WM 1990: Ein Matthäus-Elfmeter reicht fürs Halbfinale

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

1. Juli 1990 in Mailand - Viertelfinale: Deutschland - Tschechoslowakei 1:0

Vor dem Spiel:

Sechs Tage Pause lagen zwischen Achtel- und Viertelfinale, die trotzdem nicht langweilig wurden. Nicht nur, weil der Vorstand des 1. FC Köln vorbeikam und im deutschen WM-Quartier die Entlassung von Trainer Christoph Daum, der auch nach Erba geladen wurde, verkündete. Ein seltsamer Vorgang, der bei Teamchef Franz Beckenbauer Kopfschütteln hervorrief. Ansonsten war die Stimmung bestens. In der Nacht nach dem Sieg über die Holländer stieg eine große Feier in Erba, der Kaiser genehmigte es und nahm selbst daran teil. Am nächsten Tag sagte Beckenbauer vor der Presse über sein Team: "Ich war bei fünf Weltmeisterschaften dabei. Das ist die beste Mannschaft, die ich gesehen habe." Am wenigsten war Rudi Völler zum Feiern zumute und Beckenbauer berichtete später: "Wir brauchten Stunden, um ihn zu beruhigen. Ich habe ihn dann beiseite genommen und ihm gesagt: "Mensch Rudi" viel wichtiger ist es doch, dass Du im Endspiel in Deinem Stadion in Rom dabei bist."“

Dennoch ließ der DFB nichts unversucht und legte Protest ein gegen die Karten für Völler und Lothar Matthäus. Doch vergeblich, weder Völlers Sperre noch Matthäus‘ Verwarnung wurden aufgehoben. Die beiden wurden an jenem Dienstag, zwei Tage nach dem Spiel, nicht einmal angehört. Die Fifa entschied: "Ein Protest ist nur gegen einen technischen Fehler des Schiedsrichters möglich, nicht aber gegen eine Tatsachenentscheidung."

Nur ein kleiner Trost für Völler, dass sein Widersacher und Provokateur Frank Rijkaard für drei Spiele gesperrt wurde, während seine Pause sich auf das Viertelfinale beschränkte. Dort wurde er von Karlheinz Riedle vertreten, außerdem blieb erstmals Stefan Reuter draußen – für ihn kehrte Uwe Bein in die Elf zurück. Thomas Häßler war dagegen erstmals gar nicht im 16er Kader. Körperlich und seelisch angeschlagen, war er keine Alternative. Seine Stimmung änderte sich auch nach dem Bootsausflug über den Comer See, den die ganze Mannschaft machte, nicht.

Ansonsten war der Optimismus groß, selbst Beckenbauer sprach schon vom Finale – "und da ist es mir egal, ob wir gegen Italien oder Argentinien spielen." Kurz vor dem Spiel schärfte er aber doch noch mal die Sinne für die nächste Aufgabe: "Nur mit der Einstellung wie gegen Holland ist das Halbfinale zu erreichen." Die Tschechen waren in ihrer Gruppe Zweiter geworden und nur Gastgeber Italien unterlegen (0:2). Im Achtelfinale gegen Costa Rica hatten sie den höchsten Sieg geschafft (4:1) und nur die Deutschen hatten bei dieser WM noch ein Tor mehr geschossen als sie (12/11). Trainer Josef Venglos sagte: "Wir haben unser Soll bereits erfüllt, nun aber Appetit auf mehr bekommen."

In ihrer Elf standen drei Bundesligaprofis, zwei vom kleinen FC St. Pauli – Jan Kocian und Ivo Knoflicek – und einer von Mönchengladbach – Petr Straka. In Tomas Skuhravy hatten sie den führenden Torschützen der WM in ihren Reihen (fünf Treffer), um ihn würde sich Jürgen Kohler kümmern. Erst fünf Wochen zuvor war man in Düsseldorf aufeinander getroffen, das Testspiel gewann Deutschland 1:0. "So einfach werden sie es uns nicht wieder machen", glaubte der Kaiser zu wissen, "das wird wieder ein ganz anderes Spiel." Aber 92,4 Prozent der Deutschen glauben laut einer Wickert-Umfrage an den Sieg.

So wichtig das Spiel auch ist, die Nachrichtenlage dominiert ein anderes Ereignis. Die Tagesschau beginnt ihre Sendung so:

"Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Guten Abend, meine Damen und Herren. Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzkontrollen ist die Einheit Deutschlands seit heute, Null Uhr, praktisch vollzogen. Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist in Kraft getreten."

Heißt: Die D-Mark gilt nun auch im Osten, Deutschland wächst noch vor der politischen Einheit wirtschaftlich zusammen. Dazu hat auch die Nationalmannschaft etwas zu sagen. "Ich habe die wirtschaftliche Enge und die gesellschaftlichen Zwänge in der DDR bei vielen Besuchen kennengelernt. Deswegen begrüße ich die Union", sagt Beckenbauer. Und Pierre Littbarski glaubt: "Für die DDR-Bürger muss das der glücklichste Augenblick seit Jahren sein."

Matthäus schießt Deutschland ins Halbfinale

Spielbericht:

Um den historischen Sonntag abzurunden, müssen nur noch die Fußballer ins Halbfinale einziehen. Die ARD überträgt das fünfte und letzte Spiel in San Siro (20,9 Millionen Zuschauer) zum zweiten Mal findet es am frühen Abend (17 Uhr) statt. Damit haben die Deutschen gegen Kolumbien schlechte Erfahrungen gemacht. Doch das ist zunächst kein schlechtes Omen. Die Mannschaft spielt auch bei 33 Grad Hitze beeindruckend auf. Die erste Chance haben dennoch die Tschechen, den Freistoß von Michal Bilek lenkt Bodo Illgner gerade noch über die Latte. In der 18. Minute kann Guido Buchwald gleich zweimal ein Tor schießen, doch seinen Volleyschuss lenkt wehrt Jan Stejskal zur Ecke ab und als Brehme den Ball auf Buchwalds Kopf zirkelt, rettet Ivan Hasek für seinen Torwart. Das 1:0 liegt in der Luft und lässt nicht mehr lange auf sich warten. Jürgen Klinsmann holt es heraus, dribbelt sich im tschechischen Strafraum durch die Reihen und wird von Petr Straka und Joszef Chovanec in die Zange genommen und kommt zu Fall. Der Schiedsrichter, der wie der Bundeskanzler heißt, aber aus Österreich kommt, zeigt auf den Punkt. Im tschechischen Fernseher wird das nach dem Spiel so kommentiert: "Schiedsrichter Helmut Kohl aus Österreich war der zwölfte Spieler in der deutschen Mannschaft. Mit so einem Namen kein Wunder." Objektive Betrachter haben indes keinen Zweifel an der Berechtigung des Elfmeters. Lothar Matthäus führt entschlossen aus und drischt mit Vollspann hoch in die rechte Ecke. Es ist schon das Tor zum Halbfinale, aber das weiß noch keiner. Freude auf den Rängen, wo mittlerweile 50.000 Deutsche "La Ola" inszenieren. Bis zur Pause passiert nicht mehr viel, abgesehen von Haseks erneuter Rettungstat auf der Linie, diesmal nach einem Klinsmann-Schuss. Die knappe Pausenführung schmeichelt den Tschechen, Deutschland macht ein überzeugendes Spiel – bis dahin. Die dpa analysiert: "Beckenbauers Truppe gewann fast jeden Zweikampf, war immer einen Schritt schneller und hielt die CSFR durch Pressing schon an deren Strafraum von einem systematischen Spielaufbau ab. Daß dennoch relativ wenig eindeutige Tormöglichkeiten heraussprangen, lag daran, daß die Tschechen und Slowaken fast jeden Angriff durch Fouls kaputtmachten." Vier der fünf Verwarnungen dieser Partie gehen an die Tschechen.

In der Halbzeit deutet sich das Kaisergrollen, das noch kommen wird, schon an. Zu Klinsmann, der sich mit Hackentricks versucht hat, sagt er scharf: "Du bist nicht Pelé, du bist Klinsmann."

Die zweite Halbzeit beginnt mit einem deutschen Dreierschlag, Littbarski schießt aus der zweiten Reihe, Stejskal pariert mit Mühe (46.). Eckstoß Andreas Brehme, Kopfball Buchwald, Rettungsaktion von Bilek auf der Linie (47.). Schuss von Uwe Bein aus spitzem Winkel – Stejskal ist da (48.). Wer dieses Spiel gewinnen will, wird deutlich in dieser Phase nach Wiederanpfiff. Nach 62 Minuten muss es eigentlich entschieden sein. Bein taucht am Fünfmeterraum vor Stejskal auf, der fährt ihm mit gestrecktem Bein in die Parade. Wenn das kein Elfmeter ist! Es gibt zumindest keinen, obwohl selbst der tschechische Torwart Bein noch auf dem Platz gesteht, es sei ein Foul gewesen. Helmut Kohl will seinen Fehler wohl wieder ausbügeln, als er acht Minuten später Lubomir Moravcik vom Platz stellt. Der hat aus Wut darüber, dass Littbarskis Schubser an ihm nicht mit Elfmeter geahndet wird, seinen linken Schuh hoch in die Luft geschleudert. Für Kohl offenbar eine Attentatsversuch, zumindest respektlos. Da der Tscheche schon verwarnt ist, wird er vom Feld gestellt. 20 Minuten noch, ein Mann mehr, ein Tor mehr – was soll noch passieren?

Beckenbauer erwartet, dass seine Mannschaft nun Ball und Gegner laufen lässt und das Spiel kontrolliert und souverän über die Bühne bringt. Doch sie tut es nicht. Die Spieler verzetteln sich in Einzelaktionen, überflüssige Dribblings kosten Kraft und Nerven – und so manchen Ball. Die TV-Zuschauer sehen einen zunehmend ungehaltenen Teamchef. Wild gestikuliert er, unentwegt schreit er. "Über Lothar Matthäus und Klaus Augenthaler habe ich versucht, unser Spiel zu korrigieren", sagt er später. Dann holt er sich Brehme an den Spielfeldrand und trägt ihm allen Ernstes auf, Klinsmann keinen Ball mehr zu geben. Auswechseln aber tut er Uwe Bein, Andy Möller kommt zu seinem zweiten WM-Einsatz. Schließlich fragt er offenbar einen Balljungen, ob er nicht mitspielen wolle…

Die dezimierten Tschechen haben sogar noch eine Ausgleichschance, Joker Vaclav Nemecek scheitert jedoch an Illgner. Dann ist Schluss. Während die deutschen Anhänger jubeln und singen, rennt Beckenbauer wutentbrannt in die Kabine, wo er noch mal richtig Dampf ablässt. "In der Kabine war eine Stimmung, als ob wir verloren hätten", berichtet Klaus Augenthaler, "Wie ein Wirbelwind ist er auf jeden los. Ich habe zugesehen, so schnell wie möglich ins Entmüdungsbecken zu kommen. Aber selbst da kam er hinterher und wütete. Zum Glück war es im Bad so heiß, dass er es dort nicht lange aushielt." Lothar Matthäus weiß noch 25 Jahre später zu berichten: "Er hat erst mal alle Offiziellen rausgeworfen. Das war schon sehr ungewöhnlich. Nur wir Spieler und die medizinische Abteilung sollten bleiben. Die Mediziner haben sich dann ganz schnell in das hintere Behandlungszimmer verdrückt. Auch ein paar Spieler schlichen sicherheitshalber schon mal in Richtung Entmüdungsbecken. Aber da waren sie letztlich auch nicht sicher. Franz rannte auch dort hin. Ein paar Medizinkoffer standen dummerweise im Weg. Unter anderem ein Plastikkoffer, rund vierzig mal dreißig Zentimeter, bis zum Rand gefüllt mit Eiswürfeln. Da hat der Franz erst mal mit voller Wucht gegen den Schwingverschluss getreten. Die Würfel flogen im hohen Bogen durch die Kabine… Im Nachhinein eigentlich schade, dass das niemand aufgenommen hatte." (Aus "25 Jahre Weltmeister", Teil der Magazinreihe 54 74 90 14).

Aber sie haben gewonnen. Zum neunten Mal hat Deutschland ein Halbfinale erreicht, das ist Weltrekord. Nach fünf Spielen in Mailand gilt es Abschied zu nehmen von San Siro. Die Abenteuerreise geht weiter – nächstes und vorletztes Ziel ist Turin.

Aufstellung: Illgner – Berthold, Augenthaler, Kohler – Buchwald, Matthäus, Brehme – Littbarski, Bein (83. Möller) – Riedle, Klinsmann.

Platzverweis: Moravek (70.).

Tore: 1:0 Matthäus (25., Foulelfmeter)

Zuschauer: 73.347 in Mailand

"Die deutsche Mannschaft ist reif für Rom"

Stimmen zum Spiel:

Franz Beckenbauer: "Dümmer kann man sich nicht mehr anstellen. Wir haben gegen zehn Tschechoslowaken schlechter ausgesehen als gegen elf. Das müssen wir analysieren. Das Wichtigste ist jedoch, dass wir im Halbfinale sind. Wir müssen Konsequenzen ziehen, sonst haben wir keine Chance. Alles, was wir in den ersten vier Spielen gut gemacht haben, haben wir heute nicht gut gemacht. Was ich den Spielern in der Kabine gesagt habe, kann ich nicht widergeben."

Pierre Littbarski: "Wir hätten in der zweiten Halbzeit ein bisschen mehr machen können. Bei uns hat zum Schluss die Angst mitgespielt. Bei der Hitze fiel das Laufen immer schwerer. Dennoch, wir sollten uns über das 1:0 freuen."

Rudi Völler: "Es ist bitter, wenn man zuschauen muss. Ich habe während der 90 Minuten mindestens 48mal auf die Uhr geschaut. Es hat uns einfach das zweite Tor gefehlt."

Andreas Brehme (in seiner Biographie): "In der Kabine hat uns Franz Beckenbauer ordentlich zusammengestaucht. Er war zurecht enttäuscht und unzufrieden, wir wußten, daß die Standpauke berechtigt war."

Karl-Heinz Rummenigge (Ex-Nationalspieler): "Ich würde nicht sagen, dass die deutsche Mannschaft enttäuscht hat. Es herrschten Sauna-Temperaturen, das muss man berücksichtigen."

Dr. Joszef Venglos (Trainer der CSFR): "Wir hatten Probleme im Mittelfeld. Wir haben nicht homogen genug gespielt. Das Ausscheiden tut mir leid und wir sind alle sehr traurig, haben aber keinen Grund, uns zu ärgern. Sport ist Sport…Deutschland wird im Endspiel stehen. Matthäus und Klinsmann zählen zu den besten Spielern der WM."

Vaclav Havel (Präsident der CSFR): "Ihr habt Großes für unser Volk geleistet und unser Land vor den Augen der Welt gut vertreten."

Frantisek Straka (CSFR): "Wir haben gegen den kommenden Weltmeister verloren. Aber ich kann die FIFA nicht verstehen, einen Österreicher die Begegnung mit Deutschland pfeifen zu lassen. Die Deutschen haben sogar Du zu ihm gesagt."

Jan Stejskal (CSFR): "Ein unmöglicher Elfmeter, den Klinsmann geschickt provoziert hat."

"Die deutsche Mannschaft ist reif für Rom. Vor 73.347 Zuschauern zeigte die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer lange Zeit, was in ihr steckt. Vor allem aber nach dem Platzverweis für Moravcik (70.) spielte sie ihr wahres Können nicht aus und ließ sich das Spiel aus der Hand nehmen. Dadurch wurde in den zweiten 45 Minuten der glänzende Eindruck der ersten Halbzeit doch noch relativiert." (dpa)

"Im Gegensatz zu den Turnieren 1982 und 1986 ist unsere Nationalelf vor allem dank spielerischer Leistungen ins Halbfinale vorgedrungen…Endlich wurde sie mit der Aufgabe fertig, Spiele ‚machen‘ zu müssen. Das gelang ihr auch eine Stunde lang gegen die defensiv eingestellte CSFR. Doch dann lockerte sie selbst den Druck." (Kicker)

"Der Favorit aus Deutschland ist weiter, aber er musste viel Schweiß lassen." (Sport/CSFR)

"Es war ein Abschied mit Ehre für unser Team. Deutschland hatte Angst bis zur letzten Minute. Es muss für den Strafstoß dankbar sein." (Mlada fronta/CSFR)

"Die Deutschen sehen furchterregend für England aus. Sie dominierten ein fesselndes Viertelfinale, konnten aber aus ihren Vorteilen nicht genug Kapital schlagen." (Daily Telegraph/England)

"Die deutsche Maschine zermalmt weiter. Vergesst das Resultat. Dies war eine einschüchternde deutsche Leistung, die bis nach Rom widerhallen wird." (The Times/England)

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Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

1. Juli 1990 in Mailand - Viertelfinale: Deutschland - Tschechoslowakei 1:0

Vor dem Spiel:

Sechs Tage Pause lagen zwischen Achtel- und Viertelfinale, die trotzdem nicht langweilig wurden. Nicht nur, weil der Vorstand des 1. FC Köln vorbeikam und im deutschen WM-Quartier die Entlassung von Trainer Christoph Daum, der auch nach Erba geladen wurde, verkündete. Ein seltsamer Vorgang, der bei Teamchef Franz Beckenbauer Kopfschütteln hervorrief. Ansonsten war die Stimmung bestens. In der Nacht nach dem Sieg über die Holländer stieg eine große Feier in Erba, der Kaiser genehmigte es und nahm selbst daran teil. Am nächsten Tag sagte Beckenbauer vor der Presse über sein Team: "Ich war bei fünf Weltmeisterschaften dabei. Das ist die beste Mannschaft, die ich gesehen habe." Am wenigsten war Rudi Völler zum Feiern zumute und Beckenbauer berichtete später: "Wir brauchten Stunden, um ihn zu beruhigen. Ich habe ihn dann beiseite genommen und ihm gesagt: "Mensch Rudi" viel wichtiger ist es doch, dass Du im Endspiel in Deinem Stadion in Rom dabei bist."“

Dennoch ließ der DFB nichts unversucht und legte Protest ein gegen die Karten für Völler und Lothar Matthäus. Doch vergeblich, weder Völlers Sperre noch Matthäus‘ Verwarnung wurden aufgehoben. Die beiden wurden an jenem Dienstag, zwei Tage nach dem Spiel, nicht einmal angehört. Die Fifa entschied: "Ein Protest ist nur gegen einen technischen Fehler des Schiedsrichters möglich, nicht aber gegen eine Tatsachenentscheidung."

Nur ein kleiner Trost für Völler, dass sein Widersacher und Provokateur Frank Rijkaard für drei Spiele gesperrt wurde, während seine Pause sich auf das Viertelfinale beschränkte. Dort wurde er von Karlheinz Riedle vertreten, außerdem blieb erstmals Stefan Reuter draußen – für ihn kehrte Uwe Bein in die Elf zurück. Thomas Häßler war dagegen erstmals gar nicht im 16er Kader. Körperlich und seelisch angeschlagen, war er keine Alternative. Seine Stimmung änderte sich auch nach dem Bootsausflug über den Comer See, den die ganze Mannschaft machte, nicht.

Ansonsten war der Optimismus groß, selbst Beckenbauer sprach schon vom Finale – "und da ist es mir egal, ob wir gegen Italien oder Argentinien spielen." Kurz vor dem Spiel schärfte er aber doch noch mal die Sinne für die nächste Aufgabe: "Nur mit der Einstellung wie gegen Holland ist das Halbfinale zu erreichen." Die Tschechen waren in ihrer Gruppe Zweiter geworden und nur Gastgeber Italien unterlegen (0:2). Im Achtelfinale gegen Costa Rica hatten sie den höchsten Sieg geschafft (4:1) und nur die Deutschen hatten bei dieser WM noch ein Tor mehr geschossen als sie (12/11). Trainer Josef Venglos sagte: "Wir haben unser Soll bereits erfüllt, nun aber Appetit auf mehr bekommen."

In ihrer Elf standen drei Bundesligaprofis, zwei vom kleinen FC St. Pauli – Jan Kocian und Ivo Knoflicek – und einer von Mönchengladbach – Petr Straka. In Tomas Skuhravy hatten sie den führenden Torschützen der WM in ihren Reihen (fünf Treffer), um ihn würde sich Jürgen Kohler kümmern. Erst fünf Wochen zuvor war man in Düsseldorf aufeinander getroffen, das Testspiel gewann Deutschland 1:0. "So einfach werden sie es uns nicht wieder machen", glaubte der Kaiser zu wissen, "das wird wieder ein ganz anderes Spiel." Aber 92,4 Prozent der Deutschen glauben laut einer Wickert-Umfrage an den Sieg.

So wichtig das Spiel auch ist, die Nachrichtenlage dominiert ein anderes Ereignis. Die Tagesschau beginnt ihre Sendung so:

"Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Guten Abend, meine Damen und Herren. Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzkontrollen ist die Einheit Deutschlands seit heute, Null Uhr, praktisch vollzogen. Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist in Kraft getreten."

Heißt: Die D-Mark gilt nun auch im Osten, Deutschland wächst noch vor der politischen Einheit wirtschaftlich zusammen. Dazu hat auch die Nationalmannschaft etwas zu sagen. "Ich habe die wirtschaftliche Enge und die gesellschaftlichen Zwänge in der DDR bei vielen Besuchen kennengelernt. Deswegen begrüße ich die Union", sagt Beckenbauer. Und Pierre Littbarski glaubt: "Für die DDR-Bürger muss das der glücklichste Augenblick seit Jahren sein."

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Matthäus schießt Deutschland ins Halbfinale

Spielbericht:

Um den historischen Sonntag abzurunden, müssen nur noch die Fußballer ins Halbfinale einziehen. Die ARD überträgt das fünfte und letzte Spiel in San Siro (20,9 Millionen Zuschauer) zum zweiten Mal findet es am frühen Abend (17 Uhr) statt. Damit haben die Deutschen gegen Kolumbien schlechte Erfahrungen gemacht. Doch das ist zunächst kein schlechtes Omen. Die Mannschaft spielt auch bei 33 Grad Hitze beeindruckend auf. Die erste Chance haben dennoch die Tschechen, den Freistoß von Michal Bilek lenkt Bodo Illgner gerade noch über die Latte. In der 18. Minute kann Guido Buchwald gleich zweimal ein Tor schießen, doch seinen Volleyschuss lenkt wehrt Jan Stejskal zur Ecke ab und als Brehme den Ball auf Buchwalds Kopf zirkelt, rettet Ivan Hasek für seinen Torwart. Das 1:0 liegt in der Luft und lässt nicht mehr lange auf sich warten. Jürgen Klinsmann holt es heraus, dribbelt sich im tschechischen Strafraum durch die Reihen und wird von Petr Straka und Joszef Chovanec in die Zange genommen und kommt zu Fall. Der Schiedsrichter, der wie der Bundeskanzler heißt, aber aus Österreich kommt, zeigt auf den Punkt. Im tschechischen Fernseher wird das nach dem Spiel so kommentiert: "Schiedsrichter Helmut Kohl aus Österreich war der zwölfte Spieler in der deutschen Mannschaft. Mit so einem Namen kein Wunder." Objektive Betrachter haben indes keinen Zweifel an der Berechtigung des Elfmeters. Lothar Matthäus führt entschlossen aus und drischt mit Vollspann hoch in die rechte Ecke. Es ist schon das Tor zum Halbfinale, aber das weiß noch keiner. Freude auf den Rängen, wo mittlerweile 50.000 Deutsche "La Ola" inszenieren. Bis zur Pause passiert nicht mehr viel, abgesehen von Haseks erneuter Rettungstat auf der Linie, diesmal nach einem Klinsmann-Schuss. Die knappe Pausenführung schmeichelt den Tschechen, Deutschland macht ein überzeugendes Spiel – bis dahin. Die dpa analysiert: "Beckenbauers Truppe gewann fast jeden Zweikampf, war immer einen Schritt schneller und hielt die CSFR durch Pressing schon an deren Strafraum von einem systematischen Spielaufbau ab. Daß dennoch relativ wenig eindeutige Tormöglichkeiten heraussprangen, lag daran, daß die Tschechen und Slowaken fast jeden Angriff durch Fouls kaputtmachten." Vier der fünf Verwarnungen dieser Partie gehen an die Tschechen.

In der Halbzeit deutet sich das Kaisergrollen, das noch kommen wird, schon an. Zu Klinsmann, der sich mit Hackentricks versucht hat, sagt er scharf: "Du bist nicht Pelé, du bist Klinsmann."

Die zweite Halbzeit beginnt mit einem deutschen Dreierschlag, Littbarski schießt aus der zweiten Reihe, Stejskal pariert mit Mühe (46.). Eckstoß Andreas Brehme, Kopfball Buchwald, Rettungsaktion von Bilek auf der Linie (47.). Schuss von Uwe Bein aus spitzem Winkel – Stejskal ist da (48.). Wer dieses Spiel gewinnen will, wird deutlich in dieser Phase nach Wiederanpfiff. Nach 62 Minuten muss es eigentlich entschieden sein. Bein taucht am Fünfmeterraum vor Stejskal auf, der fährt ihm mit gestrecktem Bein in die Parade. Wenn das kein Elfmeter ist! Es gibt zumindest keinen, obwohl selbst der tschechische Torwart Bein noch auf dem Platz gesteht, es sei ein Foul gewesen. Helmut Kohl will seinen Fehler wohl wieder ausbügeln, als er acht Minuten später Lubomir Moravcik vom Platz stellt. Der hat aus Wut darüber, dass Littbarskis Schubser an ihm nicht mit Elfmeter geahndet wird, seinen linken Schuh hoch in die Luft geschleudert. Für Kohl offenbar eine Attentatsversuch, zumindest respektlos. Da der Tscheche schon verwarnt ist, wird er vom Feld gestellt. 20 Minuten noch, ein Mann mehr, ein Tor mehr – was soll noch passieren?

Beckenbauer erwartet, dass seine Mannschaft nun Ball und Gegner laufen lässt und das Spiel kontrolliert und souverän über die Bühne bringt. Doch sie tut es nicht. Die Spieler verzetteln sich in Einzelaktionen, überflüssige Dribblings kosten Kraft und Nerven – und so manchen Ball. Die TV-Zuschauer sehen einen zunehmend ungehaltenen Teamchef. Wild gestikuliert er, unentwegt schreit er. "Über Lothar Matthäus und Klaus Augenthaler habe ich versucht, unser Spiel zu korrigieren", sagt er später. Dann holt er sich Brehme an den Spielfeldrand und trägt ihm allen Ernstes auf, Klinsmann keinen Ball mehr zu geben. Auswechseln aber tut er Uwe Bein, Andy Möller kommt zu seinem zweiten WM-Einsatz. Schließlich fragt er offenbar einen Balljungen, ob er nicht mitspielen wolle…

Die dezimierten Tschechen haben sogar noch eine Ausgleichschance, Joker Vaclav Nemecek scheitert jedoch an Illgner. Dann ist Schluss. Während die deutschen Anhänger jubeln und singen, rennt Beckenbauer wutentbrannt in die Kabine, wo er noch mal richtig Dampf ablässt. "In der Kabine war eine Stimmung, als ob wir verloren hätten", berichtet Klaus Augenthaler, "Wie ein Wirbelwind ist er auf jeden los. Ich habe zugesehen, so schnell wie möglich ins Entmüdungsbecken zu kommen. Aber selbst da kam er hinterher und wütete. Zum Glück war es im Bad so heiß, dass er es dort nicht lange aushielt." Lothar Matthäus weiß noch 25 Jahre später zu berichten: "Er hat erst mal alle Offiziellen rausgeworfen. Das war schon sehr ungewöhnlich. Nur wir Spieler und die medizinische Abteilung sollten bleiben. Die Mediziner haben sich dann ganz schnell in das hintere Behandlungszimmer verdrückt. Auch ein paar Spieler schlichen sicherheitshalber schon mal in Richtung Entmüdungsbecken. Aber da waren sie letztlich auch nicht sicher. Franz rannte auch dort hin. Ein paar Medizinkoffer standen dummerweise im Weg. Unter anderem ein Plastikkoffer, rund vierzig mal dreißig Zentimeter, bis zum Rand gefüllt mit Eiswürfeln. Da hat der Franz erst mal mit voller Wucht gegen den Schwingverschluss getreten. Die Würfel flogen im hohen Bogen durch die Kabine… Im Nachhinein eigentlich schade, dass das niemand aufgenommen hatte." (Aus "25 Jahre Weltmeister", Teil der Magazinreihe 54 74 90 14).

Aber sie haben gewonnen. Zum neunten Mal hat Deutschland ein Halbfinale erreicht, das ist Weltrekord. Nach fünf Spielen in Mailand gilt es Abschied zu nehmen von San Siro. Die Abenteuerreise geht weiter – nächstes und vorletztes Ziel ist Turin.

Aufstellung: Illgner – Berthold, Augenthaler, Kohler – Buchwald, Matthäus, Brehme – Littbarski, Bein (83. Möller) – Riedle, Klinsmann.

Platzverweis: Moravek (70.).

Tore: 1:0 Matthäus (25., Foulelfmeter)

Zuschauer: 73.347 in Mailand

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"Die deutsche Mannschaft ist reif für Rom"

Stimmen zum Spiel:

Franz Beckenbauer: "Dümmer kann man sich nicht mehr anstellen. Wir haben gegen zehn Tschechoslowaken schlechter ausgesehen als gegen elf. Das müssen wir analysieren. Das Wichtigste ist jedoch, dass wir im Halbfinale sind. Wir müssen Konsequenzen ziehen, sonst haben wir keine Chance. Alles, was wir in den ersten vier Spielen gut gemacht haben, haben wir heute nicht gut gemacht. Was ich den Spielern in der Kabine gesagt habe, kann ich nicht widergeben."

Pierre Littbarski: "Wir hätten in der zweiten Halbzeit ein bisschen mehr machen können. Bei uns hat zum Schluss die Angst mitgespielt. Bei der Hitze fiel das Laufen immer schwerer. Dennoch, wir sollten uns über das 1:0 freuen."

Rudi Völler: "Es ist bitter, wenn man zuschauen muss. Ich habe während der 90 Minuten mindestens 48mal auf die Uhr geschaut. Es hat uns einfach das zweite Tor gefehlt."

Andreas Brehme (in seiner Biographie): "In der Kabine hat uns Franz Beckenbauer ordentlich zusammengestaucht. Er war zurecht enttäuscht und unzufrieden, wir wußten, daß die Standpauke berechtigt war."

Karl-Heinz Rummenigge (Ex-Nationalspieler): "Ich würde nicht sagen, dass die deutsche Mannschaft enttäuscht hat. Es herrschten Sauna-Temperaturen, das muss man berücksichtigen."

Dr. Joszef Venglos (Trainer der CSFR): "Wir hatten Probleme im Mittelfeld. Wir haben nicht homogen genug gespielt. Das Ausscheiden tut mir leid und wir sind alle sehr traurig, haben aber keinen Grund, uns zu ärgern. Sport ist Sport…Deutschland wird im Endspiel stehen. Matthäus und Klinsmann zählen zu den besten Spielern der WM."

Vaclav Havel (Präsident der CSFR): "Ihr habt Großes für unser Volk geleistet und unser Land vor den Augen der Welt gut vertreten."

Frantisek Straka (CSFR): "Wir haben gegen den kommenden Weltmeister verloren. Aber ich kann die FIFA nicht verstehen, einen Österreicher die Begegnung mit Deutschland pfeifen zu lassen. Die Deutschen haben sogar Du zu ihm gesagt."

Jan Stejskal (CSFR): "Ein unmöglicher Elfmeter, den Klinsmann geschickt provoziert hat."

"Die deutsche Mannschaft ist reif für Rom. Vor 73.347 Zuschauern zeigte die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer lange Zeit, was in ihr steckt. Vor allem aber nach dem Platzverweis für Moravcik (70.) spielte sie ihr wahres Können nicht aus und ließ sich das Spiel aus der Hand nehmen. Dadurch wurde in den zweiten 45 Minuten der glänzende Eindruck der ersten Halbzeit doch noch relativiert." (dpa)

"Im Gegensatz zu den Turnieren 1982 und 1986 ist unsere Nationalelf vor allem dank spielerischer Leistungen ins Halbfinale vorgedrungen…Endlich wurde sie mit der Aufgabe fertig, Spiele ‚machen‘ zu müssen. Das gelang ihr auch eine Stunde lang gegen die defensiv eingestellte CSFR. Doch dann lockerte sie selbst den Druck." (Kicker)

"Der Favorit aus Deutschland ist weiter, aber er musste viel Schweiß lassen." (Sport/CSFR)

"Es war ein Abschied mit Ehre für unser Team. Deutschland hatte Angst bis zur letzten Minute. Es muss für den Strafstoß dankbar sein." (Mlada fronta/CSFR)

"Die Deutschen sehen furchterregend für England aus. Sie dominierten ein fesselndes Viertelfinale, konnten aber aus ihren Vorteilen nicht genug Kapital schlagen." (Daily Telegraph/England)

"Die deutsche Maschine zermalmt weiter. Vergesst das Resultat. Dies war eine einschüchternde deutsche Leistung, die bis nach Rom widerhallen wird." (The Times/England)

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