WM-Finale 2002: Kahns Tragik

Auf seine berühmteste Szene in einem langen Torwartleben wird Oliver Kahn, der Vorstandsvorsitzende der FC Bayern München AG, "so gut wie gar nicht mehr angesprochen." Das wird ihm recht sein, denn sie markiert einen Tiefpunkt, keineswegs jedoch eine Blamage. Heute vor 20 Jahren kauerte er nach dem verlorenen WM-Finale gegen Brasilien in Yokohama (Japan) minutenlang am Torpfosten, weil sein erster Fehler im Turnier die Niederlage einleitete.

Doch niemand wagte, ihn zu kritisieren, zu gut war seine Leistung in den Spielen zuvor gewesen. "Kann ein Mann Weltmeister werden?", hatte der kicker überspitzt nach dem 1:0 im Viertelfinale gegen die USA gefragt, als Kahn wieder einmal den Sieg gerettet hatte. Dreimal in Folge gewannen die Deutschen ihre K.o-.Spiele mit 1:0, nur in der Vorrunde gab es mal ein Gegentor – beim 1:1 gegen Irland. Es waren die Tage des "Titans", um den sich eine kämpferisch von Spiel zu Spiel steigernde Elf scharte, die dem Ruf der Turniermannschaft gerecht wurde. Am 30. Juni 2002 wollte sie das Maximum. 

Zum siebten Mal stand Deutschland im WM-Finale, Gegner Brasilien zum sechsten Mal. Es war das Treffen der Teams mit den meisten WM-Teilnahmen. Umso erstaunlicher, dass sie sich bei der 17. WM zum ersten Mal begegneten. Dazu kam es trotz der Meldung eines südkoreanischen Senders am Tag nach dem Halbfinale, die Deutschen seien disqualifiziert worden – Thorsten Frings und Miroslav Klose seien gedopt gewesen. Richtig daran war nur, dass die Genannten zur Dopingkontrolle mussten. Die FIFA stellte den Sachverhalt, den andere Medien gierig aufnahmen, richtig. So endete der Aufenthalt in Südkorea mit einer kleinen Aufregung.

"Heute sind wir alle Olli!"

Für das große Finale kehrte der DFB-Tross nach Japan zurück, wo die WM für ihn begonnen hatte. Vor dem Hotel in Yokohama warteten 3000 Japaner und kreischten euphorisch. Torwarttrainer Sepp Maier, der 1966 erstmals bei einer WM war, staunte: "So was habe ich noch nie erlebt." Während sich in Deutschland die Frage vor allem darum drehte, wer den gesperrten Michael Ballack ersetzen durfte, interessierte sich die Weltpresse für das Torjägerduell zwischen dem seit drei Spielen nicht mehr treffenden Miroslav Klose (fünf Turniertore) und dem künftigen Stürmerstar von Real Madrid, Ronaldo (sechs Tore). Der tönte bereits: "Ich treffe in jedem Spiel und hole mir die Torjägerkrone."

Die meisten deutschen Spieler waren froh, dass sie auf Brasilien und nicht auf die Türkei, im Halbfinale 0:1 unterlegen, trafen. Oliver Kahn sagte: "Ich spiele gern gegen Brasilien. Gegen die Türkei hätten wir viel mehr unter Druck gestanden. Ich habe schon viele Finals gespielt und weiß, dass auch da wieder sehr viel möglich sein wird." Abwehrchef Carsten Ramelow verwies auf die seit sechs Stunden nicht überwundene Abwehr: "Es wird schwer für Brasilien, uns zu schlagen. Wir haben erst ein Gegentor kassiert." Damit hatten die Deutschen den Weltrekord der Niederlande von 1974 eingestellt, alle anderen Finalisten hatten während des Turniers mehr Treffer kassiert. Die Bild am Sonntag titelte im Vertrauen auf den Kapitän: "Heute sind wir alle Olli!"

Auch Brasilien steuerte auf Rekordkurs, hatte alle sechs Spiele in der regulären Spielzeit gewonnen, sieben wären ein Novum. Rekordweltmeister waren sie schon und auch deshalb der Favorit. Trainer Felipe Scolari aber warnte: "Deutschland hat eine starke, traditionsreiche Mannschaft. Sie verdient allen Respekt." In diese Mannschaft rückte nun zum zweiten Mal bei dieser WM Jens Jeremies, was für eine vorsichtigere Ausrichtung sprach als im Halbfinale gegen Südkorea. Oliver Neuville und Marco Bode, zum Turnierstart noch Reservisten, blieben im Team. Für den 32 Jahre alten Bremer Bode ein spezielles Geschenk, er beendete seine Karriere auf dem Höhepunkt. "Ich kann mir kein schöneres Ende meiner Karriere wünschen. Mit dem WM-Titel abzutreten, das wäre mein Traum." Der Finaltraum von Michael Ballack war indes geplatzt. Teamchef Rudi Völler gab die Parole aus: "Wir wollen für Michael Weltmeister werden", indem "jeder das Spiel seines Lebens macht". Gesagt im Hotel Sheraton Bay and Tower zu Yokohama, wo es am Vortag des Finals zuging wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Printjournalisten aus aller Welt belagerten das Foyer auf der Jagd nach letzten Informationen. Völler standen alle Mann zur Verfügung, Klose (Rippenprellung) bestand den Härtetest. Den Brasilianern war der Titel offenkundig noch etwas mehr wert: Pro Kopf wurden 220.000 Euro ausgelobt, den Deutschen winkten 92.000 Euro.

Bayer Leverkusen stellt die meisten Finalisten

An diesem Sonntag schaut die ganze Welt Fußball, rund 1,5 Milliarden Menschen sitzen vor Bildschirmen oder Großbildleinwänden. Auf der Ehrentribüne tummelt sich die Politprominenz. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist da, da darf vor der anstehenden Bundestagswahl Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) nicht fehlen. Auch Bundespräsident Johannes Rau und Innenminister Otto Schily wollen dabei sein, wenn Geschichte geschrieben wird. Die Gastgeberländer entsenden ihre höchsten Repräsentanten, Südkorea seinen Staatschef, Japan seinen Kaiser. 2000 Deutsche sind unter den 72.000 im größten Stadion Japans. Zwar sind sie in der Unterzahl und doch so viele wie nie bei dieser WM – viele haben sich kurzfristig entschlossen und zahlen bis zu 500 Dollar für die letzten Karten. Zunächst erleben sie noch eine Abschlussfeier. Um 20 Uhr Ortszeit erfolgt der Anstoß, in der Heimat ist es 13 Uhr. Bei Anpfiff zeigt das Thermometer 25 Grad, es ist ziemlich schwül (79 Prozent Luftfeuchtigkeit). Das ZDF lässt seine Zuschauer abstimmen, 82 Prozent glauben an einen deutschen Sieg.

Die deutsche Abwehr formiert sich wieder als Dreierkette, Ramelows Einsatz steht nach seinem überragenden Spiel gegen Südkorea außer Frage. Auch Brasilien nimmt nur eine Änderung vor und ist froh über die Rückkehr des im Halbfinale gesperrten Wirbelwinds Ronaldinho. Abwehrchef Lucio trifft auf drei Vereinskameraden, spielt er doch für Bayer Leverkusen, das mit vier Spielern die meisten Finalisten stellt – mit Ballack wären es fünf gewesen. Die deutsche Hymne wird zuerst gespielt, dafür hat Brasilien Anstoß. In der dritten Minute fängt Kahn erstmals den Ball, verhindert so eine Chance. "Das gibt ihm Sicherheit", mutmaßt Bela Rethy im ZDF. Brasilien bekommt die erste Gelbe Karte, Roque Junior hat Neuville im Mittelfeld von den Beinen geholt. Da versteht Pierluigi Collina in seinem letzten WM-Einsatz keinen Spaß, kurz darauf erwischt es auch Klose nach zwei Fouls binnen einer Minute.

Die Deutschen haben zunächst mehr Feldvorteile, was allgemein überrascht. Kommentar von Rethy: "Deutschland kombiniert besser als Brasilien, und das ist bisher die gute Nachricht." Gleich dreimal kommt Dietmar Hamann aus der zweiten Reihe zum Schuss, immer bleibt der Ball an einem Abwehrbein hängen. Bernd Schneider wirbelt überall herum, flankt mal von rechts und mal von links, provoziert damit etliche Ecken und macht seinem Spitznamen als "weißer Brasilianer" alle Ehre. Scolari ist sichtlich unzufrieden und verbringt die erste Hälfte quasi komplett im Stehen. Dann wie aus dem Nichts die erste Riesenchance für Ronaldo, der nach Ronaldinhos die Abwehrkette sezierenden Pass frei vor Kahn einen Kunstschuss mit dem linken Außenrist versucht und verzieht.

"Wir machen ein Riesenspiel"

Auch Bode kann das erste Tor des Abends schießen, aber gleich zweimal verspringt ihm der Ball in aussichtsreicher Position. Brasilien zieht nach einer halben Stunde, in der die Deutschen Feldvorteile haben, urplötzlich an. Kahn muss gegen Ronaldo retten, auch dem Toptorjäger der WM verspringt mal der Ball. Erste Pfiffe von den Rängen, als die Deutschen mit einer Serie von Rückpässen Ruhe ins Spiel und das 0:0 in die Pause bringen wollen. Jeremies antwortet darauf mit einem 22-Meter-Schuss, der übers Tor geht. Plötzlich Brasilien-Chancen im Minutentakt: Kleberson aus 18 Metern knapp vorbei, dann aus 22 Metern an die Latte und schließlich trifft Ronaldo am Fünfmeterraum aus der Drehung nur Zerberus Kahn. Collina bittet zur Halbzeit und Rethy sagt, was viele Fans empfinden: "Dieser Pfiff ist wie eine Erlösung." Weltmeister Jürgen Klinsmann stellt im ZDF-Studio dennoch fest: "Wir machen ein Riesenspiel!" In der Tat übertrifft die Mannschaft, die sich erstmals in der DFB-Historie über Play-off-Spiele im "Nachsitzen" für die Endrunde qualifiziert hat, die Erwartungen der Fachwelt.

Die zweite Halbzeit beginnt und nun spielen sie noch riesiger. Jeremies hat nach einer Ecke die erste größere Chance, sein Kopfball aus fünf Metern wird von Edmilson geblockt. In der 49. Minute muss der brasilianische Torwart Marcos erstmals sein Können zeigen. Er fingert einen spektakulären 30-Meter-Freistoß von Neuville noch an den Pfosten. "Aus der Entfernung hat der im Leben noch keinen Freistoß geschossen", staunt Rethy über den Gewaltschuss des zierlichen Dribblers. Er gehört zu denen, die sich Völlers Wort vom "Spiel des Lebens" besonders zu Herzen genommen haben. In der 54. Minute ereignet sich eine Schlüsselszene, die man in dem Moment nicht als solche erkennt: Bei der Abwehr eines Kopfballs verletzt sich Kahn am Ringfinger der rechten Hand, weil ihm der nachsetzende Gilberto Silva auf die Hand tritt. Während das Spiel weiter läuft, wird er behandelt, beißt aber auf die Zähne. Beim WM-Finale geht keiner raus, der nicht muss.

Auch Jeremies nicht, der nach einer Karambolage mit Kapitän Cafu liegen bleibt und minutenlang auf dem Platz behandelt wird. Sebastian Kehl zieht schon die Jacke aus und erhält von Co-Trainer Michael Skibbe Anweisungen, da steht "Jerry" wieder auf. Blut klebt an den Stutzen, aber er kann laufen. Auch das deutsche Spiel läuft, die zweite Hälfte bestimmt zunächst die Völler-Elf. Alles ist offen.

Erster Rückstand bei der WM 2002

Eben noch hat ein Hamann-Schuss das gegnerische Tor knapp verfehlt, da passiert es: Hamann führt fast an der Strafraumgrenze einen unnötigen Zweikampf mit Ronaldo und verliert ihn. Der Torjäger legt auf für den bis dahin blassen Rivaldo – ein ansatzloser Schuss aus 17 Metern, Kahn lässt ihn prallen, Ronaldo ist zur Stelle und staubt aus fünf Metern ab. 1:0! "Ein Ball, den man normalerweise halten müsste. Man muss es leider sagen: Torwartfehler! Aber ohne ihn wäre diese deutsche Mannschaft in kein Finale gekommen", kritisiert und beschwichtigt Rethy zugleich. Erstmals bei dieser WM ein Rückstand – wie reagiert die Elf? Mit wütenden Angriffen. Jeremies und Frings versuchen es aus der zweiten Reihe, aber Marcos ist so nicht zu überwinden. Völler bringt Oliver Bierhoff, der sein letztes Länderspiel macht, für den ebenso eifrigen wie unglücklichen Klose und Gerald Asamoah für Jeremies. Rethy erinnert daran, wozu ein Bierhoff fähig ist, wenn man ihn an einem 30. Juni einwechselt – 1996 hat der Joker Deutschland mit zwei Toren zum dritten Europameistertitel geschossen.

Kaum hat er es gesagt, glaubt kaum jemand noch daran, dass sich Geschichte wiederholt. Kleberson kommt über rechts, passt auf Rivaldo, der den Ball aber durchlässt auf den sträflich freistehenden Ronaldo. Der visiert mit der rechten Innenseite dieselbe Stelle an wie beim ersten Tor, Kahn fliegt vergeblich. 2:0, noch elf Minuten Zeit. Geht noch was? Nun stürmen sogar Ramelow und Manndecker Christoph Metzelder. Christian Ziege wird eingewechselt und flankt noch zweimal gefährlich von links, so wie von rechts Frings, der Bierhoff findet – aber Marcos verhindert den Anschlusstreffer. Collina gewährt noch drei Minuten Nachspielzeit, Völler ist das zu wenig. So lange hat fast schon der slapstickartige Versuch von Edmilson gedauert, sein zerrissenes Trikot zu wechseln. Letztlich ist es egal, den wackeren Deutschen fehlt es an diesem Tag an Durchschlagskraft. Den letzten Torschuss von Ziege meistert Marcos auch noch, dann ist Schluss: Brasilien ist zum fünften Mal Weltmeister, Deutschland zum vierten Mal Vizeweltmeister.

Alle Welt sieht das als Erfolg an, einer aber fühlt sich als erster Verlierer. Minutenlang lehnt, kauert, liegt Kahn am Pfosten. Keiner der Mitspieler, kein Betreuer und auch nicht der Schiedsrichter kann ihn aufrichten. Keinem kann er in die Augen schauen, er ist wie weggetreten. "Ich bin in einer anderen Welt gewesen und hätte mich am liebsten irgendwo hingebeamt", wird er Jahre später dem kicker sagen. Es ist eins der einprägsamsten Bilder deutscher WM-Geschichte. Es gehört ebenso unabdingbar zu seiner Karriere wie der Eckfahnenjubel nach gewonnener Meisterschaft 2001 in Hamburg. Und es macht ihn noch beliebter: Der "Titan" ist wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zufliegen wie nie zuvor in seiner von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Laufbahn. Eine japanische Studentin schreibt später in ihren Blog: "Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer – das war pure japanische Samurai-Ästhetik."

"Ohne Olli wären wir gar nicht hier gewesen"

Er fühlt sich schuldig und findet keinen Trost darin, dass er schon vor dem Finale von der FIFA zum besten Spieler des Turniers gewählt worden ist. Es ist ein bitterer Einfall des Fußballgotts, dass ausgerechnet ihm ein so entscheidender Fehler passiert. Natürlich spielt die Handverletzung eine Rolle, wenn er es auch mannhaft herunterspielt. Vorwürfe aber bleiben ihm erspart. "Ohne Olli wären wir gar nicht hier gewesen", betont Völler.

Beim Rest legt sich die Enttäuschung schneller. Sie sind alle stolz, an einem der besten WM-Finales überhaupt teilgenommen zu haben, stolz auch auf das Zahlenwerk: 12:9 Schüsse aufs Tor, 13:3 Ecken, 56 Prozent Ballbesitz – dreimal Vorteil Deutschland. So ist es kein Wunder, dass am folgenden Montag 30.000 Fans am Frankfurter Römer auf die Mannschaft warten. Rudi Völler schaut von der Brüstung des Balkons und fragt schier fassungslos: "Was wäre wohl hier los, wenn wir auch den Titel gewonnen hätten?"

Darauf mussten die Deutschen noch drei WM-Turniere warten, bis sie 2014 den vierten Titel in dem Land holten, dessen Auswahl es ihnen vor 20 Jahren verwehrte.

Aufstellung: Kahn – Linke, Ramelow, Metzelder  – Frings, Hamann, Schneider, Jeremies (77. Asamoah), Bode (84. Ziege) – Klose (74. Bierhoff), Neuville.

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Auf seine berühmteste Szene in einem langen Torwartleben wird Oliver Kahn, der Vorstandsvorsitzende der FC Bayern München AG, "so gut wie gar nicht mehr angesprochen." Das wird ihm recht sein, denn sie markiert einen Tiefpunkt, keineswegs jedoch eine Blamage. Heute vor 20 Jahren kauerte er nach dem verlorenen WM-Finale gegen Brasilien in Yokohama (Japan) minutenlang am Torpfosten, weil sein erster Fehler im Turnier die Niederlage einleitete.

Doch niemand wagte, ihn zu kritisieren, zu gut war seine Leistung in den Spielen zuvor gewesen. "Kann ein Mann Weltmeister werden?", hatte der kicker überspitzt nach dem 1:0 im Viertelfinale gegen die USA gefragt, als Kahn wieder einmal den Sieg gerettet hatte. Dreimal in Folge gewannen die Deutschen ihre K.o-.Spiele mit 1:0, nur in der Vorrunde gab es mal ein Gegentor – beim 1:1 gegen Irland. Es waren die Tage des "Titans", um den sich eine kämpferisch von Spiel zu Spiel steigernde Elf scharte, die dem Ruf der Turniermannschaft gerecht wurde. Am 30. Juni 2002 wollte sie das Maximum. 

Zum siebten Mal stand Deutschland im WM-Finale, Gegner Brasilien zum sechsten Mal. Es war das Treffen der Teams mit den meisten WM-Teilnahmen. Umso erstaunlicher, dass sie sich bei der 17. WM zum ersten Mal begegneten. Dazu kam es trotz der Meldung eines südkoreanischen Senders am Tag nach dem Halbfinale, die Deutschen seien disqualifiziert worden – Thorsten Frings und Miroslav Klose seien gedopt gewesen. Richtig daran war nur, dass die Genannten zur Dopingkontrolle mussten. Die FIFA stellte den Sachverhalt, den andere Medien gierig aufnahmen, richtig. So endete der Aufenthalt in Südkorea mit einer kleinen Aufregung.

"Heute sind wir alle Olli!"

Für das große Finale kehrte der DFB-Tross nach Japan zurück, wo die WM für ihn begonnen hatte. Vor dem Hotel in Yokohama warteten 3000 Japaner und kreischten euphorisch. Torwarttrainer Sepp Maier, der 1966 erstmals bei einer WM war, staunte: "So was habe ich noch nie erlebt." Während sich in Deutschland die Frage vor allem darum drehte, wer den gesperrten Michael Ballack ersetzen durfte, interessierte sich die Weltpresse für das Torjägerduell zwischen dem seit drei Spielen nicht mehr treffenden Miroslav Klose (fünf Turniertore) und dem künftigen Stürmerstar von Real Madrid, Ronaldo (sechs Tore). Der tönte bereits: "Ich treffe in jedem Spiel und hole mir die Torjägerkrone."

Die meisten deutschen Spieler waren froh, dass sie auf Brasilien und nicht auf die Türkei, im Halbfinale 0:1 unterlegen, trafen. Oliver Kahn sagte: "Ich spiele gern gegen Brasilien. Gegen die Türkei hätten wir viel mehr unter Druck gestanden. Ich habe schon viele Finals gespielt und weiß, dass auch da wieder sehr viel möglich sein wird." Abwehrchef Carsten Ramelow verwies auf die seit sechs Stunden nicht überwundene Abwehr: "Es wird schwer für Brasilien, uns zu schlagen. Wir haben erst ein Gegentor kassiert." Damit hatten die Deutschen den Weltrekord der Niederlande von 1974 eingestellt, alle anderen Finalisten hatten während des Turniers mehr Treffer kassiert. Die Bild am Sonntag titelte im Vertrauen auf den Kapitän: "Heute sind wir alle Olli!"

Auch Brasilien steuerte auf Rekordkurs, hatte alle sechs Spiele in der regulären Spielzeit gewonnen, sieben wären ein Novum. Rekordweltmeister waren sie schon und auch deshalb der Favorit. Trainer Felipe Scolari aber warnte: "Deutschland hat eine starke, traditionsreiche Mannschaft. Sie verdient allen Respekt." In diese Mannschaft rückte nun zum zweiten Mal bei dieser WM Jens Jeremies, was für eine vorsichtigere Ausrichtung sprach als im Halbfinale gegen Südkorea. Oliver Neuville und Marco Bode, zum Turnierstart noch Reservisten, blieben im Team. Für den 32 Jahre alten Bremer Bode ein spezielles Geschenk, er beendete seine Karriere auf dem Höhepunkt. "Ich kann mir kein schöneres Ende meiner Karriere wünschen. Mit dem WM-Titel abzutreten, das wäre mein Traum." Der Finaltraum von Michael Ballack war indes geplatzt. Teamchef Rudi Völler gab die Parole aus: "Wir wollen für Michael Weltmeister werden", indem "jeder das Spiel seines Lebens macht". Gesagt im Hotel Sheraton Bay and Tower zu Yokohama, wo es am Vortag des Finals zuging wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Printjournalisten aus aller Welt belagerten das Foyer auf der Jagd nach letzten Informationen. Völler standen alle Mann zur Verfügung, Klose (Rippenprellung) bestand den Härtetest. Den Brasilianern war der Titel offenkundig noch etwas mehr wert: Pro Kopf wurden 220.000 Euro ausgelobt, den Deutschen winkten 92.000 Euro.

Bayer Leverkusen stellt die meisten Finalisten

An diesem Sonntag schaut die ganze Welt Fußball, rund 1,5 Milliarden Menschen sitzen vor Bildschirmen oder Großbildleinwänden. Auf der Ehrentribüne tummelt sich die Politprominenz. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist da, da darf vor der anstehenden Bundestagswahl Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) nicht fehlen. Auch Bundespräsident Johannes Rau und Innenminister Otto Schily wollen dabei sein, wenn Geschichte geschrieben wird. Die Gastgeberländer entsenden ihre höchsten Repräsentanten, Südkorea seinen Staatschef, Japan seinen Kaiser. 2000 Deutsche sind unter den 72.000 im größten Stadion Japans. Zwar sind sie in der Unterzahl und doch so viele wie nie bei dieser WM – viele haben sich kurzfristig entschlossen und zahlen bis zu 500 Dollar für die letzten Karten. Zunächst erleben sie noch eine Abschlussfeier. Um 20 Uhr Ortszeit erfolgt der Anstoß, in der Heimat ist es 13 Uhr. Bei Anpfiff zeigt das Thermometer 25 Grad, es ist ziemlich schwül (79 Prozent Luftfeuchtigkeit). Das ZDF lässt seine Zuschauer abstimmen, 82 Prozent glauben an einen deutschen Sieg.

Die deutsche Abwehr formiert sich wieder als Dreierkette, Ramelows Einsatz steht nach seinem überragenden Spiel gegen Südkorea außer Frage. Auch Brasilien nimmt nur eine Änderung vor und ist froh über die Rückkehr des im Halbfinale gesperrten Wirbelwinds Ronaldinho. Abwehrchef Lucio trifft auf drei Vereinskameraden, spielt er doch für Bayer Leverkusen, das mit vier Spielern die meisten Finalisten stellt – mit Ballack wären es fünf gewesen. Die deutsche Hymne wird zuerst gespielt, dafür hat Brasilien Anstoß. In der dritten Minute fängt Kahn erstmals den Ball, verhindert so eine Chance. "Das gibt ihm Sicherheit", mutmaßt Bela Rethy im ZDF. Brasilien bekommt die erste Gelbe Karte, Roque Junior hat Neuville im Mittelfeld von den Beinen geholt. Da versteht Pierluigi Collina in seinem letzten WM-Einsatz keinen Spaß, kurz darauf erwischt es auch Klose nach zwei Fouls binnen einer Minute.

Die Deutschen haben zunächst mehr Feldvorteile, was allgemein überrascht. Kommentar von Rethy: "Deutschland kombiniert besser als Brasilien, und das ist bisher die gute Nachricht." Gleich dreimal kommt Dietmar Hamann aus der zweiten Reihe zum Schuss, immer bleibt der Ball an einem Abwehrbein hängen. Bernd Schneider wirbelt überall herum, flankt mal von rechts und mal von links, provoziert damit etliche Ecken und macht seinem Spitznamen als "weißer Brasilianer" alle Ehre. Scolari ist sichtlich unzufrieden und verbringt die erste Hälfte quasi komplett im Stehen. Dann wie aus dem Nichts die erste Riesenchance für Ronaldo, der nach Ronaldinhos die Abwehrkette sezierenden Pass frei vor Kahn einen Kunstschuss mit dem linken Außenrist versucht und verzieht.

"Wir machen ein Riesenspiel"

Auch Bode kann das erste Tor des Abends schießen, aber gleich zweimal verspringt ihm der Ball in aussichtsreicher Position. Brasilien zieht nach einer halben Stunde, in der die Deutschen Feldvorteile haben, urplötzlich an. Kahn muss gegen Ronaldo retten, auch dem Toptorjäger der WM verspringt mal der Ball. Erste Pfiffe von den Rängen, als die Deutschen mit einer Serie von Rückpässen Ruhe ins Spiel und das 0:0 in die Pause bringen wollen. Jeremies antwortet darauf mit einem 22-Meter-Schuss, der übers Tor geht. Plötzlich Brasilien-Chancen im Minutentakt: Kleberson aus 18 Metern knapp vorbei, dann aus 22 Metern an die Latte und schließlich trifft Ronaldo am Fünfmeterraum aus der Drehung nur Zerberus Kahn. Collina bittet zur Halbzeit und Rethy sagt, was viele Fans empfinden: "Dieser Pfiff ist wie eine Erlösung." Weltmeister Jürgen Klinsmann stellt im ZDF-Studio dennoch fest: "Wir machen ein Riesenspiel!" In der Tat übertrifft die Mannschaft, die sich erstmals in der DFB-Historie über Play-off-Spiele im "Nachsitzen" für die Endrunde qualifiziert hat, die Erwartungen der Fachwelt.

Die zweite Halbzeit beginnt und nun spielen sie noch riesiger. Jeremies hat nach einer Ecke die erste größere Chance, sein Kopfball aus fünf Metern wird von Edmilson geblockt. In der 49. Minute muss der brasilianische Torwart Marcos erstmals sein Können zeigen. Er fingert einen spektakulären 30-Meter-Freistoß von Neuville noch an den Pfosten. "Aus der Entfernung hat der im Leben noch keinen Freistoß geschossen", staunt Rethy über den Gewaltschuss des zierlichen Dribblers. Er gehört zu denen, die sich Völlers Wort vom "Spiel des Lebens" besonders zu Herzen genommen haben. In der 54. Minute ereignet sich eine Schlüsselszene, die man in dem Moment nicht als solche erkennt: Bei der Abwehr eines Kopfballs verletzt sich Kahn am Ringfinger der rechten Hand, weil ihm der nachsetzende Gilberto Silva auf die Hand tritt. Während das Spiel weiter läuft, wird er behandelt, beißt aber auf die Zähne. Beim WM-Finale geht keiner raus, der nicht muss.

Auch Jeremies nicht, der nach einer Karambolage mit Kapitän Cafu liegen bleibt und minutenlang auf dem Platz behandelt wird. Sebastian Kehl zieht schon die Jacke aus und erhält von Co-Trainer Michael Skibbe Anweisungen, da steht "Jerry" wieder auf. Blut klebt an den Stutzen, aber er kann laufen. Auch das deutsche Spiel läuft, die zweite Hälfte bestimmt zunächst die Völler-Elf. Alles ist offen.

Erster Rückstand bei der WM 2002

Eben noch hat ein Hamann-Schuss das gegnerische Tor knapp verfehlt, da passiert es: Hamann führt fast an der Strafraumgrenze einen unnötigen Zweikampf mit Ronaldo und verliert ihn. Der Torjäger legt auf für den bis dahin blassen Rivaldo – ein ansatzloser Schuss aus 17 Metern, Kahn lässt ihn prallen, Ronaldo ist zur Stelle und staubt aus fünf Metern ab. 1:0! "Ein Ball, den man normalerweise halten müsste. Man muss es leider sagen: Torwartfehler! Aber ohne ihn wäre diese deutsche Mannschaft in kein Finale gekommen", kritisiert und beschwichtigt Rethy zugleich. Erstmals bei dieser WM ein Rückstand – wie reagiert die Elf? Mit wütenden Angriffen. Jeremies und Frings versuchen es aus der zweiten Reihe, aber Marcos ist so nicht zu überwinden. Völler bringt Oliver Bierhoff, der sein letztes Länderspiel macht, für den ebenso eifrigen wie unglücklichen Klose und Gerald Asamoah für Jeremies. Rethy erinnert daran, wozu ein Bierhoff fähig ist, wenn man ihn an einem 30. Juni einwechselt – 1996 hat der Joker Deutschland mit zwei Toren zum dritten Europameistertitel geschossen.

Kaum hat er es gesagt, glaubt kaum jemand noch daran, dass sich Geschichte wiederholt. Kleberson kommt über rechts, passt auf Rivaldo, der den Ball aber durchlässt auf den sträflich freistehenden Ronaldo. Der visiert mit der rechten Innenseite dieselbe Stelle an wie beim ersten Tor, Kahn fliegt vergeblich. 2:0, noch elf Minuten Zeit. Geht noch was? Nun stürmen sogar Ramelow und Manndecker Christoph Metzelder. Christian Ziege wird eingewechselt und flankt noch zweimal gefährlich von links, so wie von rechts Frings, der Bierhoff findet – aber Marcos verhindert den Anschlusstreffer. Collina gewährt noch drei Minuten Nachspielzeit, Völler ist das zu wenig. So lange hat fast schon der slapstickartige Versuch von Edmilson gedauert, sein zerrissenes Trikot zu wechseln. Letztlich ist es egal, den wackeren Deutschen fehlt es an diesem Tag an Durchschlagskraft. Den letzten Torschuss von Ziege meistert Marcos auch noch, dann ist Schluss: Brasilien ist zum fünften Mal Weltmeister, Deutschland zum vierten Mal Vizeweltmeister.

Alle Welt sieht das als Erfolg an, einer aber fühlt sich als erster Verlierer. Minutenlang lehnt, kauert, liegt Kahn am Pfosten. Keiner der Mitspieler, kein Betreuer und auch nicht der Schiedsrichter kann ihn aufrichten. Keinem kann er in die Augen schauen, er ist wie weggetreten. "Ich bin in einer anderen Welt gewesen und hätte mich am liebsten irgendwo hingebeamt", wird er Jahre später dem kicker sagen. Es ist eins der einprägsamsten Bilder deutscher WM-Geschichte. Es gehört ebenso unabdingbar zu seiner Karriere wie der Eckfahnenjubel nach gewonnener Meisterschaft 2001 in Hamburg. Und es macht ihn noch beliebter: Der "Titan" ist wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zufliegen wie nie zuvor in seiner von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Laufbahn. Eine japanische Studentin schreibt später in ihren Blog: "Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer – das war pure japanische Samurai-Ästhetik."

"Ohne Olli wären wir gar nicht hier gewesen"

Er fühlt sich schuldig und findet keinen Trost darin, dass er schon vor dem Finale von der FIFA zum besten Spieler des Turniers gewählt worden ist. Es ist ein bitterer Einfall des Fußballgotts, dass ausgerechnet ihm ein so entscheidender Fehler passiert. Natürlich spielt die Handverletzung eine Rolle, wenn er es auch mannhaft herunterspielt. Vorwürfe aber bleiben ihm erspart. "Ohne Olli wären wir gar nicht hier gewesen", betont Völler.

Beim Rest legt sich die Enttäuschung schneller. Sie sind alle stolz, an einem der besten WM-Finales überhaupt teilgenommen zu haben, stolz auch auf das Zahlenwerk: 12:9 Schüsse aufs Tor, 13:3 Ecken, 56 Prozent Ballbesitz – dreimal Vorteil Deutschland. So ist es kein Wunder, dass am folgenden Montag 30.000 Fans am Frankfurter Römer auf die Mannschaft warten. Rudi Völler schaut von der Brüstung des Balkons und fragt schier fassungslos: "Was wäre wohl hier los, wenn wir auch den Titel gewonnen hätten?"

Darauf mussten die Deutschen noch drei WM-Turniere warten, bis sie 2014 den vierten Titel in dem Land holten, dessen Auswahl es ihnen vor 20 Jahren verwehrte.

Aufstellung: Kahn – Linke, Ramelow, Metzelder  – Frings, Hamann, Schneider, Jeremies (77. Asamoah), Bode (84. Ziege) – Klose (74. Bierhoff), Neuville.

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