WM 1998: Zinedine Zidane Superstar

Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 16: Die WM 1998 in Frankreich

Die 16. Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich stieß in neue Dimensionen vor und stellte an die Organisatoren nie gekannte Anforderungen. Die sich insbesondere in Osteuropa verändernde Staatenwelt einerseits und die fortschreitende Kommerzialisierung des Fußballs mit attraktiven TV-Verträgen andererseits führten zu einer Ausweitung des Teilnehmerfeldes auf 32 Mannschaften, die über 33 Tage 64 Spiele austragen mussten. Alle Kontinente erhielten mehr Teilnehmer: Europa erstmals 15, Afrika fünf, Südamerika und Asien vier, Mittel- und Nordamerika drei. Dieser Modus gilt bis heute. Die WM-Idee war somit an ihre Grenzen gestoßen.

Dass die WM-Qualifikation eine sinnvolle Einrichtung ist, erwies sich auch diesmal wieder: Elf Länder holten gar keinen Punkt, die Malediven und San Marino träumten bis zuletzt sogar vergeblich von einem Ehrentor. Beinahe jeder vierte FIFA-Verband aber nahm mittlerweile an der Endrunde teil, und für etablierte Nationen war es gar nicht mehr so leicht, sie zu verpassen. In Frankreich fanden sich folglich abgesehen von Uruguay wieder alle bisherigen Weltmeister ein. Dafür schafften es in Südamerika neben dem automatisch qualifizierten Titelverteidiger Brasilien mit Argentinien, Paraguay, Kolumbien und Chile ausnahmslos Länder mit einer Endrunden-Historie.

Debütant Jamaika setzt Farbtupfer

Die Concacaf-Staaten wurden wie fast immer von Mexiko vertreten, die USA schaffte es schon zum dritten Mal in Folge und Debütant Jamaika gab den exotischen Farbtupfer. Afrika entsandte neben Kamerun, Marokko und Tunesien mit Nigeria und Südafrika zwei echte WM-Neulinge. In Asien setzten sich Saudi-Arabien, der Iran sowie die kommenden WM-Gastgeber Japan und Südkorea durch. Den Erfolg der Saudis bewerkstelligte übrigens noch der deutsche Trainer Otto Pfister, doch mehr traute man ihm offenbar nicht zu: Ende 1997 wurde er entlassen.

Von Europas Fußballadel hatte es Italien noch am schwersten, der Vize-Weltmeister musste als Gruppenzweiter hinter England nachsitzen. Auf bewährte italienische Weise wurden die Entscheidungsspiele gegen Russland bewältigt: auswärts 1:1, zu Hause in Neapel 1:0. Die Überflieger Europas kamen aus Rumänien, das schon 1994 eine gute WM gespielt hatte. In ihrer Gruppe holten sie 28 von 30 möglichen Punkten. Dem am nächsten kamen Spanien (26) und überraschend die Österreicher (25), die den WM-Dritten Schweden ausschalteten.

Am dramatischsten verlief die Gruppe 7, wo wieder mal die Niederlande und Belgien aufeinandertrafen. Holland rettete sich mit einem Zähler Vorsprung ins Ziel, das Belgien über die Entscheidungsspiele mit Irland auch erreichte. Bulgarien, 1994 der Schrecken der Deutschen, löste erneut sein WM-Ticket und stach die Russen aus. Überhaupt musste der einstige sozialistische Ost-Block Federn lassen.



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Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 16: Die WM 1998 in Frankreich

Die 16. Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich stieß in neue Dimensionen vor und stellte an die Organisatoren nie gekannte Anforderungen. Die sich insbesondere in Osteuropa verändernde Staatenwelt einerseits und die fortschreitende Kommerzialisierung des Fußballs mit attraktiven TV-Verträgen andererseits führten zu einer Ausweitung des Teilnehmerfeldes auf 32 Mannschaften, die über 33 Tage 64 Spiele austragen mussten. Alle Kontinente erhielten mehr Teilnehmer: Europa erstmals 15, Afrika fünf, Südamerika und Asien vier, Mittel- und Nordamerika drei. Dieser Modus gilt bis heute. Die WM-Idee war somit an ihre Grenzen gestoßen.

Dass die WM-Qualifikation eine sinnvolle Einrichtung ist, erwies sich auch diesmal wieder: Elf Länder holten gar keinen Punkt, die Malediven und San Marino träumten bis zuletzt sogar vergeblich von einem Ehrentor. Beinahe jeder vierte FIFA-Verband aber nahm mittlerweile an der Endrunde teil, und für etablierte Nationen war es gar nicht mehr so leicht, sie zu verpassen. In Frankreich fanden sich folglich abgesehen von Uruguay wieder alle bisherigen Weltmeister ein. Dafür schafften es in Südamerika neben dem automatisch qualifizierten Titelverteidiger Brasilien mit Argentinien, Paraguay, Kolumbien und Chile ausnahmslos Länder mit einer Endrunden-Historie.

Debütant Jamaika setzt Farbtupfer

Die Concacaf-Staaten wurden wie fast immer von Mexiko vertreten, die USA schaffte es schon zum dritten Mal in Folge und Debütant Jamaika gab den exotischen Farbtupfer. Afrika entsandte neben Kamerun, Marokko und Tunesien mit Nigeria und Südafrika zwei echte WM-Neulinge. In Asien setzten sich Saudi-Arabien, der Iran sowie die kommenden WM-Gastgeber Japan und Südkorea durch. Den Erfolg der Saudis bewerkstelligte übrigens noch der deutsche Trainer Otto Pfister, doch mehr traute man ihm offenbar nicht zu: Ende 1997 wurde er entlassen.

Von Europas Fußballadel hatte es Italien noch am schwersten, der Vize-Weltmeister musste als Gruppenzweiter hinter England nachsitzen. Auf bewährte italienische Weise wurden die Entscheidungsspiele gegen Russland bewältigt: auswärts 1:1, zu Hause in Neapel 1:0. Die Überflieger Europas kamen aus Rumänien, das schon 1994 eine gute WM gespielt hatte. In ihrer Gruppe holten sie 28 von 30 möglichen Punkten. Dem am nächsten kamen Spanien (26) und überraschend die Österreicher (25), die den WM-Dritten Schweden ausschalteten.

Am dramatischsten verlief die Gruppe 7, wo wieder mal die Niederlande und Belgien aufeinandertrafen. Holland rettete sich mit einem Zähler Vorsprung ins Ziel, das Belgien über die Entscheidungsspiele mit Irland auch erreichte. Bulgarien, 1994 der Schrecken der Deutschen, löste erneut sein WM-Ticket und stach die Russen aus. Überhaupt musste der einstige sozialistische Ost-Block Federn lassen.

Die 18 Länder, die das Endresultat des zerbröckelnden Sowjet-Imperiums und der Unabhängigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepubliken waren, sorgten zwar für Sechser-Gruppen im Überfluss und eine Rekordzahl von Qualifikationsspielen, aber nur vier lösten ein WM-Ticket. Darunter erstmals Kroatien, das zwar in der Gruppe Dänemark den Vortritt lassen musste, aber in den Entscheidungsspielen die Ukraine ausschaltete. Diese Ukrainer wiederum hatten bis zuletzt der deutschen Mannschaft Paroli geboten, die in Gruppe 9 auch Portugal, Armenien, Nordirland und Albanien ausschalten musste.

Vogts: "Keinen unserer Gegner haben wir beherrscht"

Dies tat die Auswahl von Berti Vogts ganz humorlos - obwohl sie ungeschlagen blieb, wurde bis zuletzt gezittert. Erst ein 4:3 über Albanien sicherte am 11. Oktober 1997 in Hannover den Gruppensieg für den amtierenden Europameister. Verteidiger Jürgen Kohler sprach aus, was viele dachten: „Wir können mit der gesamten Qualifikation nicht zufrieden sein, keinen unserer Gegner haben wir beherrscht.“

In manchen Spielen sah die Mannschaft buchstäblich alt aus – und das Alter war auch ihr Problem. Viele Nationalspieler hatten ihre besten Tage schon hinter sich, doch Vogts musste die Nachwuchsprobleme des deutschen Fußballs jener Tage ausbaden. Der Kader, den er Ende Mai nominierte, hatte einen Altersschnitt von 29,8 Jahre und übertraf in diesem Punkt alle bisherigen deutschen Aufgebote bei Weltmeisterschaften. Der Kicker fragte in seinem WM-Sonderheft zweifelnd: „Aus Erfahrung gut?“

Anfang Mai 1998 ließ sich Vogts aufgrund der Sorgen in der Abwehr - Matthias Sammer fiel aus und Olaf Thon war angeschlagen - sogar dazu bewegen, den 1996 von ihm aussortierten Münchner Lothar Matthäus zurückzuholen „weil nicht Sympathie zählt, sondern nur die Leistung.“

Lothar Matthäus: Rückkehr mit Risiko

Wenn auch zunächst nur für den Notfall: Der 37-jährige galt als Libero-Alternative. Doch war der Rekordnationalspieler, der er schon damals mit 125 Einsätzen war, ein Bankspieler? Und waren die Spannungen mit den Führungsspielern um Jürgen Klinsmann und Thomas Helmer wirklich ausgeräumt? Matthäus’ Rückkehr war jedenfalls ein Risiko, das Vogts herunterzuspielen versuchte: „Er ist ein Teil der Mannschaft, nicht mehr und nicht weniger.“

Andere wären es gerne gewesen. Doch Vogts ließ mit Mario Basler, Mehmet Scholl und Lars Ricken drei Kreativspieler daheim, was nicht nur Beifall fand. Dortmunds Ricken hatte er die WM sogar einst versprochen, und so musste Vogts ihn bitten, ihn von seinem Versprechen zu entbinden. Erfahrung war Vogts wichtiger vor dieser WM, bei der Deutschland allein schon wegen seines Europameister-Status zu den Favoriten zählte. Außerdem hatte die DFB-Auswahl nur eins der letzten 24 Spiele vor Turnierbeginn verloren, und Vogts prophezeite: „Es wird schwer, uns zu schlagen.“

Besonders viel erwartete der Bundestrainer vom Angriff. „Noch nie sind wir mit vier so starken Stürmern in ein Turnier gestartet“, meinte er angesichts der Tatsache, dass er neben Klinsmann mit Leverkusens Ulf Kirsten und Oliver Bierhoff (mit Udine in Italien) zwei aktuelle Torschützenkönige im Kader hatte. Das Quartett komplettierte Olaf Marschall vom Sensationsmeister 1. FC Kaiserslautern, der für den Aufsteiger in 24 Spielen 21-mal getroffen hatte. Nur klassische Flügelstürmer gab es wieder nicht, eine Konsequenz des modernen Fußballs, der zum Spiel mit zwei Spitzen tendierte. Diesen Part mussten in Vogts’ Plänen laufstarke Mittelfeldspieler wie der Dortmunder Jörg Heinrich oder Bayern Münchens Christian Ziege übernehmen.

Einen Vorteil sah Vogts auch in den Anstoßzeiten und Temperaturen, die im Vergleich zur WM 1994 wieder sportgerecht waren. „Um zwölf Uhr mittags kann man einen Western drehen, aber nicht wie 1994 ein WM-Spiel anpfeifen“, sagte er mit Blick auf die Hitzeschlachten in den USA, als seine erste WM als Bundestrainer im Viertelfinale enttäuschend geendet hatte. Diesmal sollte es mehr sein, am besten der Titel. „Ich sage nicht: Deutschland muss Weltmeister werden. Ich sage aber: Deutschland kann Weltmeister werden.“ Noch immer standen schließlich acht Spieler im Kader, die das 1990 schon geschafft hatten: Torwart Andreas Köpke, Olaf Thon, Stefan Reuter, Jürgen Kohler, Lothar Matthäus, Thomas Häßler, Andreas Möller und Jürgen Klinsmann.

43 Prozent der Franzosen irren nicht

Für 43 Prozent der Franzosen würde der Weltmeister laut Umfrage aber aus ihrem Land kommen, der Gastgeber spürte die Last der Erwartungen eines ganzen Volkes. Dreimal war Frankreich schon in ein Halbfinale vorgestoßen, nun im eigenen Land sollte es endlich klappen mit dem ersten Finale und natürlich am besten mit dem Titelgewinn - so wie 1984 bei der Europameisterschaft.

Den Topfavoriten gab es 1998 jedenfalls nicht. Mehr aus Gewohnheit wurde wieder Brasilien genannt, das aber in Tests so schwach spielte, dass Trainer Mario Zagalo in Idol Zico ein Aufpasser in Form eines Sport-Direktors vor die Nase gesetzt wurde. Ein englisches Fan-Zine setzte nicht ganz unerwartet auf England, die Argumentation war jedoch verblüffend: Seit 1966 hießen die Weltmeister England - Brasilien - Deutschland - Argentinien - Italien - Argentinien - Deutschland und Brasilien. Betrachtet man Italien (1982) als Wendepunkt, ergibt sich in der Tat eine symmetrische Anordnung - und als logische Folge daraus, dass England Weltmeister zu werden hatte.

Am 10. Juni war es mit Gedankenspielern dieser Art endlich vorbei, fortan rollte der Ball. Noch am Vorabend waren in Paris Flaschen geflogen, als die WM in einer Art Straßenfest erstmals außerhalb eines Stadions eröffnet worden war. Leider keine gute Idee der Organisatoren: Über 100 Verletzte und 50 Festnahmen gab es am Rande der skurrilen Präsentation von vier hydraulikgesteuerten, 20 Meter hohen Robotern, die die teilnehmenden Kontinente symbolisieren sollten - Australien fehlte ja.

Eröffnungsspiel schlägt aus der Art

Der Verlauf der Partie Brasilien gegen Schottland war dagegen ein gutes Omen für diese WM, war sie doch ein völlig aus der Art geschlagenes Eröffnungsspiel. Drei Tore hatte die Welt bei so einem Anlass noch nicht gesehen, und es hätten noch viel mehr werden können. Paris erlebte also einen geglückten Start des Titelverteidigers und wie bei WM-Turnieren schon gewohnt tragisch anmutende Schotten. Ein Eigentor von Boyd entschied die Partie zu Gunsten Brasiliens. Bloß der designierte WM-Superstar Ronaldo, 21 Jahre jung und mit schier übermenschlichen Erwartungen an sein Können überfrachtet, traf nicht beim 2:1.

Am Abend trennten sich die anderen Teams der Gruppe A, Norwegen und Marokko, mit 2:2. Die Ernüchterung für die mit Lob überschütteten Marokkaner folgte alsbald, gegen Brasilien blieben sie beim 0:3 chancenlos, und endlich tauchte Ronaldo unter den Torschützen auf. Brasilien war schon weiter, was Marokko-Trainer Henri Michel nicht verwunderte: „Brasilien, das ist der Mount Everest, einfach das Höchste.“

Schotten und Norweger trennten sich im torärmsten Spiele dieser unterhaltsamen Gruppe 1:1, weshalb alle Teams noch Chancen hatten, Brasilien ins Achtelfinale zu folgen. Die Entscheidung darüber fällte ein gewisser Mister Barhamast aus den USA, der den Norwegern zwei Minuten vor Schluss gegen Brasilien einen zweifelhaften Elfmeter zusprach. Kjetil Rekdal von Hertha BSC verwandelte ihm zum 2:1, und Marokkos 3:0 gegen Schottland war vergeblich. Den Schotten blieb nur ihr trauriger WM-Rekord: achte Anreise, achtes Vorrunden-Aus.

Verlieren will gelernt sein

Die Gruppe B begann mit zwei Unentschieden. Roberto Baggio rettete Italien gegen Chile noch einen Punkt und kurierte bei der Gelegenheit sein Elfmetertrauma von 1994, als er im Finale den entscheidenden Fehlschuss gesetzt hatte. Kamerun träumte gegen Österreich schon vom Sieg, als dem Köln-Legionär Toni Polster in der Nachspielzeit der Ausgleich gelang. Herbert Prohaska sah sich bestätigt, auf Polster zu setzen, auch wenn der Trainer zugab: „Wäre es nach den Trainingsleistungen gegangen, hätte er nicht mal auf der Ersatzbank sitzen dürfen.“

Gegen Chile wiederholten die Österreicher ihr Kunststück mit dem späten Ausgleichstor, doch weil sie gegen Italien 1:2 unterlagen, mussten sie abreisen. Gemeinsam mit Kamerun, das nach einem 0:3 gegen Italien gegen Chile nur zu einem 1:1 kam. Die Chilenen schafften mit drei Remis das Achtelfinale, in der Heimat gab es wilde Spontanfeten, Verkehrschaos in der Hauptstadt Santigo und ein Todesopfer.

Kamerun dagegen fühlte sich gegen Chile um ein Tor betrogen, das der ungarische Schiedsrichter Vagner in der 58. Minute aberkannt hatte. In Jaunde brachen Krawalle mit rassistischer Färbung aus, Schwarze attackierten Weiße als stellvertretende Feindbilder und bewarfen deren Autos und Häuser. Der Verband forderte von der FIFA in einem offiziellen Schreiben Schadensersatz und unterstellte ihr einen Komplott gegen Afrika - Verlieren will gelernt sein.

Gastgeber ohne Punktverlust durch die Gruppe

Das galt auch für die Gruppe des Gastgebers, wo alles nach Plan lief: Die Europäer setzten sich durch. Frankreich gewann alle Spiele, Dänemark konnte sich das 1:2 zum Abschluss leisten. Saudi-Arabien und Südafrika holten nur im direkten Duell (2:2), einem Spiel mit drei Elfmetern, einen Punkt. Da war bei den Arabern schon ein anderer Trainer am Werk, Carlos Alberto Parreira wurde noch während der Vorrunde gefeuert, als nach dem 0:4 gegen Frankreich das Aus feststand.

Auch Südafrika machte unerfreuliche Schlagzeilen: Nach einer Zechtour wurden zwei Spieler noch in der Vorrunde heimgeschickt, mehr hätten es verdient gehabt, wenn man Trainer Philippe Troussier reden hörte:„Ich bin nicht engagiert worden, um ein Ferienlager zu leiten. Fünf Spieler sind richtig bei der Sache, die anderen sind Touristen.“

Auch Südafrika lieferte keinen Beweis dafür ab, dass die Aufstockung auf fünf Mannschaften aus Afrika zwingend notwendig gewesen war. Die Ausnahme von der Regel bildete Nigeria, das als einzige Mannschaft dieses Quintetts die Vorrunde überstand. In der „Todesgruppe“ D mit Paraguay, Bulgarien und Spanien wurden die Westafrikaner sogar Erster, gewannen sie doch sensationell gegen Spanien (3:2) und verdient gegen Bulgarien (1:0). Schon nach zwei Spielen waren die Super-Eagles (Super-Adler) im Achtelfinale gelandet, und ihre Journalisten handelten sich eine FIFA-Rüge ein, weil sie auf der Pressekonferenz Polonaise tanzten.

Schon wieder dabei: Bora Milutinovic

Aber so war es eben bei jeder Mannschaft, die ein Bora Milutinovic trainiert. Nach Mexiko, Costa Rica und den USA hatte sich der Serbe 1998 die Nigerianer erwählt, um für Furore zu sorgen. Von den heimischen Medien angefeindet, erschien er nach dem Auftaktsieg demonstrativ in der Landestracht auf der Pressekonferenz. Weil Nigeria sich aber zum Abschluss gegen Paraguay merklich hängen ließ und 1:3 unterlag, flogen die beiden Europäer aus dem Turnier. Spaniens imposantes 6:1 über ein desolates Bulgarien, dessen Stars Balakov und Stoitchkov sich sogar offen um Freistöße stritten, war wertlos.

Die vor der WM in 30 Spielen unbesiegten stolzen Spanier scheiterten letztlich am gravierenden Patzer ihres Torwarts Zubizaretta beim 2:3 gegen Nigeria, für den der 124-malige Nationalspiele alle Verantwortung übernahm: „Das war meine Schuld, da gibt es nichts schönzureden.“

Die Gruppe E hatte die Nachbarn und Rivalen Niederlande und Belgien schon wieder zusammengeführt, obwohl sie sich schon in die Qualifikation begegnet waren. Wie meist war ihr Duell ein zähes Ringen, das das erste torlose WM-Spiel 1998 hervorbrachte. In Erinnerung blieb nur der Platzverweis für Patrick Kluivert nach einem Faustschlag gegen Lorenzo Staelens wegen einer verbalen Provokation. „Er hat etwas Schreckliches aus Kluiverts Privatleben gesagt“, erklärte Bondscoach Guus Hiddink den Ausraster seines Stürmers. Was, das blieb offen.

Bum-kun Cha: "Das Volk wird dieses Ergebnis nicht glauben"

Derartige Tricks halfen den Belgiern aber nicht weiter, nach drei Unentschieden packten sie die Koffer. Ihr 1:1 zum Abschluss gegen Südkorea war so langweilig, das VIP-Gäste auf der Tribüne einschliefen, was TV-Kameras ungeniert einfingen. Unterhaltsamer war der Fußball, den Mexiko spielte. Nach einem 3:1 über Südkorea und zwei 2:2 gegen die Europäer kamen die Mittelamerikaner um den „blonden Engel“ Luis Hernandez, der drei Tore erzielte, als Zweiter weiter und lösten in der Heimat Straßenfeste aus.

Gruppensieger wurde Holland, das sich beim 5:0 über Südkorea das nötige Torpolster zulegte und von bis zu mitgereisten 25.000 Fans unterstützt wurde. „Das Volk wird dieses Ergebnis nicht glauben“, sagte danach ein konsternierter Bum-kun Cha, Trainer der Asiaten. Es waren seine letzten Worte im Amt, auch der frühere Bundesligastürmer wurde schon nach dem zweiten Spiel entlassen. Es war ein Kennzeichen dieser WM, dass mit Trainern im Misserfolg kurzer Prozess gemacht wurde.

Der Dritte, dem es so erging, war ein Pole. Henryk Kasperczak betreute in Gruppe G die Tunesier, die ausgenommen schwere Lose bekamen. England, Rumänien und Kolumbien waren keine Laufkundschaft, doch die Heimat erwartete ein kleines Wunder von Tunesien. Als dies ausblieb und dem 0:2 gegen England ein 0:1 gegen Kolumbien folgte, bekam Kasperczak die Quittung. Drei Entlassungen während der Vorrunde waren absoluter WM-Rekord.

In dieser Gruppe setzten sich die Europäer durch, aber mit mehr Mühe als erwartet - jedenfalls in Bezug auf England. Die Mannschaft von Glenn Hoddle unterlag den fantastischen Rumänen 1:2 und brauchte zum Abschluss einen Sieg über Kolumbien. Den sicherte ein 25-Meter-Freistoß eines Bravo-Boys namens David Beckham. Im Tor der Kolumbianer stand ein gewisser Faryd Mondragon, heute beim 1. FC Köln. Er verließ den Platz nach dem 0:2 weinend. Überschattet wurden die Spiele dieser Gruppe vom gewaltbereiten Teil der englischen Fans, die in Marseille und Lens Straßenschlachten anzettelten und dafür sorgten, dass geplante Public-Viewing-Veranstaltungen kurzfristig abgesagt wurden.

Reggae auf den Rängen

In Gruppe H machten die Fans dagegen die meiste Freude, denn hier spielte Jamaika, und der Exot wurde von 5000 Anhängern in schriller Aufmachung begleitet. Reggae auf den Rängen, aber mit dem Ball tanzten die Gegner besser. Kroatien (3:1) und Argentinien (5:0) erteilten dem Außenseiter Lehrstunden. Zum Abschluss gegen Japan gab es doch die ersten Punkte in Jamaikas WM-Historie (2:1), aber da ging es schon für beide um nichts mehr

Argentinien wurde seiner Favoritenrolle gerecht, gewann alle Spiele und blieb ohne Gegentor. Trainer Daniel Passarella, 1978 noch Libero in der Weltmeister-Mannschaft, führte ein strenges Regiment in der Auswahl, die erstmals seit 16 Jahren ohne Diego Maradona auskommen musste. Der gealterte Weltstar hatte seine Karriere beendet und grüßte nur noch von Fan-Transparenten. Doch aus Argentiniens Reservoir an Fußballspielern steigen immer wieder neue Stars zum Himmel auf. In der Vorrunde machte Gabriel Batistuta seinen Spitznamen „Batigol“ alle Ehre. Dem Siegtor gegen Japan folgte gegen Jamaika der schnellste Hattrick der WM-Historie - vom 1:0 zum 4:0 in zehn Minuten. Nur gut, dass er eine Kurzfrisur trug. Passarella duldete keine Langhaarigen in der Albiceleste.

Die Überraschung der WM war Kroatien, was sich in der Vorrunde schon andeutete. Nach zwei Siegen zu Beginn waren die Kroaten um Real Madrids Star Davor Suker schon weiter. Japan dagegen, von 15.000 Fans begleitet, blieb punktlos und hoffte auf Besserung im eigenen Land. Ihr Anhang immerhin war der Vorbildlichste in Frankreich. In mitgebrachten Plastiksäcken nahmen sie ihren eigenen Müll wieder mit aus dem Stadion.

Deutschland: Mit Sieg ins Turnier gestartet

Bliebe noch die deutsche Gruppe. Als sie zu Ende war, war es wie so oft. Die nackten Zahlen stellten zufrieden, die Leistungen nicht immer. Gegen die USA kam die in Nizza logierende Mannschaft in Paris zunächst glänzend ins Turnier. Andy Möller köpfte schon nach neun Minuten das 1:0, und Deutschland dominierte das Spiel. Aber bis zum erlösenden 2:0 Klinsmanns (65.) verging viel Zeit. Die beste Elf war noch nicht gefunden. „Häßler und Möller - es hat nicht funktioniert“, schrieb die Bild-Zeitung über die Problem-stelle Kreativzentrum.

Der starke WM-Neuling Jens Jeremies vom TSV 1860 war nach Christian Zieges Absage der einzige Münchner auf dem Platz, und so spielte erstmals seit 36 Jahren keiner vom FC Bayern mit, ehe Dietmar Hamann, Ziege und Markus Babbel eingewechselt wurden. Lothar Matthäus wurde noch nicht gebraucht. Berti Vogts bilanzierte: „Wir haben sehr gut angefangen, dann aber haben wir unsere Ordnung verloren. Insgesamt kann ich mit diesem Spiel nicht zufrieden sein.“

Franz Beckenbauer kam in seiner Eigenschaft als Kolumnist zu dem Ergebnis, die Mannschaft sei „erst bei 60 Prozent“. Das Ausland amüsierte sich über eine andere Zahl der DFB-Auswahl, die in Paris ein Durchschnittsalter von 30,36 Jahren aufwies. „Jurassic-Park im Prinzenpark“ witzelte die Zeitung L’Equipe.

Chaotischer Ticketverkauf

Wenig Freude hatten zahlreiche deutsche Fans, die Opfer des chaotischen Kartenverkaufs wurden. Durch Betrug waren allein 10.000 Deutsche nicht im Besitz gültiger Tickets, obwohl sie diese bei ihren Reisebüros schon bezahlt hatten. Doch dort kamen die Tickets nie an.

Davon profitierte natürlich der Schwarzmarkt, bis zu 8000 Mark forderten Händler für 90 Minuten Fußball. Vor dem Stadion versuchten 300 Fans, die Absperrungen zu überwinden und so zu ihrem Recht zu kommen. Sie wurden von der Polizei zurückgeschickt - nicht nur mit freundlichen Worten. Auf Transparenten bekundeten Fans ihre Wut. Die Polizei verhaftete noch während der WM Manager einer Agentur, die Tickets nur zum Schein verkauft hatte.

Beim nächsten Spiel sorgten mitgereiste Deutsche für traurige Schlagzeilen: Nach dem 2:2 gegen Jugoslawien randalierten einige Chaoten in Lens und machten Jagd auf Polizisten. Ein Gendarm namens Daniel Nivel wurde am Boden liegend ins Koma getreten und leidet bis heute unter den Folgen. Der DFB engagiert sich mit der bald gegründeten Daniel-Nivel-Stiftung, die den Franzosen und seine Familie unterstützt.

"Berti, wir brauchen eine neue Elf!"

Das Spiel selbst war durchwachsen: Nach 54 Minuten hieß es 0:2, nach 74 immer noch und erst im Schlussspurt retteten der eingewechselte Michael Tarnat mit einem Freistoß und Oliver Bierhoff noch einen Punkt. Vogts erkannte das Positive („Wir lagen am Boden, aber wir sind wieder aufgestanden“), verschloss aber nicht die Augen vor den Mängeln und wurde intern nach eigenen Worten „sehr böse“. Bild druckte die Schlagzeile: „Berti, wir brauchen eine neue Elf!“

An Lothar Matthäus, gegen Jugoslawien durch seine Einwechslung WM-Rekordhalter mit 22 Spielen, kam Vogts fortan nicht mehr vorbei - allein schon, um den Mangel an Führungsspielern zu beseitigen. Bescheiden wehrte Matthäus, der in früherer Mittelfeldrolle zum Zuge kam, ab: „Ich will kein Chef sein, sondern ein wichtiger Bestandteil. Ich will nur helfen.“

Die Vorkommnisse vor allem neben dem Platz überschatteten die Tage bis zum dritten Spiel gegen den Iran. Zehn Minuten nach der Rückkehr ins Hotel „Mas d’Artigny“ erfuhr die DFB-Delegation von den Ausschreitungen in Lens. Präsident Egidius Braun erkundigte sich von Paris aus nach dem Stand der Dinge. Der neue FIFA-Präsident Sepp Blatter erklärte englischen Reportern am nächsten Tag, der DFB habe den Rückzug angeboten. Egidius Braun hat später betont, er habe lediglich mit Vorstandskollegen beraten, was zu tun sei. Vogts ging mit den Straftätern zurecht hart ins Gericht: „Alles wegen ein paar Krimineller.“

Auch der kommende Gegner Iran sprach von Abreise. Weil im französischen Fernsehen der Film „Nicht ohne meine Tochter“ gezeigt wurde, der die Unterdrückung der Frauen im Iran thematisierte, fühlte man sich beleidigt. Doch nach dem 2:1 im politisch brisanten Spiel gegen die USA hatte man ja noch Chancen aufs Weiterkommen, und die galt es zu wahren. Zumal drei Bundesliga-Legionäre des Iran auf ein Treffen mit ihren Kollegen brannten.

Die älteste DFB-Elf

Die geforderte „neue Elf“ der Deutschen war an diesem Tag die älteste in 90 Jahren DFB-Länderspielhistorie. Durch die Hereinnahme von Lothar Matthäus stieg der Schnitt auf 31,6 Jahre an. Die Erfahrung reichte aus gegen den Außenseiter, Stürmertore von Klinsmann und Bierhoff sicherten nach der Pause ein 2:0 und den Gruppensieg vor den Jugoslawen.

Verlierer gab es dennoch in Montpellier: Olaf Thon verlor zur Pause seinen Libero-Posten an Matthäus, für Möller war die WM fast schon beendet, Häßler eroberte seinen Platz. Mit Thomas Helmer, Michael Tarnat und Dietmar Hamann kamen noch drei Neue hinein, aber Bild war immer noch nicht zufrieden: „Nach drei Spielen wird immer noch an Taktik und Aufstellung herumgebastelt. Die Mannschaft hat immer noch nicht den Schwung, den man braucht, um bei einer WM weit zu kommen.“

Aber sie gehörte zu den zehn Europäern, die noch im Rennen waren. Ferner waren fünf Lateinamerikaner und Afrikas Stolz Nigeria im Achtelfinale. Die Vorrundenbilanz fiel durchaus erfreulich aus: 126 Tore in 48 Spielen verhießen einen Trend zum Offensivfußball, der sich in den USA schon angebahnt hatte. 16 Platzverweise und teils schwache Schiedsrichter-Leistungen gaben den Kritikern Futter. Die Geißel dieser WM aber waren die Hooligans, deretwegen die FIFA einige Krisensitzungen abhielt.

Golden Goal durch Laurent Blanc

Im Achtelfinale bewiesen die Favoriten, warum sie welche sind. Cleverness triumphierte fast immer über heiße Herzen. Brasilien putzte Chile mit 4:1, der von Zico heftig kritisierte Ronaldo schoss zwei Tore. Italien reichte gegen Norwegen wie so oft ein einziges Tor von Vieiri, danach übte es sich 70 Minuten in der Bewahrung des Vorsprungs. Gastgeber Frankreich hatte weit mehr Mühe und quälte die Nation über zwei Stunden lang, ehe Laurent Blanc in der 114. Minute gegen Paraguay das erste Golden Goal der WM-Historie erzielte.

Ausgerechnet Blanc, der sich zuvor gegen diese Regel ausgesprochen hatte. „Das Tor hat uns weitergebracht, ich werde es nie mehr kritisieren“, beteuerter er nun, und Zinedine Zidane, wegen Rot nach einer Tätlichkeit gesperrt, war sehr erleichtert. „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt“, sagte er, weil er ansonsten der Unglücklichste gewesen wäre - hatte er durch sein Foul doch die Mannschaft geschwächt. Auch sein Staatspräsident Jacques Chirac nahm an diesem Abend für sich in Anspruch, der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Fakt ist: Ganz Frankreich war glücklich, beim eigenen Turnier nicht zusehen zu müssen.

Dänemark schickte Afrikas letzte Hoffnung nach Hause und führte schon nach zwölf Minuten 2:0 gegen Nigeria, das letztlich 1:4 unterging. „Nur die Götter können uns stoppen“, hatten die Nigerianer zuvor getönt. Für die Entscheidung sorgte jedoch der spätere Schalker Ebbe Sand 21 Sekunden nach seiner Einwechslung mit dem 3:0. 100.000 feierten in Kopenhagen die Wiederentzündung von „Danish Dynamite“.

Taribo West, Abwehrchef Nigerias, bilanzierte dagegen: „Wir haben schon die spielerischen Mittel, um bei einer WM ganz vorne abzuschneiden, sind aber nicht genug Arbeiter gewesen.“ Das alte Übel der Fußball-Künstler.

Straßenfeger WM: 24 Millionen sehen Achtelfinalsieg gegen Mexiko

Auch am nächsten Tag, einem Montag, triumphierten Fußball-Arbeiter. In Montpellier traf Deutschland auf Mexiko und hatte wieder seine liebe Mühe und Not. Bei 33 Grad warteten 33.500 Zuschauer lange auf Höhepunkte, Bierhoff traf immerhin die Latte.

Nach der Pause der Schreck: Luis Hernandez, der blonde Mexikaner, versetzte drei Verteidiger und Köpke zum 0:1. Genau 43 Minuten blieben noch, das war das Gute daran. Aber hätte der Mexikaner Arellano eine Viertelstunde später nicht nur den Pfosten getroffen, es hätte böse enden können für den Europameister. In der Heimat bangen 24,08 Millionen vor den Fernsehgeräten - Straßenfeger WM.

Mit einem Kraftakt rissen wie gegen den Iran die beiden Stürmer Klinsmann (75.) und Bierhoff (87.) das Ruder herum, und in der Auslandspresse wurden wieder alte Klischees bemüht. „Am Ende schaffen es die Deutschen - wie immer“, stellte die Gazetta dello Sport fest, und Argentiniens Fußball-Weiser Luis Cesar Menotti kleidete sein Kompliment in herbere Worte: „Die Deutschen kommen alle aus einer Fabrik, und zwar aus einem Stahlwerk.“ Berti Vogts jedenfalls war erstmals zufrieden: „Das war mit Abstand die beste Leistung, und wir steigern uns weiter“, versprach er.

"Deutsche Fans gegen Gewalt"

Noch erfreulicher als die Tatsache, dass die Deutschen wieder am Mythos der Turniermannschaft strickten, war ein symbolischer Akt nach den Krawallen von Lens: Der DFB hatte vor dem Stadion 20.000 T-Shirts verteilt mit dem Aufdruck „Deutsche Fans gegen Gewalt“.

Am Abend des 29. Juni zogen auch die Nachbarn aus den Niederlanden nach. Gegen Jugoslawien entschied Edgar Davids in letzter Minute die Partie mit seinem Tor zum 2:1. Guus Hiddink gratulierte sich selbst dazu, mit der Auswechslung des von Wadenkrämpfen geplagten Davids noch einen Moment gezögert zu haben. So kam das Glück an diesem Abend in Toulouse zu dem Trainer, der warten konnte.

Das großartigste Achtelfinale stieg am 30. Juni in St. Etienne, wo England endlich Gelegenheit zur Revanche an Argentinien erhielt. Maradonas Hand-Tor von 1986 war unvergessen. Doch hinterher war die argentinische Wunde im englischen Fleisch noch tiefer. Das hochklassige Spiel ging nach 2:2 in die Verlängerung und dann ins Elfmeterschießen, was für England mehr Fluch als Segen ist. Es kam wie befürchtet: Zwei Engländer versagten, Paul Ince und David Batty.

Der wahre Sündenbock aber hieß David Beckham, der nach einem Revanchetritt kurz nach der Pause vom Platz flog und in den englischen Medien angeprangert wurde mit Wortschöpfungen wie „Beck home“. Dahinter verblasste die Glanztat eines Michael Owen, der 18-Jährige erzielte nach einem Solo eins der schönsten WM-Tore.

Weit glanzloser verlief das letzte Achtelfinale, in dem der deutsche Gegner ermittelt wurde. Davor Suker verwandelte einen Elfmeter, und Kroatien schickte Geheimfavorit Rumänien nach hause.

Italiens WM-Traum platzt am Kreidepunkt

Im Viertelfinale traf Frankreich auf die unbequemen Italiener, und 80.000 Zuschauer sahen in Paris das befürchtete Spiel. Nach zwei torlosen Stunden half nur noch eins: Elfmeterschießen. In dieser Disziplin haben auch die Italiener ihre Schwächen, und zum dritten Mal in Folge platzte ihr Titeltraum am Kreidepunkt. Albertini und Di Biagio verschossen, auf der Gegenseite nur Bixente Lizarazu.

Während Luigi di Biagio nach seinem Lattenschuss weinend zusammenbrach, erhielt Frankreichs Torwart Fabien Barthez nicht nur für seine Parade gegen Albertini einen Kuss von Laurent Blanc auf die leuchtende Glatze - ein Ritual nach jedem Sieg der Franzosen. Ihr Trainer Aime Jacquet philosophierte: „Im Elfmeterschießen kommt es auf die Nerven an, und die haben meine Spieler bewiesen.“ FIFA-Chef Blatter hatte so viel Mitleid mit den Italienern, dass er spontan für eine Abschaffung des Elfmeterschießens plädierte.

Beim Spiel zwischen Brasilien und Dänemark ließ sich alles in 90 Minuten regeln, dramatisch war es dennoch. Von 0:1 über 2:2 zum 3:2 führte Brasiliens Weg ins Halbfinale, Rivaldo war mit zwei Toren der Mann des Tages. Dänemarks Marc Rieper traf in letzter Minute nur die Latte, sonst hätten die 39.500 in Nantes noch mehr bekommen von diesem wunderbaren Spiel, das beste der WM bis dahin.

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Weltuntergangsstimmung in Lyon

Am 4. Juli sah die WM zwei weitere packende Spiele, doch in Deutschland möchte man diesen Tag liebend gern vergessen. In Lyon endete auch der zweite Versuch von Berti Vogts, Weltmeister zu werden, im Viertelfinale. Kurioserweise nach der über weite Strecken besten Leistung stand Deutschland am Ende mit leeren Händen da - ein heftiges 0:3 gegen Kroatien sorgte für Weltuntergangsstimmung. Es war ausgerechnet in seinem 100. Länderspiel die höchste Niederlage des Bundestrainers Vogts.

Wer war schuld? In seinem Zorn machte Vogts den Schiedsrichter und sogar die FIFA verantwortlich. „Vielleicht will man uns nicht bei dieser WM. Wir fahren nach Hause, warum auch immer, das haben andere Leute zu verantworten.“ Er regte sich über den Spiel entscheidenden Platzverweis für Christian Wörns nach einer Notbremse an Davor Suker auf. Eine bei genauer Betrachtung nachvollziehbare Entscheidung, die Gift für das bis dahin starke deutsche Spiel war. Denn Sekunden vor der Pause gingen die Kroaten in Führung, und in Unterzahl fiel die Aufholjagd doppelt schwer.

Die DFB-Auswahl versuchte es dennoch und hatten einige Chancen, aber als Goran Vlaovic in der 80. Minute einen Konter abschloss zum kroatischen 2:0, war alles entschieden, Suker setzte noch einen drauf gegen resignierende Deutsche. „Das war das Spiel unseres Lebens, das wir alle nie vergessen werden“, jubelte Zvonomir Boban. Kroatiens Fußball stand auf dem Gipfel, Deutschland fiel aus allen Wolken.

Das Ausland verspürte wenig Mitleid. „Noch mehr gute Nachrichten: Deutschland ist auch raus“, spottete News of the World, und die Gazetta dello Sport freute sich: „Kroatien schickt Deutschland in Rente. Die Deutschen praktizierten einen veralteten Fußball und wurden beerdigt.“ Deren Trainer blieb (vorerst) Berti Vogts. Es bedurfte vor allem einer neuen, jüngeren Mannschaft - das war die Erkenntnis von Frankreich

Am selben Tag feierten die Niederlande den Einzug unter die letzten Vier. In Marseille schoss Denis Bergkamp in der 90. Minute das 2:1 über Argentinien, das kurz zuvor einen Platzverweis erdulden musste. Aber auch die Holländer hatten schon Rot gesehen in dieser hart umkämpften Partie.

"Ein Denkmal für Thuram - sofort!"

Wie gegen Jugoslawien wollte der Torschütze die Auswechslung, aber Hiddink vertraute seinem Näschen: „Einen Bergkamp muss man immer drin lassen.“ Im Habfinale trafen unglücklicherweise die beiden spielerisch besten Mannschaften in Marseille aufeinander. Holland und Brasilien lieferten sich ein hochklassiges Duell, in dem Ronaldo seiner Bestimmung nachkam und Brasilien nur 19 Sekunden nach der Pause in Führung schoss. Patrick Kluivert, der Rotsünder in der Auftaktpartie, machte alles wieder gut mit seinem späten Ausgleich. Nach torloser Verlängerung mussten wieder Elfmeter geschossen werden, und diesmal zeigten die Holländer Nerven. Cocu und Ronald de Boer scheiterten an Claudio Taffarel und öffneten Brasilien das Tor zum Finale.

Dort wartete Frankreich. Denn der Gastgeber fand als erster ein Rezept gegen die Kroaten, die bis zur Pause ein 0:0 hielten. Held des Tages war ein absoluter Anti-Held: Abwehrspieler Lilian Thuram, der noch nie ein Tor für Frankreich erzielt hatte, ergriff nach dem schnellen Rückstand durch Suker (23 Sekunden nach Wiederanpfiff) die Initiative. Schon im Gegenzug glich er aus, und nach 70 Minuten traf der Mann aus Guadeloupe erneut. Dabei blieb es, und die Zeitung Le Parisien forderte „ein Denkmal für Thuram - sofort!“

Frankreichs Sieg wurde nur durch den Platzverweis für Laurent Blanc wegen Tätlichkeit getrübt. Er fehlte nun gegen Brasilien, das noch nie ein WM-Finale verloren hatte. Den Kroaten blieb nur das Spiel um Platz drei und die Erkenntnis, Opfer der eigenen Müdigkeit geworden zu sein. Stolz waren sie trotzdem, und Trainer Blazevic sagte: „Wir könnten genauso gut im Finale stehen.“

Im Gegensatz zu den Bulgaren 1994 schenkten sie das kleine Finale nicht ab und schlugen Holland mit 2:1. Suker sicherte sich mit seinem Siegtor die Torschützenkrone dieser WM, bei der er sechsmal traf. Kroatien war der beste WM-Neuling seit 1966, als auch Portugal auf Platz drei gestürmt war.

Entscheidende Schwächung von Ronaldo

Der König der Fußball-Welt sollte am 12. Juli 1998 in Paris gekrönt werden. Die Ausgangslage war völlig offen, für die Franzosen sprach der Heimvorteil, für Brasilien die Erfahrung und individuelle Klasse. Alles konnte man erwarten, nur kein 3:0 der gastgeber. Aber so kam es. Die Brasilianer gingen wie paralysiert in das Spiel. Warum, erfuhr man erst später.

Ronaldo hatte in der Nacht vor dem Spiel einen epileptischen Anfall, kam ins Krankenhaus, und Zagalo wollte ihn nicht aufstellen. Noch eine Stunde vor Anpfiff wurde der Starstürmer als Ersatzspieler gemeldet. Von Mannschaft und Sponsoren wurde angeblich jedoch Druck ausgeübt, und Zagalo soll nachgegeben haben.

Ein Fehler, Ronaldo war ein Ausfall und überließ einem anderen die Showbühne. Zinedine Zidane, bei dieser WM bis zu diesem Tag nicht so auffällig wie erwartet, erlebte einer Sternstunde. Zweimal ließ man ihn nach Ecken zum Kopfball hochsteigen, zweimal traf er. Brasilien war an diesem Abend nicht in der Lage zurückzuschlagen. Selbst als sich Frankreich durch Desaillys Platzverweis selbst schwächte, kam der Gegner nicht heran. Dagegen erhöhte Emanuel Petit in letzter Minute auf 3:0. Es war die letzte Minute dieser WM und ihr letztes Tor.

Danach feierte ein ganzes Land seine erste Weltmeisterschaft. Nicht immer kontrolliert, auf der Champs Elysees gab es 80 Verletzte, aber Frankreich empfand an diesem Tag keinen Schmerz. Eine für den Veranstalter großartige WM fand ein krönendes Ende, und auch der Gegner zollte Beifall. „Der Cup ist in guten Händen“, sagte Brasiliens Trainer Mario Zagalo gönnerhaft. Als hätte er geahnt, dass der WM-Pokal schon bald wieder nach Brasilien gehen sollte.