WM-Halbfinale 2002: Ballack tragischer Held

Achtmal erreichte eine deutsche Nationalmannschaft ein WM-Finale. Nie war es überraschender als heute vor 20 Jahren, als die DFB-Auswahl wieder mal einen Turniergastgeber schlug. Im Zentrum des Halbfinalsieges über Südkorea stand dabei ein tragischer Held - Michael Ballack. Der Leverkusener schoss seine Mannschaft ins Finale, an dem er dann aber nicht teilnehmen durfte, weil er sich für sie geopfert hatte.

Die deutsche Mannschaft hatte sich erst über Playoff-Spiele gegen die Ukraine für die WM in Japan und Südkorea qualifiziert und gehörte ausnahmsweise nicht zu den Favoriten. Sie beschränkte sich 2002 vorwiegend auf ihre altbekannten Tugenden Kampf, Disziplin und Teamgeist, gemixt mit einer starken Moral. Das führte selten zu begeisternden Spielen, nährte aber den Ruf der Turniermannschaft. Ungeschlagen überstand sie die Vorrunde, die K.o.-Spiele gegen Paraguay und die USA gewann sie jeweils mit 1:0. Nach fünf Spielen hatte Oliver Kahn erst ein Tor kassiert. Die Heimat war positiv überrascht, das Ausland weniger.

Im deutschen Lager war man etwas verstimmt über die weltweiten Kritiken, die den Siegeszug des Überraschungsteams begleiteten. Die Kreation einer dänischen Zeitung lautete: "Das war Schützengrabenfußball" – was immer das sein soll. Dass selbst Franz Beckenbauer fand, "außer Olli Kahn kannst Du alle in einen Sack stecken und drauf hauen, Du wirst immer einen treffen" (der es verdient habe), fanden die Spieler auch nicht sonderlich lustig. Auf die Schlagzeile der Bild-Zeitung nach dem USA-Sieg - "Ins Halbfinale gerumpelt" - entgegnete Mittelfeldspieler Christian Ziege trotzig: "Vielleicht errumpeln wir uns ja den WM-Titel."

Südkorea als erste asiatische Mannschaft im WM-Halbfinale

Vor dem Spiel gegen den Mitgastgeber waren die Deutschen jedenfalls kein Favorit, was ihnen durchaus behagte. Weniger freilich die Tatsache, dass die Südkoreaner bei ihrer Heim-WM offenbar bei den Schiedsrichtern einen Stein im Brett hatten. Die Siege gegen Italien und Spanien waren auch Produkt gravierender Fehlentscheidungen, die Sperren der Schiedsrichter nach sich zogen. Die Südkoreaner hatten als erste asiatische Mannschaft ein WM-Halbfinale erreicht und - falls die Reise bis ins Finale führen sollte - den Montag darauf schon vorsorglich zum Nationalfeiertag erklären lassen.

Ihr Erfolg war das Werk des Niederländers Guus Hiddink, dem Trainer. Er verordnete seinen Schützlingen, was in der Fußball-Lehrer-Ausbildung seiner Heimat Dogma ist: Offensive! Rudi Völlers Assistent Michael Skibbe beobachtete sie und stellte dementsprechend fest: "Die Koreaner kennen nur eine Richtung - nach vorne."

Ballack: "Wir werden das ganze Stadion gegen uns haben"

Das galt für die Deutschen wahrlich nicht. Der Kicker fragte überspitzt: "Kann ein Mann Weltmeister werden?" Darunter stand ein Foto von Oliver Kahn, dem Rückhalt der Abwehr, der insbesondere die USA mit seinen Paraden entnervt hatte. Völler stellte wieder auf Viererkette um und holte Carsten Ramelow nach zwei Spielen Pause zurück, Sebastian Kehl musste weichen. Im Mittelfeld löste Marco Bode auf der linken Seite erneut Christian Ziege ab. Die Bild am Sonntag warnte angesichts der zu erwartenden Stimmung: "In Seoul wartet auf uns die Hölle." Michael Ballack, der Siegtorschütze gegen die USA, freute sich höllisch drauf: "Wir werden das ganze Stadion gegen uns haben. Das wird wunderbar."

Bis auf ein Häuflein Deutscher (rund 750) in ihren weißen Trikots schillert das 63.961 Zuschauer fassende Stadion an jenem Dienstag komplett in Rot und die regelrecht dressierten Zuschauer singen unaufhörlich ihren Schlachtruf "Dae – han – min – guk" (heißt: Republik Korea), danach klatschen sie sechs Mal und singen weiter. Schon Stunden vor dem Spiel. Die ARD (22,58 Millionen Zuschauer) und Premiere übertragen das Spiel in die Heimat, zur schon gewohnten Mittagszeit (13.30 Uhr), vor Ort ist es 20.30 Uhr. Das Thermometer zeigt 23 Grad. Vor den Hymnen schreitet FIFA-Präsident Sepp Blatter die Reihen ab, die Kapitäne stellen die Spieler einzeln vor. Ein Privileg für Halbfinalteilnehmer.

Stürmer Oliver Neuville ist erleichtert, seine Verwarnung aus dem USA-Spiel wird von der FIFA zurück genommen und auf Jens Jeremies übertragen, man hat sie verwechselt. Somit gehen nur zwei Deutsche vorbelastet ins Spiel: Bernd Schneider und Michael Ballack, was noch von Bedeutung werden wird. Die Gastgeber überraschen mit einem neuen Sturm, für den angeschlagenen Jung-Hwan Ahn, der Italien aus dem Turnier geschossen hat, spielt erstmals der Sohn von Bum-kun Cha, Du-Ri von Beginn an – wie sein berühmter Vater hat er bei Eintracht Frankfurt gespielt.

Kahn wieder spektakulär

Urs Meier (Schweiz) pfeift an, und schon taucht Libero Carsten Ramelow im gegnerischen Strafraum auf und wagt einen Linksschuss. Es ist ein Signal: Heute verstecken wir uns nicht. Nach acht Minuten muss Kahn wieder sein ganzes Können zeigen, da fischt er einen Schuss von Chun-Soo Lee aus dem Eck. Spektakulär! Das Publikum wechselt das Unterhaltungsprogramm und stimmt plötzlich Beethovens Hymne an die Freude an, nicht nur ARD-Kommentator Heribert Faßbender findet das "ungewöhnlich für ein Fußballstadion". Ein zu kurzer Rückpass eines Verteidigers ermöglicht die erste deutsche Chance, Neuville schießt aus 17 Metern volley, Woon Jae Lee hält sicher.

Das Spiel ist völlig offen, wie auch die kurz vor der Pause eingeblendete Ballbesitzstatistik (51:49 für Deutschland; in Prozent) beweist. Heute spricht niemand von Rumpelfußball, es geht rauf und runter, nur der letzte Pass kommt auf beiden Seiten zu selten an, die Abwehrreihen arbeiten konzentriert. Nach einer halben Stunde bekommt Deutschland die erste Ecke des Spiels, zur Pause führt es in dieser Disziplin 4:1. Die vierte Ecke stiftet Verwirrung in Südkoreas Abwehr, der Ball kommt zu Bode, der drei Meter vor dem Tor zu überrascht ist, um ihn zu verwerten. So geht es torlos in die Kabinen. Die Schlussphase hat den couragierten Deutschen gehört, viel zugelassen haben sie auch nicht - das macht Hoffnung aufs Finale.

Gelb für Ballack - und das Finalaus

In der Pause kündigt Co-Trainer Michael Skibbe auf Premiere die Auswechslung Kloses wegen einer Rippenprellung an. Vorerst geht das intensive Spiel aber in unveränderter Besetzung weiter – wenn auch nicht lange. Zehn Minuten nach der Pause hat Hiddink schon zweimal gewechselt, nun ist auch Volksheld Jung-Hwan Ahn, der Italien aus dem Turnier geschossen hat, im Spiel. Das ohnehin enthemmte Publikum rast. Deutschland zeigt sich unbeeindruckt, hat durch Neuville die erste Torchance des zweiten Abschnitts. Dann kommt Klose endlich zu einem seiner Kopfbälle, bekommt aber nicht genug Druck dahinter, Lee fängt. Nach 70 Minuten steht es nach Torschüssen 11:2 für Deutschland, wann belohnen sie sich?

Völler tauscht einen Stürmer, für Klose kommt Oliver Bierhoff. Eine Minute später ereignet sich eine Schlüsselszene der Partie. Michael Ballack stoppt einen koreanischen Konter mit einem taktischen Foul an Chun Soo Lee, knapp vor dem Strafraum. War es nötig? Das fragt sich nicht nur Heribert Faßbender: "Mein Gott, warum macht er das?" Schiedsrichter Urs Meier hat keine Wahl und zückt Gelb. In diesem Moment steht der erste Nichtteilnehmer am Finale fest: Michael Ballack, der unverzichtbare Antreiber, der 2002 auf dem Höhepunkt seines Leistungsvermögens steht.

Nach der Verwarnung im Achtelfinale ist es seine zweite im Turnier, sie zieht eine Sperre nach sich - für das Finale. Heute ist diese Regelung abgeschafft, für Ballack kommt das zu spät. Er wird nach dem Spiel sagen: "Die Koreaner kamen in Überzahl - ich musste sie stoppen. Im Fußball gibt es einfach Situationen, in denen du nichts anderes machen kannst. Es war mein allererstes Foul, und der Schiri zeigt mir sofort Gelb. Ich bin unendlich traurig."

Ballack erlöst Deutschland

Das Leben geht weiter, das Spiel auch. Südkoreas Chong Gug Song schießt aus 22 Metern drauf, Kahn ist dankbar für diese Bewährungschance und schnappt sich den Ball. Es folgt der Gegenzug über die rechte Seite. Dort setzt sich der eifrige Neuville durch und flankt von der Grundlinie flach in den Strafraum. Dort steht Bierhoff frei, aber der ist zu weit nach vorne gelaufen. Er will trotzdem zum Ball gehen, doch dann "hörte ich plötzlich Michael Ballack laut rufen. Ich habe den Ball durchgelassen und war mir sicher, dass er ihn rein macht."

Und so kommt es. Der Mann, der seit drei Minuten weiß, dass er nicht am Finale teilnehmen wird, will es wenigstens seinen Kameraden ermöglichen. Seinen Rechtsschuss pariert Lee noch, doch den Abpraller nicht mehr. "Ballack - für Tore ist er immer gut. Und wenn es nicht mit rechts geht, geht's mit links", stellt Faßbender erfreut fest. 1:0 für Deutschland. Es ist ein Gänsehautmoment, nicht nur für Deutsche. Die Dramaturgie des Augenblicks erfassen auch andere Beobachter. Eine englische Zeitung schreibt: "Er müsste zusammen sinken und weinen. Und was macht der verdammte Kerl? Er steht auf und schießt das entscheidende Tor."

Schon wieder einen WM-Gastgeber ausgeschaltet

Noch 15 Minuten. Das Publikum steckt den Schock schnell weg und singt weiter sein "Republik Korea". Deutschland lässt nicht locker, Bodes Freistoß fordert Lee alles ab - Ecke. Die Minuten verrinnen und sind weniger von Höhepunkten denn von riesiger Spannung geprägt. Neuville sieht "Schwalben-Gelb", eine fragwürdige Entscheidung. Völler bringt für ihn Gerald Asamaoh - auch um an der Uhr zu drehen. Vier Minuten Nachspielzeit werden angezeigt, Südkorea wirft alles nach vorne. Eine Chance bekommen sie noch: Als sie sich ausnahmsweise bis in den deutschen Strafraum durchkombinieren können, kommt Ji Song Park zum Schuss. Da wirft sich ihm Thomas Linke vor die Füße, und der Koreaner verzieht überhastet. Kahn schlägt noch einmal ab. Als der Ball noch in der Luft ist, erfolgt der Schlusspfiff. Der dritte 1:0-Sieg in Folge ist der schönste und wichtigste.

Es ist auch der vierte Sieg im sechsten Spiel gegen einen WM-Gastgeber, Deutschland steht im WM-Finale - das ist diesmal eine Sensation. Rudi Völler rennt auf den Platz und fällt jedem um den Hals. "Leute zuhause, nun freut euch mal", ruft Faßbender in sein Mikrofon. Als wenn das nötig gewesen wäre. Im ganzen Land, in dem sich Millionen vor Großbildleinwänden versammelt haben, brechen an diesem Dienstagnachmittag ab 15.22 Uhr spontane Feste aus, Autokorsos, Feuerwerke - das ganze Programm.

Nun warten sie auf ihren Gegner, der am nächsten Tag ermittelt wird. Brasilien oder die Türkei. Die Mannschaft aber fühlt mit ihrem tragischen Helden Michael Ballack, der in der Kabine bittere Tränen vergießt. Noch auf dem Platz sagt Kapitän Oliver Kahn den Reportern: "Man muss vor ihm den Hut ziehen, denn er hat ein Foul gemacht, das er für die Mannschaft und für das Weiterkommen machen musste. Ein typisches Beispiel für die Charaktere in der Mannschaft."

Aufstellung: Kahn – Frings, Ramelow, Linke, Metzelder  – Hamann, Schneider (85. Jeremies), Ballack, Bode – Klose (70. Bierhoff), Neuville (88. Asamoah).

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Achtmal erreichte eine deutsche Nationalmannschaft ein WM-Finale. Nie war es überraschender als heute vor 20 Jahren, als die DFB-Auswahl wieder mal einen Turniergastgeber schlug. Im Zentrum des Halbfinalsieges über Südkorea stand dabei ein tragischer Held - Michael Ballack. Der Leverkusener schoss seine Mannschaft ins Finale, an dem er dann aber nicht teilnehmen durfte, weil er sich für sie geopfert hatte.

Die deutsche Mannschaft hatte sich erst über Playoff-Spiele gegen die Ukraine für die WM in Japan und Südkorea qualifiziert und gehörte ausnahmsweise nicht zu den Favoriten. Sie beschränkte sich 2002 vorwiegend auf ihre altbekannten Tugenden Kampf, Disziplin und Teamgeist, gemixt mit einer starken Moral. Das führte selten zu begeisternden Spielen, nährte aber den Ruf der Turniermannschaft. Ungeschlagen überstand sie die Vorrunde, die K.o.-Spiele gegen Paraguay und die USA gewann sie jeweils mit 1:0. Nach fünf Spielen hatte Oliver Kahn erst ein Tor kassiert. Die Heimat war positiv überrascht, das Ausland weniger.

Im deutschen Lager war man etwas verstimmt über die weltweiten Kritiken, die den Siegeszug des Überraschungsteams begleiteten. Die Kreation einer dänischen Zeitung lautete: "Das war Schützengrabenfußball" – was immer das sein soll. Dass selbst Franz Beckenbauer fand, "außer Olli Kahn kannst Du alle in einen Sack stecken und drauf hauen, Du wirst immer einen treffen" (der es verdient habe), fanden die Spieler auch nicht sonderlich lustig. Auf die Schlagzeile der Bild-Zeitung nach dem USA-Sieg - "Ins Halbfinale gerumpelt" - entgegnete Mittelfeldspieler Christian Ziege trotzig: "Vielleicht errumpeln wir uns ja den WM-Titel."

Südkorea als erste asiatische Mannschaft im WM-Halbfinale

Vor dem Spiel gegen den Mitgastgeber waren die Deutschen jedenfalls kein Favorit, was ihnen durchaus behagte. Weniger freilich die Tatsache, dass die Südkoreaner bei ihrer Heim-WM offenbar bei den Schiedsrichtern einen Stein im Brett hatten. Die Siege gegen Italien und Spanien waren auch Produkt gravierender Fehlentscheidungen, die Sperren der Schiedsrichter nach sich zogen. Die Südkoreaner hatten als erste asiatische Mannschaft ein WM-Halbfinale erreicht und - falls die Reise bis ins Finale führen sollte - den Montag darauf schon vorsorglich zum Nationalfeiertag erklären lassen.

Ihr Erfolg war das Werk des Niederländers Guus Hiddink, dem Trainer. Er verordnete seinen Schützlingen, was in der Fußball-Lehrer-Ausbildung seiner Heimat Dogma ist: Offensive! Rudi Völlers Assistent Michael Skibbe beobachtete sie und stellte dementsprechend fest: "Die Koreaner kennen nur eine Richtung - nach vorne."

Ballack: "Wir werden das ganze Stadion gegen uns haben"

Das galt für die Deutschen wahrlich nicht. Der Kicker fragte überspitzt: "Kann ein Mann Weltmeister werden?" Darunter stand ein Foto von Oliver Kahn, dem Rückhalt der Abwehr, der insbesondere die USA mit seinen Paraden entnervt hatte. Völler stellte wieder auf Viererkette um und holte Carsten Ramelow nach zwei Spielen Pause zurück, Sebastian Kehl musste weichen. Im Mittelfeld löste Marco Bode auf der linken Seite erneut Christian Ziege ab. Die Bild am Sonntag warnte angesichts der zu erwartenden Stimmung: "In Seoul wartet auf uns die Hölle." Michael Ballack, der Siegtorschütze gegen die USA, freute sich höllisch drauf: "Wir werden das ganze Stadion gegen uns haben. Das wird wunderbar."

Bis auf ein Häuflein Deutscher (rund 750) in ihren weißen Trikots schillert das 63.961 Zuschauer fassende Stadion an jenem Dienstag komplett in Rot und die regelrecht dressierten Zuschauer singen unaufhörlich ihren Schlachtruf "Dae – han – min – guk" (heißt: Republik Korea), danach klatschen sie sechs Mal und singen weiter. Schon Stunden vor dem Spiel. Die ARD (22,58 Millionen Zuschauer) und Premiere übertragen das Spiel in die Heimat, zur schon gewohnten Mittagszeit (13.30 Uhr), vor Ort ist es 20.30 Uhr. Das Thermometer zeigt 23 Grad. Vor den Hymnen schreitet FIFA-Präsident Sepp Blatter die Reihen ab, die Kapitäne stellen die Spieler einzeln vor. Ein Privileg für Halbfinalteilnehmer.

Stürmer Oliver Neuville ist erleichtert, seine Verwarnung aus dem USA-Spiel wird von der FIFA zurück genommen und auf Jens Jeremies übertragen, man hat sie verwechselt. Somit gehen nur zwei Deutsche vorbelastet ins Spiel: Bernd Schneider und Michael Ballack, was noch von Bedeutung werden wird. Die Gastgeber überraschen mit einem neuen Sturm, für den angeschlagenen Jung-Hwan Ahn, der Italien aus dem Turnier geschossen hat, spielt erstmals der Sohn von Bum-kun Cha, Du-Ri von Beginn an – wie sein berühmter Vater hat er bei Eintracht Frankfurt gespielt.

Kahn wieder spektakulär

Urs Meier (Schweiz) pfeift an, und schon taucht Libero Carsten Ramelow im gegnerischen Strafraum auf und wagt einen Linksschuss. Es ist ein Signal: Heute verstecken wir uns nicht. Nach acht Minuten muss Kahn wieder sein ganzes Können zeigen, da fischt er einen Schuss von Chun-Soo Lee aus dem Eck. Spektakulär! Das Publikum wechselt das Unterhaltungsprogramm und stimmt plötzlich Beethovens Hymne an die Freude an, nicht nur ARD-Kommentator Heribert Faßbender findet das "ungewöhnlich für ein Fußballstadion". Ein zu kurzer Rückpass eines Verteidigers ermöglicht die erste deutsche Chance, Neuville schießt aus 17 Metern volley, Woon Jae Lee hält sicher.

Das Spiel ist völlig offen, wie auch die kurz vor der Pause eingeblendete Ballbesitzstatistik (51:49 für Deutschland; in Prozent) beweist. Heute spricht niemand von Rumpelfußball, es geht rauf und runter, nur der letzte Pass kommt auf beiden Seiten zu selten an, die Abwehrreihen arbeiten konzentriert. Nach einer halben Stunde bekommt Deutschland die erste Ecke des Spiels, zur Pause führt es in dieser Disziplin 4:1. Die vierte Ecke stiftet Verwirrung in Südkoreas Abwehr, der Ball kommt zu Bode, der drei Meter vor dem Tor zu überrascht ist, um ihn zu verwerten. So geht es torlos in die Kabinen. Die Schlussphase hat den couragierten Deutschen gehört, viel zugelassen haben sie auch nicht - das macht Hoffnung aufs Finale.

Gelb für Ballack - und das Finalaus

In der Pause kündigt Co-Trainer Michael Skibbe auf Premiere die Auswechslung Kloses wegen einer Rippenprellung an. Vorerst geht das intensive Spiel aber in unveränderter Besetzung weiter – wenn auch nicht lange. Zehn Minuten nach der Pause hat Hiddink schon zweimal gewechselt, nun ist auch Volksheld Jung-Hwan Ahn, der Italien aus dem Turnier geschossen hat, im Spiel. Das ohnehin enthemmte Publikum rast. Deutschland zeigt sich unbeeindruckt, hat durch Neuville die erste Torchance des zweiten Abschnitts. Dann kommt Klose endlich zu einem seiner Kopfbälle, bekommt aber nicht genug Druck dahinter, Lee fängt. Nach 70 Minuten steht es nach Torschüssen 11:2 für Deutschland, wann belohnen sie sich?

Völler tauscht einen Stürmer, für Klose kommt Oliver Bierhoff. Eine Minute später ereignet sich eine Schlüsselszene der Partie. Michael Ballack stoppt einen koreanischen Konter mit einem taktischen Foul an Chun Soo Lee, knapp vor dem Strafraum. War es nötig? Das fragt sich nicht nur Heribert Faßbender: "Mein Gott, warum macht er das?" Schiedsrichter Urs Meier hat keine Wahl und zückt Gelb. In diesem Moment steht der erste Nichtteilnehmer am Finale fest: Michael Ballack, der unverzichtbare Antreiber, der 2002 auf dem Höhepunkt seines Leistungsvermögens steht.

Nach der Verwarnung im Achtelfinale ist es seine zweite im Turnier, sie zieht eine Sperre nach sich - für das Finale. Heute ist diese Regelung abgeschafft, für Ballack kommt das zu spät. Er wird nach dem Spiel sagen: "Die Koreaner kamen in Überzahl - ich musste sie stoppen. Im Fußball gibt es einfach Situationen, in denen du nichts anderes machen kannst. Es war mein allererstes Foul, und der Schiri zeigt mir sofort Gelb. Ich bin unendlich traurig."

Ballack erlöst Deutschland

Das Leben geht weiter, das Spiel auch. Südkoreas Chong Gug Song schießt aus 22 Metern drauf, Kahn ist dankbar für diese Bewährungschance und schnappt sich den Ball. Es folgt der Gegenzug über die rechte Seite. Dort setzt sich der eifrige Neuville durch und flankt von der Grundlinie flach in den Strafraum. Dort steht Bierhoff frei, aber der ist zu weit nach vorne gelaufen. Er will trotzdem zum Ball gehen, doch dann "hörte ich plötzlich Michael Ballack laut rufen. Ich habe den Ball durchgelassen und war mir sicher, dass er ihn rein macht."

Und so kommt es. Der Mann, der seit drei Minuten weiß, dass er nicht am Finale teilnehmen wird, will es wenigstens seinen Kameraden ermöglichen. Seinen Rechtsschuss pariert Lee noch, doch den Abpraller nicht mehr. "Ballack - für Tore ist er immer gut. Und wenn es nicht mit rechts geht, geht's mit links", stellt Faßbender erfreut fest. 1:0 für Deutschland. Es ist ein Gänsehautmoment, nicht nur für Deutsche. Die Dramaturgie des Augenblicks erfassen auch andere Beobachter. Eine englische Zeitung schreibt: "Er müsste zusammen sinken und weinen. Und was macht der verdammte Kerl? Er steht auf und schießt das entscheidende Tor."

Schon wieder einen WM-Gastgeber ausgeschaltet

Noch 15 Minuten. Das Publikum steckt den Schock schnell weg und singt weiter sein "Republik Korea". Deutschland lässt nicht locker, Bodes Freistoß fordert Lee alles ab - Ecke. Die Minuten verrinnen und sind weniger von Höhepunkten denn von riesiger Spannung geprägt. Neuville sieht "Schwalben-Gelb", eine fragwürdige Entscheidung. Völler bringt für ihn Gerald Asamaoh - auch um an der Uhr zu drehen. Vier Minuten Nachspielzeit werden angezeigt, Südkorea wirft alles nach vorne. Eine Chance bekommen sie noch: Als sie sich ausnahmsweise bis in den deutschen Strafraum durchkombinieren können, kommt Ji Song Park zum Schuss. Da wirft sich ihm Thomas Linke vor die Füße, und der Koreaner verzieht überhastet. Kahn schlägt noch einmal ab. Als der Ball noch in der Luft ist, erfolgt der Schlusspfiff. Der dritte 1:0-Sieg in Folge ist der schönste und wichtigste.

Es ist auch der vierte Sieg im sechsten Spiel gegen einen WM-Gastgeber, Deutschland steht im WM-Finale - das ist diesmal eine Sensation. Rudi Völler rennt auf den Platz und fällt jedem um den Hals. "Leute zuhause, nun freut euch mal", ruft Faßbender in sein Mikrofon. Als wenn das nötig gewesen wäre. Im ganzen Land, in dem sich Millionen vor Großbildleinwänden versammelt haben, brechen an diesem Dienstagnachmittag ab 15.22 Uhr spontane Feste aus, Autokorsos, Feuerwerke - das ganze Programm.

Nun warten sie auf ihren Gegner, der am nächsten Tag ermittelt wird. Brasilien oder die Türkei. Die Mannschaft aber fühlt mit ihrem tragischen Helden Michael Ballack, der in der Kabine bittere Tränen vergießt. Noch auf dem Platz sagt Kapitän Oliver Kahn den Reportern: "Man muss vor ihm den Hut ziehen, denn er hat ein Foul gemacht, das er für die Mannschaft und für das Weiterkommen machen musste. Ein typisches Beispiel für die Charaktere in der Mannschaft."

Aufstellung: Kahn – Frings, Ramelow, Linke, Metzelder  – Hamann, Schneider (85. Jeremies), Ballack, Bode – Klose (70. Bierhoff), Neuville (88. Asamoah).

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