bern geboren, erstmals überhaupt spielte die kommende Weltmeister-Elf. Verteidiger Jupp Posipal war nach seinem freiwilligen Verzicht gegen Jugoslawien wieder im Team, für den Hamburger Fritz Laband. 57.418 Zuschauer sollten an diesem Tag die vielleicht beste Vorstellung einer deutschen Mannschaft bei einer WM sehen.

Sie waren kein Favorit, aber sie glaubten an sich. Bezeichnend, dass sich Werner Kohlmeyer noch zehn Minuten vor dem Anpfiff in aller Ruhe zu rasieren begann.

Schraubstollen - die deutsche Spezialität

Bis zur Pause war es noch ein normales Spiel, Kölns Hans Schäfer hatte das einzige Tor erzielt. Dann wechselten die Deutschen die Stollen – ein Tribut an den regennassen, tiefen Rasen. Schraubstollen kannte die Welt eigentlich noch nicht, sie waren eine deutsche Spezialität und ihr Ass im Ärmel bei diesem Turnier.

Nach dem Wechsel regnete es Tore, die meisten für die in Grün antretenden Deutschen. Nur gut, dass der Stadionsprecher extra daraufhin gewiesen hatte, dass sie heute nicht in Weiß spielten. Max Morlock erhöhte auf 2:0, und nach dem Gegentor von Probst schlug die große halbe Stunde der Walter-Brüder. Fritz verwandelte zwei Elfmeter, jeweils angestachelt von Ottmar („Was isch, haste Mumm?“), der wiederum zwei Kopfballtore nach Ecken des Bruders machte. Das sagenhafte 6:1 war auch in der Höhe verdient, Peco Bauwens jubilierte: „Das ist der größte Tag in der Geschichte des DFB“, dessen Präsident er war.

Ungarn wartet im Finale

Im Finale warteten wieder die Ungarn, der scheinbar übermächtige Vorrundengegner hatte auch Titelverteidiger Uruguay eliminiert. Erstmals mussten die Magyaren jedoch in die Verlängerung, in der der WM-Torschützenkönig Sandor Kocsis mit zwei Treffern alles klar machte (4:2). Ohne Puskas, der sich beim 8:3 gegen Deutschland verletzt hatte, lief es eben nicht so rund. Dennoch schraubten sie ihre Serie auf 32 Spiele ohne Niederlage, 28 davon waren Siege – bei 144:33 Toren. Dass sie das Finale gewinnen würden, stand für die Heimat außer Frage. Eine Sonderbriefmarke für die kommenden Weltmeister war bereits gedruckt, und hinter dem Budapester Nep-Stadion wurden die Sockel für 17 überlebensgroße Denkmäler errichtet. Sie stehen noch heute da als Mahnmal für sträflichen Leichtsinn. Eine ungarische Zeitung hatte eine Weltmeister-Seite vorproduziert: fünfzehn Porträts der Ungarn, je sechs Zentimeter hoch, darunter die der Deutschen, nur halb so groß.

Aber alle hatten sie ihre Rechnung ohne Sepp Herberger gemacht, der sein Wunder nun konsequent zu Ende plante. Er schickte Albert Sing ins Hotel der Ungarn nach Solothurn. „Er schrieb alles auf, was wir aßen, wann wir tafelten, wann und wie wir trainierten, wann wir zu Bett gingen, ob allein oder nicht, und was wir abends tranken“, berichtete Gyula Lorant später. Sogar eine Filmrolle vom 6:3 der Ungarn 1953 in Wembley wurde organisiert, damals ein echtes Kunststück, und den Spielern vorgeführt. Am Spieltag inspizierte Herberger schon morgens den Rasen und ließ sich sogar von einem kleinen Autounfall nicht davon abbringen: Er nahm einen anderen Wagen und fuhr schon Stunden vor dem Anpfiff ins Wankdorf-Stadion. Außerdem setzte er buchstäblich auf die Wetter-Karte und hoffte auf Regen, auf Fritz-Walter-Wetter. Für den anderen Fall hatte er bereits ernsthaft erwogen, den Rasen sprengen zu lassen. Doch nach seinem Anruf bei der Wetterwarte, die „Dauerregen im Gebiet Südbaden und der Schweiz“ verhieß, nahm er davon Abstand. Als der große Tag des Finales kam, kam auch der Regen, wenngleich mit Verzögerung. Morgens um neun klopfte Werner Liebrich noch aufrichtig besorgt an Zimmertür 303 im Hotel Belvedere und stellte im Pfälzer Idiom fest: „Na Friedrich, was meensche jetzt? Gucke mol, de Planet, wie er sticht.“

"Das Wetter wird schon nach Wunsch"

Sein Kapitän antwortete: „Kleiner, es ist ja noch früh. Das Wetter wird schon nach Wunsch.“ Er sollte recht bekommen. Als Erster merkte es Max Morlock, beim Mittagessen. Die kommenden Weltmeister saßen gerade über ihren Brathähnchen, wie vor allen Spielen, als der Nürnberger ausrief: „Friedrich, es regnet!“

So wurde es von Fritz Walter in seinem Buch „3:2“ festgehalten, wir müssen es also glauben. Er stürzte sofort auf die Veranda und genoss das Schauspiel. „Jetzt ist alles klar, nichts kann mehr schiefgehen.“

Danach sah es zunächst nicht aus, trotz Dauerregens lag Deutschland schon nach acht Minuten mit 0:2 zurück, Puskas und Czibor hatten leichtes Spiel bei ihren Treffern. Aber die Deutschen machten sich Mut, noch ein Debakel wollten sie ihren Anhängern unter den 62.471 Zuschauern nicht zumuten.

"Fritz, nur weiter"

Max Morlock rief: „Das macht nix, das schaffen wir noch.“ Und der kleine Bruder munterte den großen auf. Ottmar: „Fritz, nur weiter.“ Es ging weiter – und wie. Morlock rutschte in einen verzogenen Rahn-Schuss und verkürzte auf 1:2 (10.). Und nach einer Ecke von Fritz Walter stellte Rahn den Gleichstand her (18.) – die Masse war elektrisiert, das WM-Finale wurde spannender als gedacht.

In der Halbzeit brodelte es in der deutschen Kabine: Liebrich schimpfte mit den Stürmern, Posipal mit Rahn, Turek mit Kohlmeyer. Herberger brachte sie zum Schweigen: „Jetzt ist aber Ruhe, wir können hier Weltmeister werden, und ihr kriegt euch in die Haare. Jetzt rede ich. Kämpft. Einer für alle, alle für einen. Das war und ist unser Motto. So, und nun raus auf den Platz, ihr wisst, worum es geht!“, heißt es in der Herberger-Biographie von Jürgen Leinemann.

Bei den Ungarn hatte der Spielverlauf Spuren hinterlassen. Trainer Sebes gab knappe Anweisungen und Lorant pfiff vor lauter Verlegenheit eine Filmmelodie – „Der dritte Mann“ – vor sich hin, ehe ihn Boszik barsch zum Schweigen brachte. „Hör' auf damit.“

"Wir gewinnen das Spiel 3:2"

Als es wieder raus ging, prophezeite DFB-Arzt Logen Fritz Walter: „Machen Sie sich keinen Kummer, Fritz, wir gewinnen das Spiel 3:2.“ Er sollte Recht bekommen, weil Toni Turek, wie in der Rundfunk-Reportage von Herbert Zimmermann beschrieben, zum „Fußball-Gott“ avancierte und Helmut Rahn in der 84. Minute aus dem Hintergrund schoss. Mit dem Abpfiff von Schiedsrichter Ling war das Wunder Wirklichkeit und Deutschland erstmals Weltmeister. Es war viel mehr als nur ein sportlicher Erfolg für die Menschen im Nachkriegs-Deutschland. Neuzeitliche Historiker bezeichnen das Wunder von Bern als „die eigentliche Gründung der Bundesrepublik“.

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In jedem Fall darf der Triumph von Bern als erstes freudiges Gemeinschaftserlebnis für die Deutschen nach dem Krieg gelten – übrigens auch in der DDR.

Das Schlagwort jener Tage hieß: „Wir sind wieder wer.“ Innenminister Gerhard Schröder sagte den Spielern: „Ihr Sieg in Bern hat uns ein echtes und reines Gemeinschaftsgefühl geschenkt; es hätte in der gegenwärtigen Zeit kaum aus einem schöneren Anlass geschehen können.“

1000 D-Mark Prämie und 200 DM pro Einsatz

Entsprechend war der Empfang. Überall wo der Sonder-Zug am Montag, den 5. Juli, durchkam, waren die Bahnsteige voller Menschen. Am 6. Juli strömten rund eine Million Münchner zusammen, als die Spieler in elf offenen Mercedes-Wagen zum Löwenbräu-Keller gebracht wurden. Bundespräsident Theodor Heuss verlieh den Weltmeistern, die vom DFB 1000 D-Mark Prämie und 200 DM pro Einsatz erhielten, am 18. Juli in Berlin den Silbernen Lorbeer – und noch 1977 sagte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß über den Finalsieg: „Millionen Deutschen hat er das Gefühl gegeben, im Kreis der Nationen wieder anerkannt zu sein.“ Auch das war ein Wunder.

Fakt ist: Keine Fußball-WM hatte in Deutschland größeren Nachhall in allen Bevölkerungsschichten, auch in kultureller Hinsicht. Noch heute wird bei Regen vom Fritz-Walter-Wetter gesprochen, und auf zahlreichen deutschen Sportplätzen wird nach Toren Herbert Zimmermanns Jubel nach dem 3:2 eingespielt. Seine Schilderung des Finales ist längst Kulturgut. Das Wunder von Bern wurde 2003 sogar verfilmt, und im Jubiläumsjahr 2004 erschienen allein in Deutschland 19 Bücher rund um die WM 1954. Und die Ungarn? Blieben noch zwei Jahre ungeschlagen und verloren zwischen 1950 und 1956 von 50 Spielen nur eines – am 4. Juli 1954 in Bern.