WM 1994: Glückstor bei Hitzeschlacht

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

17. Juni 1994 in Chicago - Gruppenspiel: Deutschland - Bolivien 1:0

Vor dem Spiel:

Der Bundestrainer Berti Vogts setzte bei seiner ersten WM auf den Geist von Rom und reaktivierte die schon zurück getretenen Weltmeister Rudi Völler (34) und Andreas Brehme (33). Auch Thomas Berthold (29), nach seinem Platzverweis 1991 in Wales drei Jahre kein Thema mehr, fand sich im Amerika-Flieger wieder. Erfahrung sollte der Trumpf des Titelverteidigers sein, der bei der EM 1992 Zweiter geworden war und Franz Beckenbauers Prophezeiung von Rom ("Auf Jahre hinaus nicht zu schlagen") ungewollt widerlegte. Das Aufgebot hatte ein Durchschnittsalter von 29,04, ein noch immer geltender Rekord der Verbandshistorie. Erst unmittelbar vor der WM entschied sich Vogts in der Torwartfrage für Bodo Illgner und gegen Andreas Köpke, so dass gegen Bolivien neun Weltmeister aufliefen. Die Ausnahmen: Matthias Sammer, der einzige aus der ehemaligen DDR, und Stefan Effenberg, der mit Florenz in Italiens 2. Liga spielte. Den Kader hielt selbst Beckenbauer für stärker als den von 1990, bei den großen Wettbüros wurden die Deutschen hinter Brasilien an zweiter Stelle geführt.

So sehr Vogts auch den Geist von Erba konservieren wollte, die Stimmung im "Oak Brook Hills"-Hotel von Chicago war weit schlechter. Drei mitgereiste Spielerfrauen, die sich über die Unterbringung im Nachbarhotel und Besuchszeiten beschwerten, sorgten für Wirbel. So setzten sich die Ehepaare Illgner und Effenberg bei einer Mannschaftsfeier vorzeitig ab. Kapitän Lothar Matthäus verständnislos: "So geht es nicht. Wir wollen kein Theater, wir wollen Weltmeister werden. Wir haben den ganzen Tag über das Thema gesprochen." Sogar in der Mannschaftssitzung. Bianca Illgner sorgte im "Stern" für weiteren Gesprächsstoff und ließ wissen: "Ich akzeptiere die Fußballwelt nur, weil mein Mann damit Geld verdient."

Es wurde höchste Zeit, dass endlich gespielt wurde. Als Weltmeister hatte man das Privileg, die WM zu eröffnen. Es gab einige Angeschlagene, außer Guido Buchwald konnten und durften sie alle spielen – das war 1994 die große Verbesserung. Zuvor wurden die Kader auf 16 Spieler pro Partie reduziert, nun gab es wenigstens keine Dreiklassengesellschaft mehr. Mit Bolivien hatte Deutschland es noch nie zu tun gehabt, die Favoritenrolle war unzweifelhaft. "Eigentlich sollten wir keine Probleme haben", sagte Matthäus. Sein Trainer entgegnete: "Er hat die Bolivianer nicht spielen sehen. Deshalb spricht er so. Die Bolivianer sind schon recht stark. Doch wenn wir schnell und klug spielen, packen wir sie." Und er fordert: "Wir wollen eine Welle erwischen, die uns bis zum Finale nach Los Angeles trägt."

Die Hoffnungen der Südamerikaner, die nur zwei von 13 Testspielen nach der Qualifikation gewannen, konzentrierten sich auf den 23 Jahre alten Stürmer Antonio Etcheverry, den sie "El Diablo" riefen. Allerdings war er seit Wochen verletzt. "Er ist für uns so wie Beckenbauer für Deutschland oder Maradona für Argentinien ist", sagte der Sportminister des Landes, der eigens für die WM-Vorbereitung die Aussetzung des Ligabetriebs anordnete. Die Nationalspieler sollten sich nur auf die dritte WM-Teilnahme des Landes konzentrieren. Trainer Xabier Azkagorta, ein Baske, fiel nicht nur durch seinen Schnurrbart auf, sondern auch durch flotte Sprüche: "Vor einem Erdbeben habe ich Angst. Aber nicht vor Deutschland."



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

17. Juni 1994 in Chicago - Gruppenspiel: Deutschland - Bolivien 1:0

Vor dem Spiel:

Der Bundestrainer Berti Vogts setzte bei seiner ersten WM auf den Geist von Rom und reaktivierte die schon zurück getretenen Weltmeister Rudi Völler (34) und Andreas Brehme (33). Auch Thomas Berthold (29), nach seinem Platzverweis 1991 in Wales drei Jahre kein Thema mehr, fand sich im Amerika-Flieger wieder. Erfahrung sollte der Trumpf des Titelverteidigers sein, der bei der EM 1992 Zweiter geworden war und Franz Beckenbauers Prophezeiung von Rom ("Auf Jahre hinaus nicht zu schlagen") ungewollt widerlegte. Das Aufgebot hatte ein Durchschnittsalter von 29,04, ein noch immer geltender Rekord der Verbandshistorie. Erst unmittelbar vor der WM entschied sich Vogts in der Torwartfrage für Bodo Illgner und gegen Andreas Köpke, so dass gegen Bolivien neun Weltmeister aufliefen. Die Ausnahmen: Matthias Sammer, der einzige aus der ehemaligen DDR, und Stefan Effenberg, der mit Florenz in Italiens 2. Liga spielte. Den Kader hielt selbst Beckenbauer für stärker als den von 1990, bei den großen Wettbüros wurden die Deutschen hinter Brasilien an zweiter Stelle geführt.

So sehr Vogts auch den Geist von Erba konservieren wollte, die Stimmung im "Oak Brook Hills"-Hotel von Chicago war weit schlechter. Drei mitgereiste Spielerfrauen, die sich über die Unterbringung im Nachbarhotel und Besuchszeiten beschwerten, sorgten für Wirbel. So setzten sich die Ehepaare Illgner und Effenberg bei einer Mannschaftsfeier vorzeitig ab. Kapitän Lothar Matthäus verständnislos: "So geht es nicht. Wir wollen kein Theater, wir wollen Weltmeister werden. Wir haben den ganzen Tag über das Thema gesprochen." Sogar in der Mannschaftssitzung. Bianca Illgner sorgte im "Stern" für weiteren Gesprächsstoff und ließ wissen: "Ich akzeptiere die Fußballwelt nur, weil mein Mann damit Geld verdient."

Es wurde höchste Zeit, dass endlich gespielt wurde. Als Weltmeister hatte man das Privileg, die WM zu eröffnen. Es gab einige Angeschlagene, außer Guido Buchwald konnten und durften sie alle spielen – das war 1994 die große Verbesserung. Zuvor wurden die Kader auf 16 Spieler pro Partie reduziert, nun gab es wenigstens keine Dreiklassengesellschaft mehr. Mit Bolivien hatte Deutschland es noch nie zu tun gehabt, die Favoritenrolle war unzweifelhaft. "Eigentlich sollten wir keine Probleme haben", sagte Matthäus. Sein Trainer entgegnete: "Er hat die Bolivianer nicht spielen sehen. Deshalb spricht er so. Die Bolivianer sind schon recht stark. Doch wenn wir schnell und klug spielen, packen wir sie." Und er fordert: "Wir wollen eine Welle erwischen, die uns bis zum Finale nach Los Angeles trägt."

Die Hoffnungen der Südamerikaner, die nur zwei von 13 Testspielen nach der Qualifikation gewannen, konzentrierten sich auf den 23 Jahre alten Stürmer Antonio Etcheverry, den sie "El Diablo" riefen. Allerdings war er seit Wochen verletzt. "Er ist für uns so wie Beckenbauer für Deutschland oder Maradona für Argentinien ist", sagte der Sportminister des Landes, der eigens für die WM-Vorbereitung die Aussetzung des Ligabetriebs anordnete. Die Nationalspieler sollten sich nur auf die dritte WM-Teilnahme des Landes konzentrieren. Trainer Xabier Azkagorta, ein Baske, fiel nicht nur durch seinen Schnurrbart auf, sondern auch durch flotte Sprüche: "Vor einem Erdbeben habe ich Angst. Aber nicht vor Deutschland."

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Bei 40 Grad im Schatten

Spielbericht:

Die WM beginnt an einem Freitag bei drückender Hitze. In Deutschland ist es 21 Uhr, in Chicago 14 Uhr mittags. Die Sonne drückt schon seit Tagen; über 40 Grad auf dem Platz im Schatten, 85 Prozent Luftfeuchtigkeit. Auf der Ehrentribüne schwitzt die Prominenz, die schon eine 45-minütige Eröffnungsfeier überstehen muss, um US-Präsident Bill Clinton und Bundeskanzler Helmut Kohl in ihren Anzügen. Während sie sich in klimatisierte VIP-Logen zurückziehen können, sind die Zuschauer der Hitze ausgesetzt. 70 kollabieren an diesem Tag auf dem "Soldier Field". Auch Franz Beckenbauer ist da, der einstige Teamchef des amtierenden Weltmeisters bringt den WM-Pokal ins Stadion. Für die ARD, die mit massiven Tonproblemen bei der Feier zu kämpfen hat, sitzen wieder Heribert Faßbender und Bayerns Vize-Präsident Karl-Heinz Rummenigge am Mikrofon. 19,32 Millionen sehen zu, mit Anpfiff legen sich glücklicherweise die Tonprobleme. Das Stadion ist ausverkauft.

Vogts hat sich in letzter Sekunde im Sturm für Karl-Heinz Riedle und gegen Mario Basler entschieden. Fünf Legionäre stehen in der Startelf, davon vier "Italiener" und ein "Franzose" (Klinsmann spielt für AS Monaco). Stefan Effneberg ist mit 25 Jahren der Jüngste. Gespielt wird im 3-5-2, Außenverteidiger gibt es nicht mehr. Deutschland startet beeindruckend, Klinsmann hat die erste Chance, kommt aber einen Schritt zu spät nach Riedles Vorlage. Jürgen Kohler sieht nach sieben Minuten die erste Karte dieser WM, die er als "lächerlich" betrachtet. Andreas Möller zieht auf links davon bis zur Grundlinie, seine Flanke köpft Riedle auf Torwart Carlos Trucco, der anschließend einen Dropkick von Sammer über die Latte lenkt. Nach 25 Minuten steht es nach Ecken schon 5:1 für den Weltmeister, der dem hohen Anfangstempo dann etwas Tribut zollt. Erwin Sanchez prüft Jubilar Illgner (50. Länderspiel) mit einem Aufsetzer aus 25 Metern, der Kölner wehrt zur Ecke ab. "Vom Weltmeister nichts Vernünftiges mehr zu sehen.", protokolliert die Bild diese schwache Phase. Nichts ist es geworden mit dem frühen Tor, das sie sich gerade wegen der Temperaturen so sehr gewünscht haben. Auch nichts mit der Pausenführung, die Riedle mit Gewalt erzwingen will, als er aus 22 Metern abzieht (44.). Dafür wird er von Mitspielern angeblafft und meckert zurück. Sichere Anzeichen von Nervosität, die auch Reporter Faßbender ergreift. Kostprobe: "Es steht 0:0 vor 30 Grad!" In der Halbzeit hängt alles an den Trinkflaschen, Illgner cremt sich das Gesicht ein – kein Fehler, die Behörden haben Ozonwarnung ausgegeben.

Bolivien beginnt die zweite Hälfte weit mutiger als die erste, Julio Cesar Baldivieso verzieht aus halblinker Position knapp. Vogts reagiert, bringt nach einer Stunde Mario Basler für Riedle. Kurz darauf fällt das erlösende Tor, das komödiantische Züge trägt. Matthäus versucht die Abseitsfalle mit einem Pass von der Mittellinie auszuhebeln. Was klappt. Häßler steht 30 Meter vor dem Tor völlig frei. Torwart Trucco rennt unmotiviert aus seinem Kasten, obwohl er den Ball, der Häßler zudem verspringt, niemals wird erreichen können. Dann rutscht der Keeper auch noch aus, während der Ball zum nachrückenden Klinsmann springt. Der läuft noch ein paar Schritte und schiebt von der Strafraumgrenze ins leere Tor. "Unser 1:0! Soooo glücklich", seufzt Bild. Gleich nach Wiederanstoß steht Luis Cristaldo frei im deutschen Strafraum, wird aber Opfer seiner Technik. Ihm verspringt der Ball in bester Position – wieder Glück für Deutschland. Bolivien setzt nach 79 Minuten den lange verletzten Heilsbringer Etcheverry ein, aber der bleibt nicht lange. In der 82. Minute kabbelt er sich mit Matthäus und erhält für ein Nachtreten die Rote Karte. Matthäus: "Er hat ein paar Worte zu mir gesagt, die ich nicht verstanden habe." Weil der Kapitän ihn nachäfft, rastet der Bolivianer aus.

Vogts bringt den leicht angeschlagenen Thomas Strunz für Häßler zur Absicherung des Ergebnisses und das gelingt. Erstmals gewinnt der Weltmeister ein Eröffnungsspiel und erstmals bekommt ein Sieger bei einer WM drei Punkte. Seine Spieler freilich verlieren bei der ersten Hitzeschlacht in Amerika "sechs bis acht Pfund", wie Teamarzt Wilfried Kindermann berichtet, "die Mannschaft hat 30 Liter an Mineralwasser mit Vitaminzusätzen verbraucht." Noch mehr Zahlen werden ans Tageslicht befördert. Mann des Tages ist Matthias Sammer, der die meisten Zweikämpfe (44) führt und gewinnt (33) und die zweitmeisten Ballkontakte (61) hat. So reimt Bild am Sonntag: "Matthias Sammer ist ein echter WM-Hammer", Vogts spricht von "seinem besten Länderspiel, seit wir den deutsch-deutschen Zusammenschluss haben." Weniger zufrieden ist er mit Möller, dem er noch in der Kabine taktische Fehler vorhält. Der deutsche Auftakt ist einer mit Höhen und Tiefen, die Kritiken fallen äußerst unterschiedlich aus. Sicher ist nur das Ergebnis – und das passt.

Aufstellung: Illgner – Berthold, Matthäus, Kohler – Effenberg, Sammer, Brehme, Hässler (83. Strunz), Möller – Klinsmann, Riedle (60. Basler).

Tore: 1:0 Klinsmann (61.).

Platzverweis: Etcheverry (82.).

Zuschauer: 63.117

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"Das war das beste Eröffnungsspiel seit Jahren"

Stimmen zum Spiel

Berti Vogts: "Das war das beste Eröffnungsspiel seit Jahren. Wir haben gut angefangen. Auf die ersten 20 Minuten des Spiels können wir aufbauen. Wir werden über unsere Fehler im Mittelfeld nachdenken. Unsere Stürmer müssen den Gegner mehr unter Druck setzen."

Lothar Matthäus: "Ich verlange mehr von der Mannschaft. Gegen Spanien müssen wir mit einer anderen Taktik spielen."

Mario Basler: "Mit mir kam die Wende. Das habe ich schon auf der Bank gesagt. Bei meiner Einwechslung rief ich dem Trainer zu: ‚Jetzt packen wir’s!‘ Es stimmte!"

Andreas Möller: "Wir müssen uns steigern, um das große Ziel zu erreichen."

Matthias Sammer: "Muss erst ein Spieler auf dem Platz umkippen, bis die Verantwortlichen erkennen, was sie angerichtet haben?"

Jürgen Klinsmann: "Lothar hat einen perfekten Pass gespielt und die Abseitsfalle der Bolivianer geknackt. Den Trick haben wir im Training oft geübt. Icke Häßler wollte den Ball weiter leiten, rutschte aber etwas aus, ebenso wie der Torwart. Und ich war da. Gut, dann hab ich das Ding reingemacht. Es war ein schwieriges Spiel. Wenn man da nicht sofort ein Tor macht, dann wird es ganz, ganz eng."

Xavier Azkagorta (Trainer Boliviens): "Das deutsche Tor war abseits und vorher Handspiel von Häßler. Ich frage mich: Wenn meine Spieler schon so gut gegen den Weltmeister sind, wie stark sind sie dann erst gegen die anderen?"

Marco Etcheverry: "Ich muss mich bei meinen Landsleuten entschuldigen. Mit meiner Dummheit habe ich unserer Nation geschadet. Ich habe mein Land im Stich gelassen. Bei Lothar Matthäus entschuldige ich mich auch."

"Hitze-Schlacht & Dusel-Tor- Aber Hauptsache, gewonnen, Berti!" (Bild)

"Die Qualität konnte sich in Anbetracht der Hitze und des unendlichen Drucks nach den quälenden Wochen der Vorbereitung sehen lassen. Wer mehr erwartet hatte, ist ein Phantast." (Kicker)

"Das ist Deutschland, wie es sich wiedervereinigt in Umarmungen und Schweißausbrüchen." (Chicago Tribune)

"Solide, die Deutschen. Sie sind schon ideal platziert, um sich zu qualifizieren." (L’Equipe/Paris)

"Deutschland überlebte eine dürre Partie. Die drei Punkte reichen, um ein schreckliches Spiel zu verbergen." (Diario 16/Madrid)

"Klinsmann und sonst nichts." (Gazetta dello Sport/Mailand)

"Bolivien tanzte, aber die Dusel-Deutschen haben drei Punkte." (Täglich alles/Wien)

"Das Tor von Klinsmann nach einer Stunde schalen Spiels kam wie ein Tropfen auf die ausgetrocknete Zunge." (The Times/London)

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