WM 1990: Legendäres Duell gegen England

"Wovon alle deutschen Sportfreunde träumten, ist nun Wirklichkeit"

Stimmen zum Spiel:

Franz Beckenbauer: "Das Spiel stand auf des Messers Schneide. Es war ein sehr attraktives Spiel, obwohl beide Mannschaften nur zwei Tage Erholung hatten. Ich muss beiden Teams ein Kompliment machen. Sie sind bis an die Grenzen gegangen, und darüber hinaus. Ich habe wenige Spiele in Erinnerung, die so gut waren. Beim Elfmeterschießen gewinnt immer der Glücklichere. Wir hätten genauso gut verlieren können. Ich glaube aber auch: wir haben verdient gewonnen, weil wir das Spiel über weite Strecken dominiert haben."

Lothar Matthäus: "Es war schwierig gegen so eine Elf, nur mit technischem Fußball zu gewinnen. Wir haben uns darauf eingestellt und dagegen gehalten. Ich glaube, dass dieses Spiel eine größere Werbung für den Fußball war als unser Spiel gegen Jugoslawien."

Olaf Thon: "Jetzt kann ich endlich sagen, dass ich wirklich zum Erfolg beigetragen habe. Das war ein Sprung von Null auf 95. Als wenn mir Petrus dreimal die Hand gegeben hätte. Aber der Franz kennt die Formel ‚Never change a winning team‘ nicht."

Klaus Augenthaler: "Bei uns hat keiner gesungen, wir waren fertig. Im Bus hat es alkoholfreies Bier gegeben, und ich bin danach in der Badewanne eingeschlafen."

Bobby Robson (Trainer Englands): "Für uns ist die WM vorbei, wir haben eine wichtige Rolle in diesem Turnier gespielt und uns bis ins Halbfinale gespielt. Wir können hoch erhobenen Hauptes und stolz nach Hause fahren. Zwischen den vier besten Mannschaften der Welt bestehen keine großen Unterschiede. Da ist es dann im Elfmeterschießen selbst in der Mannschaftssportart Fußball jedem Einzelnen überlassen, zu gewinnen oder zu verlieren. Wir sollten das Elfmeterschießen abschaffen. Das ist etwas für Bingo-Spieler, aber nichts für Fußballer." - Jahre später: "Es war die schlimmste Nacht meines Arbeitslebens."

Chris Waddle (England): "Wie konnte das nur passieren? Ausgerechnet mir! Ich habe noch nie einen Elfmeter verschossen."

"Illgner war der Held von Turin. Mit umgebauter Mannschaft schaffte das Beckenbauer-Team den Einzug ins Finale." (Kicker)

"5:4 Hurra Finale Elferdrama – Bodo, der Held" (Bild)

"Mit seiner Personalpolitik hatte Beckenbauer hoch gepokert – und gewonnen" (sid)

"Wovon alle deutschen Sportfreunde träumten, ist nun Wirklichkeit." (Deutsches Sportecho/DDR)

"Der Schmerz der Niederlage in einer grausamen Lotterie wird Stuart Pearce und Chris Waddle nie verlassen. Robson und Co gingen ehrenvoll." (Daily Express/England)

"Grausame Welt. Robsons Supermänner gingen erhobenen Hauptes, zu Hause fühlte ihr Land nichts als Stolz. Das ganze Turnier haben sie Blut und Schweiß vergossen – und am Ende Tränen." (Today/England)

"Was haben wir für eine Höllenshow geboten." (The Sun/England)

"Kein großes Deutschland, nur ein Deutschland, das ein bisschen weniger glanzlos ist als der Rivale." (Gazetta dello Sport/Italien)

"Deutschland, der wiedergefundene Feind." (Il Messagero/Italien)

"Der Fußball war der erste Sieger des Abends." (Kurier/Wien)

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Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

4. Juli 1990 in Turin - Halbfinale: Deutschland - England 4:3 i.E.

Vor dem Spiel:

Zurück in Erba, sahen sich die Deutschen am Bildschirm ihren kommenden Gegner an. Die meisten Spieler wünschten sich Kamerun, das gegen die Engländer schon 2:1 führte. Teamchef Franz Beckenbauer hatte dafür wenig Verständnis: "Die Engländer sind mir lieber als Kamerun. Nicht, weil ich sie als schwächer einstufe, sondern weil wir sie besser kennen und keiner auf den Gedanken kommt, sie zu unterschätzen." Schließlich wurden es doch die Engländer, die in der Verlängerung 3:2 siegten. Auf sie traf man schon zum vierten Mal bei WM-Endrunden, die Bilanz war ausgeglichen. In Italien hatten sie kaum überzeugt, mit 2:1 Toren die Vorrunde überstanden und sowohl im Achtelfinale gegen Belgien als auch gegen Kamerun eine Verlängerung gebraucht. Die dpa schrieb: "Italien bleiben die Hooligans ebenso erhalten wie der WM eine Mannschaft, die mit hölzernem und hausbackenem Fußball fast eine Beleidigung für den neutralen Beobachter ist." Das änderte nichts am britischen Selbstbewusstsein. "Ich denke, wir haben eine ganz gute Chance, Deutschland zu schlagen. Ich erwarte ein großes Spiel", sagte Torjäger Gary Lineker, der seinen erwarteten Widersacher Jürgen Kohler grüßte: "Gute Nacht, Mister Kohler, ich bin zu schnell für ihn." Englands Trainer Bobby Robson erhoffte gar "ein phantastisches Spiel. Wir werden kämpfen bis zum Umfallen." Die Polizei erwartete  in der Stadt und auf den Rängen auch angesichts der Erfahrungen bei dieser WM Kämpfe und setzte 8000 Beamte ein, um Engländer und Deutsche auseinanderzuhalten. Für 52 Stunden durfte in Turin kein Alkohol ausgeschenkt werden.

Erstmals spielte man also nicht in Mailand und so ging es am Dienstag, den 3. Juli, per Bus nach Turin. Die Fahrt dauerte nur zwei Stunden.

Am Spieltag rief Ehrenspielführer Fritz Walter im Hotel an und machte Mut: "Am 4. Juli sind wir unschlagbar", erinnerte er an Bern.

In der Sitzung verkündete Beckenbauer drei Änderungen: Rudi Völlers Sperre war abgelaufen, für ihn musste Karl-Heinz Riedle zurück auf die Bank. Das wurde erwartet. Völlig überraschend kam jedoch die Nominierung von Bayern Münchens Olaf Thon im Mittelfeld, Uwe Bein (Oberschenkelprellung) pendelte wieder raus. Thon erzählte später: "Als ich in den Bus nach Turin stieg, dachte ich: Fährste mit und konzentrierst dich langsam wieder auf den FC Bayern. Plötzlich kommt er (Beckenbauer; Anm. die Red.) zu mir und fragt: 'Traust Du Dir 90 Minuten zu?'" Thon bejahte, nicht ahnend dass es 120 Minuten werden würden. Auch das Comeback von Thomas Häßler hatten nur wenige auf der Rechnung, ihm musste sein Spezi Pierre Littbarski, der Kniebeschwerden hatte, weichen. Littbarski hielt sich zwar für hundertprozentig fit, doch der Kaiser kam nur auf "80 Prozent" und "wer nicht hundertprozentig fit ist, der spielt nicht." Es war ein großer Schachzug von Beckenbauer, Häßler ausgerechnet an seiner künftigen Wirkungsstätte – er wechselte zu Juventus Turin – wieder ins Team zu nehmen. Bisher hatte er als Verlierer der WM gegolten, was den Einstand bei Juventus erschwert hätte. Das konnte Häßler nun selbst korrigieren. Auch er war vom Donner gerührt: "Als er mir sagte, ich spiele, habe ich mich nicht mehr hingesetzt, bin nur noch mit feuchten Händen im Zimmer auf und ab gegangen. Wenn er das öfter machen würde, würde ich einen Herzinfarkt bekommen." Zumindest einer Depression waren Bein und Littbarski nahe, die nicht mal auf die Bank durften. Die Besetzung der beiden offensiven Mittelfeldpositionen war für Beckenbauer das größte Problem bei dieser WM, wobei er stets die Qual der Wahl hatte, aber nie Notlösungen finden musste.

Der Klassiker faszinierte die Medien, auf der Pressekonferenz in Erba fanden sich 300 Journalisten aus aller Welt ein. Die Boulevardzeitungen trommelten, wie bereits üblich, besonders laut vor diesem Duell. "Wir haben sie 1945 geschlagen, wir haben sie 1966 geschlagen und nun die Schlacht von 1990", warf die Sun Fußball und Krieg in einen Topf und rührte ein brodelndes Gebräu zusammen. Die Bild erwiderte am Spieltag balkengroß auf der Titelseite mit einem Zitat von Rudi Völler: "Good bye, England!"

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Klassiker vom Punkt: Deutschland gewinnt Elfmeterschießen

Spielbericht:

Das Stade de Alpi ist an diesem Mittwochabend (Anpfiff: 20 Uhr) nicht ausverkauft. Leere Ränge bei einem Halbfinale, das verstört etwas. Am Tag nach Italiens großer Depression über das Aus im Elfmeterschießen gegen Argentinien ist die Luft beim Gastgeber raus – Italien weint. Die offizielle Zuschauerzahl von 62.000 hat mit der Realität nichts zu tun, viele Ticketbesitzer kommen einfach nicht. So ist das Stadion fest in der Hand von Zuschauern aus den Nationen der Halbfinalisten – 30.000 Deutsche, 20.000 Engländer. Das Thermometer zeigt 27 Grad. Deutschland spielt erstmals in Italien – und zum achten Mal bei einer WM – in Grün. Nur das Finale 1986 wurde in diesen Farben verloren und war ein gefühlter Sieg. Auch ZDF-Reporter Dieter Kürten erinnert an die Magie der Hoffnungsfarbe, man habe "durchaus gute Spiele in Grün gemacht". Besonders 1972 in Wembley (3:1 im EM-Viertelfinale). Vor den Bildschirmen sitzen in der Heimat 21,8 Millionen Menschen.

Mit Anpfiff ist Deutschland das Land mit den meisten WM-Spielen (67), überholt das ausgeschiedene Brasilien. Lothar Matthäus, Thomas Berthold und Jürgen Klinsmann gehen nicht unbelastet ins Spiel, sie haben schon Gelb gesehen und würden bei einer weiteren Karte im Finale fehlen. "Mit dieser Bürde in eine Partie zu gehen, in der Du Dir zu keinem Zeitpunkt erlauben kannst, zurückzustecken, ist eine enorme psychische Belastung", gesteht Matthäus im Rückblick. Auch sein Gegenspieler Paul Gascoigne trägt sie. Drei personelle Änderungen also bei Deutschland, hinzu eine taktische: Guido Buchwald rückt in die Abwehrkette, soll sich um Peter Beardsley kümmern, Brehme geht vor ins Mittelfeld. Schon in der ersten Minute prüft Paul Gascoigne nach einer in die Mitte abgewehrten Ecke Bodo Illgner mit einem 20-Meter-Schuss, den der Kölner um den Pfosten lenkt.

Das Spiel, das hinterher hymnisch gefeiert werden wird, braucht seine Zeit, sich zu dem Klassiker zu entwickeln, der er geworden ist. Deutsche Chancen gibt es in der ersten halben Stunde kaum, bis auf einen abgefälschten Häßler-Schuss. Beide Teams ziehen sich bei generischem Ballbesitz weit zurück. Im Mittelfeld gibt es Räume, umso enger werden die Spitzen markiert. Von Klinsmann, dem viele Bälle verspringen, und Völler ist wenig zu sehen, auch Berardsley und Lineker werden eng bewacht. England hat durch Stuart Pearce und erneut Gascoigne noch zwei Gelegenheiten, bezeichnenderweise durch Weitschüsse. Co-Kommentator Otto Rehhagel stellt fest: "Die Engländer haben keine Angst vor uns." Dann ereilt Rudi Völler wieder mal das Pech. Des Walker holt ihn rüde von den Beinen, er schießt den Ball ins Aus, um sich behandeln zu lassen. Ein Nerv in der Wade ist getroffen, Taubheit befällt sein rechtes Bein. Nach sechs Minuten in Unterzahl fällt die Entscheidung: er muss raus und wie gegen die Holländer noch vor der Halbzeit. Diesmal wenigstens darf man ihn ersetzen, es kommt Karl-Heinz Riedle. Völler wird von den Ärzten gestützt und in die Kabine gebracht, die Fans rufen seinen Namen. Und wie gegen die Niederlande hat sein Aus einen Trotzeffekt. Die Mannschaft rafft sich auf, macht mehr Druck, dominiert nun. Schon eine Minute nach dem Wechsel gibt es einen indirekten Freistoß. Der Ball kommt zum in der Bundesliga gefürchteten Scharfschützen Klaus Augenthaler, der ihn über den Außenspann rutschen lässt. Englands 40 Jahre alter Torwart Peter Shilton streckt sich – es gibt eine Ecke. Den Linksschuss von Thon hält er sicher. Mit 0:0 werden die Seiten gewechselt.

Aus dem Spiel heraus scheint an diesem Mittwoch kein deutsches Tor möglich, schon gegen die Tschechen hat es einen Elfmeter gebraucht, den Bann zu brechen. Diesmal ist es ein Freistoß. Häßler holt ihn heraus. 22 Meter, halbrechte Position. Brehme steht bereit, was Co-Kommentator Otto Rehhagel an etwas erinnert: "Wie gegen Frankreich in Mexiko. Mach’s nochmal, Andy!" Er hört es gewiss nicht, aber er gehorcht. Mit links zieht der Wahl-Mailänder ab, Paul Parker rennt aus der Mauer und fälscht den Ball ab. Der fällt in hohem Bogen über Shilton ins Tor. Dieter Kürten will einen Torwartfehler gesehen haben, Rehhagel widerspricht ("Der war doch abgefälscht"). Die wütende Antwort der Briten: ein Kopfball von Gascoigne – knapp vorbei. Beckenbauer will den Vorsprung über die Zeit retten, bringt den defensiven Stefan Reuter für Häßler, der "bis zu seiner Auswechslung der fleißigste und kreativste Spieler" war (Kicker). Der Plan geht nicht auf. In der 80. Minute flankt Parker von rechts, fast von der Mittellinie, an den Strafraum, wo drei Deutsche um Gary Lineker kreisen. Jürgen Kohler geht halbherzig zum Ball, legt ihn Lineker mit dem Oberschenkel unfreiwillig auf. Lineker fackelt nicht lange und schießt in die lange Ecke. Dieter Kürten will schon wieder einen Torwartfehler gesehen haben und ruft schon bei der Flanke: "Torwart, wo bist Du?" Damit liegt er völlig daneben, schließlich hätte Illgner an die Strafraumgrenze kommen müssen, wo drei Mitspieler standen. Otto Rehhagel diagnostiziert ausweichend, in der Abwehr habe "eine Konfusion stattgefunden." Und die hat Folgen: Es gibt Verlängerung.

In der taut plötzlich der bis dahin so glücklose Klinsmann auf. Nach einer Brehme-Ecke steigt er am höchsten, doch Shilton hält seinen Kopfball. Dann schlenzt Augenthaler den Ball in seinen Lauf, Klinsmann schließt volley mit links ab, es fehlen nur Zentimeter. Noch wird der Finalteilnehmer gesucht, einer aber sperrt sich selbst: Paul Gascoigne begeht ein unnötiges Foul an der Mittellinie an Berthold und erhält die zweite Gelbe Karte – eine zu viel fürs Endspiel. In der 105. Minute hält Fußball-Deutschland den Atem an. Nach einer zu kurzen Abwehr kommt der Ball in hohem Bogen zurück zu Chris Waddle, der am linken Strafraumeck frei zum Schuss kommt. Er trifft den Pfosten! Der brasilianische Schiedsrichter mit dem englischen Namen, Mr. Wright, bittet letztmals zum Seitenwechsel. Die Prognosen der Experten, die Engländer müssten im dritten verlängerten Spiel in Folge gewiss einbrechen, laufen ins Leere. Bis zuletzt kämpfen beide Teams um den Sieg, die Höhepunkte jagen sich je näher der Abpfiff kommt. Gefährliche Fernschüsse von Thon und Brehme, ein Schlenzer von Trevor Steven aus spitzem Winkel, den Illgner pariert und dann – man schreibt die 117. Minute – noch ein Pfostenschlenzer von Guido Buchwald. "Das macht Spaß, ein solches Spiel zu übertragen", jauchzt Kürten ins Mikrofon und bilanziert: "In diesen 120 Minuten wurde kein Zentimeter verschenkt." Aber sie haben keinen Sieger zu Tage gefördert, es gibt ein Nachspiel.

Zum dritten Mal bei einer WM muss Deutschland ins Elfmeterschießen, verloren hat man nie und das soll so bleiben. Doch wer sind die fünf Schützen? Brehme, Matthäus sind schnell gefunden, aber Buchwald und Reuter ("Nicht unbedingt") geben Beckenbauer einen Korb. Olaf Thon stellt sich zur Verfügung und "auch Thomas Berthold sieht so aus, als hätte es ihn getroffen", sagt Kürten. Einer fehlt noch, Völler ist ja nicht mehr dabei. Karl-Heinz Riedle, wie Thon kein Stammspieler bei dieser WM, zeigt Courage. Der Bremer sagt zu Beckenbauer: "Wenn kein anderer da ist, dann schieß ich halt." Riedle ist der Risikofaktor in dieser Lotterie, wie Beckenbauer später zugeben wird. "Für mich war klar: wenn der Kalle Riedle seinen Elfmeter verwandelt, dann gewinnen wir das Spiel. Denn die anderen waren ganz einfach sicher." So sagt er es schon auf dem Platz zu Völler, der neben ihm steht. Und wieder einmal soll der Kaiser Recht behalten.

Die ersten drei Schützen beider Teams verwandeln. England legt immer vor, durch Lineker, Beardsley und David Platt, Brehme, Matthäus und Riedle gleichen aus. Als sich Stuart Pearce den Ball nimmt, sagt er zu Illgner auf Englisch: "It’s my ball." Illgner berichtet am nächsten Tag: "Dann hat er listig gegrinst. Er wollte mich fertig machen. Ich habe gespürt: der ist nervös, mit dem stimmt was nicht. Den hast Du im Sack." Auf der Pressetribüne sagt Kürten gerade: "Je dichter es dran geht, desto mehr flattern die Nerven." Zwei Sekunden später hält Illgner, der nicht als Elfmetertöter gilt, den zentral platzierten Schuss mit dem Knie. Vorteil Deutschland. Nun kommt Thon, "den Du nachts um drei wecken kannst zum Elfmeterschießen und er sagt: kein Problem!" (Beckenbauer). Souverän verwandelt der damalige Bayern-Spieler. Matchball für Deutschland. Chris Waddle von Olympique Marseille kann die Entscheidung noch hinauszögern, Schon an seinem Anlauf mit vorgebeugter Haltung will mancher erkannt haben: der verschießt. Waddle will es jedenfalls schnell hinter sich bringen, vieles erinnert an Uli Hoeneß 1976 in Belgrad. Vollspann übers Tor. Der Daily Telegraph schreibt von "seinem Versuch, den Ball in den Weltraum zu jagen." Der Ball bleibt dann doch im Stadion, aber das deutsche Tor findet er nicht und "damit sind wir’s", jubelt Kürten. Noch nicht Weltmeister, aber Sieger im großartigen Halbfinale von Turin. Zum dritten Mal in Folge erreicht Deutschland das WM-Finale – Weltrekord.

Aufstellung: Illgner – Berthold, Augenthaler, Kohler, Brehme – Buchwald, Matthäus – Thon, Hässler (67. Reuter) – Völler (38. Riedle), Klinsmann.

Tore: 1:0 Brehme (60.), 1:1 Lineker (80.). Elfmeterschießen: 1:2 Lineker, 2:2 Brehme, 2:3 Beardsley, 3:3 Matthäus, 4:4 Platt, 4:4 Riedle, Pearce scheitert an Illgner, 5:4 Thon, Waddle verschießt.

Zuschauer: 62.628 in Turin

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"Wovon alle deutschen Sportfreunde träumten, ist nun Wirklichkeit"

Stimmen zum Spiel:

Franz Beckenbauer: "Das Spiel stand auf des Messers Schneide. Es war ein sehr attraktives Spiel, obwohl beide Mannschaften nur zwei Tage Erholung hatten. Ich muss beiden Teams ein Kompliment machen. Sie sind bis an die Grenzen gegangen, und darüber hinaus. Ich habe wenige Spiele in Erinnerung, die so gut waren. Beim Elfmeterschießen gewinnt immer der Glücklichere. Wir hätten genauso gut verlieren können. Ich glaube aber auch: wir haben verdient gewonnen, weil wir das Spiel über weite Strecken dominiert haben."

Lothar Matthäus: "Es war schwierig gegen so eine Elf, nur mit technischem Fußball zu gewinnen. Wir haben uns darauf eingestellt und dagegen gehalten. Ich glaube, dass dieses Spiel eine größere Werbung für den Fußball war als unser Spiel gegen Jugoslawien."

Olaf Thon: "Jetzt kann ich endlich sagen, dass ich wirklich zum Erfolg beigetragen habe. Das war ein Sprung von Null auf 95. Als wenn mir Petrus dreimal die Hand gegeben hätte. Aber der Franz kennt die Formel ‚Never change a winning team‘ nicht."

Klaus Augenthaler: "Bei uns hat keiner gesungen, wir waren fertig. Im Bus hat es alkoholfreies Bier gegeben, und ich bin danach in der Badewanne eingeschlafen."

Bobby Robson (Trainer Englands): "Für uns ist die WM vorbei, wir haben eine wichtige Rolle in diesem Turnier gespielt und uns bis ins Halbfinale gespielt. Wir können hoch erhobenen Hauptes und stolz nach Hause fahren. Zwischen den vier besten Mannschaften der Welt bestehen keine großen Unterschiede. Da ist es dann im Elfmeterschießen selbst in der Mannschaftssportart Fußball jedem Einzelnen überlassen, zu gewinnen oder zu verlieren. Wir sollten das Elfmeterschießen abschaffen. Das ist etwas für Bingo-Spieler, aber nichts für Fußballer." - Jahre später: "Es war die schlimmste Nacht meines Arbeitslebens."

Chris Waddle (England): "Wie konnte das nur passieren? Ausgerechnet mir! Ich habe noch nie einen Elfmeter verschossen."

"Illgner war der Held von Turin. Mit umgebauter Mannschaft schaffte das Beckenbauer-Team den Einzug ins Finale." (Kicker)

"5:4 Hurra Finale Elferdrama – Bodo, der Held" (Bild)

"Mit seiner Personalpolitik hatte Beckenbauer hoch gepokert – und gewonnen" (sid)

"Wovon alle deutschen Sportfreunde träumten, ist nun Wirklichkeit." (Deutsches Sportecho/DDR)

"Der Schmerz der Niederlage in einer grausamen Lotterie wird Stuart Pearce und Chris Waddle nie verlassen. Robson und Co gingen ehrenvoll." (Daily Express/England)

"Grausame Welt. Robsons Supermänner gingen erhobenen Hauptes, zu Hause fühlte ihr Land nichts als Stolz. Das ganze Turnier haben sie Blut und Schweiß vergossen – und am Ende Tränen." (Today/England)

"Was haben wir für eine Höllenshow geboten." (The Sun/England)

"Kein großes Deutschland, nur ein Deutschland, das ein bisschen weniger glanzlos ist als der Rivale." (Gazetta dello Sport/Italien)

"Deutschland, der wiedergefundene Feind." (Il Messagero/Italien)

"Der Fußball war der erste Sieger des Abends." (Kurier/Wien)

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