WM 1990: Ein Dämpfer zur rechten Zeit

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

19. Juni 1990 in Mailand - Gruppenspiel: Deutschland - Kolumbien 1:1

Vor dem Spiel:

Die beiden leichten Auftaktsiege machten Eindruck. Die Buchmacher wollten am liebsten keine Wetten auf Weltmeister Deutschland mehr annehmen und halbierten binnen zehn Tagen die Quoten, Intertops in Salzburg etwa ging von 60:10 auf 27:10 herunter. Teamchef Franz Beckenbauer bremste: "Wir haben zweimal überzeugend gespielt, aber nicht gegen die stärksten Gegner. Deshalb gibt es in der Mannschaft keine Euphorie."

Obwohl die Qualifikation fürs Achtelfinale schon geschafft war, sah Beckenbauer "keinen Grund, etwas zu ändern." Immerhin ging es noch um den Gruppensieg, verbunden mit weiteren Spielen in Mailand. Dazu brauchte es einen Punkt. Nur der gelbgesperrte Andreas Brehme musste ersetzt werden, es debütierte Hansi Pflügler als linker Verteidiger. Thomas Häßler drängte sich zwar auch für eine Pause auf, selbst der Kaiser fand: "Er ist einer der Wenigen bei dieser Weltmeisterschaft, die unter ihren Möglichkeiten bleiben. Ich weiß nicht, was ihn bewegt." Unter anderem sein Wechsel aus dem beschaulichen Köln ins unbekannte Turin, wie man später erfuhr. "Es hätte ja wenigstens mal einer von Juventus vorbei schauen können, damit man später nicht nur fremde Gesichter sieht", klagte der zunehmend verzagte "Icke".

Das Festhalten an der ersten Elf ließ die ersten Reservisten aufmucken. Pierre Littbarski sagte: "Das Frustrierende ist, dass ich trotz allgemein guter Leistungen raus bin. Beckenbauer reißt mich und Häßler, das beste deutsche Mittelfeldpaar, auseinander." Andy Möller war auch "sehr enttäuscht" und Jürgen Kohler, der zumindest mit einem Bank-Platz gerechnet hatte, fand: "Das ist nicht korrekt von Herrn Beckenbauer". Er trat vor Enttäuschung sogar eine Duschkabinentür in den Katakomben von San Siro ein. "Ich habe geheult, so sehr hat mich das getroffen", gestand er in seinen Memoiren (An mir kommt keiner vorbei). Co-Trainer Berti Vogts fand ihn in diesem Zustand vor und beruhigte: "Deine Chance kommt noch."

Kolumbien klammerte sich an seine Chance, mit einem Remis als einer der besten Dritten weiter zu kommen. Es hatte gegen die Emirate gewonnen, gegen Jugoslawien verloren. Torwart Rene Higuita, wegen seiner wilden Lockenfrisur und seinen Ausflügen eine schillernde Figur dieser WM, kündigte an: "Die meisten von uns sind in den Armenvierteln groß geworden. Wir wissen, was es heißt zusammenzuhalten und zu kämpfen."



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

19. Juni 1990 in Mailand - Gruppenspiel: Deutschland - Kolumbien 1:1

Vor dem Spiel:

Die beiden leichten Auftaktsiege machten Eindruck. Die Buchmacher wollten am liebsten keine Wetten auf Weltmeister Deutschland mehr annehmen und halbierten binnen zehn Tagen die Quoten, Intertops in Salzburg etwa ging von 60:10 auf 27:10 herunter. Teamchef Franz Beckenbauer bremste: "Wir haben zweimal überzeugend gespielt, aber nicht gegen die stärksten Gegner. Deshalb gibt es in der Mannschaft keine Euphorie."

Obwohl die Qualifikation fürs Achtelfinale schon geschafft war, sah Beckenbauer "keinen Grund, etwas zu ändern." Immerhin ging es noch um den Gruppensieg, verbunden mit weiteren Spielen in Mailand. Dazu brauchte es einen Punkt. Nur der gelbgesperrte Andreas Brehme musste ersetzt werden, es debütierte Hansi Pflügler als linker Verteidiger. Thomas Häßler drängte sich zwar auch für eine Pause auf, selbst der Kaiser fand: "Er ist einer der Wenigen bei dieser Weltmeisterschaft, die unter ihren Möglichkeiten bleiben. Ich weiß nicht, was ihn bewegt." Unter anderem sein Wechsel aus dem beschaulichen Köln ins unbekannte Turin, wie man später erfuhr. "Es hätte ja wenigstens mal einer von Juventus vorbei schauen können, damit man später nicht nur fremde Gesichter sieht", klagte der zunehmend verzagte "Icke".

Das Festhalten an der ersten Elf ließ die ersten Reservisten aufmucken. Pierre Littbarski sagte: "Das Frustrierende ist, dass ich trotz allgemein guter Leistungen raus bin. Beckenbauer reißt mich und Häßler, das beste deutsche Mittelfeldpaar, auseinander." Andy Möller war auch "sehr enttäuscht" und Jürgen Kohler, der zumindest mit einem Bank-Platz gerechnet hatte, fand: "Das ist nicht korrekt von Herrn Beckenbauer". Er trat vor Enttäuschung sogar eine Duschkabinentür in den Katakomben von San Siro ein. "Ich habe geheult, so sehr hat mich das getroffen", gestand er in seinen Memoiren (An mir kommt keiner vorbei). Co-Trainer Berti Vogts fand ihn in diesem Zustand vor und beruhigte: "Deine Chance kommt noch."

Kolumbien klammerte sich an seine Chance, mit einem Remis als einer der besten Dritten weiter zu kommen. Es hatte gegen die Emirate gewonnen, gegen Jugoslawien verloren. Torwart Rene Higuita, wegen seiner wilden Lockenfrisur und seinen Ausflügen eine schillernde Figur dieser WM, kündigte an: "Die meisten von uns sind in den Armenvierteln groß geworden. Wir wissen, was es heißt zusammenzuhalten und zu kämpfen."

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Erst späte Führung, dann später Ausgleich

Spielbericht:

Diesmal wird schon um 17 Uhr angepfiffen. Es ist schwül an diesem Dienstag, 31 Grad werden gemessen. Diesmal sind es sogar 40.000 Deutsche, die die Mannschaft unterstützen. Gegen Kolumbien hat die DFB-Auswahl noch nie gespielt. Ungewohnt, ja schier revolutionär ist auch die kolumbianische Viererkette auf einer Linie. Noch spielt die Fußballwelt mit Libero, aber den Posten übernimmt bei den Mittelamerikanern Torwart René Higuita, "ein Selbstdarsteller höchsten Grades" (dpa). In der 13. Minute steht er allerdings zwischen seinen Pfosten, um ein Völler-Tor zu verhindern. Kurz danach steht er 30 Meter vor seinem Kasten und will Völler überlupfen, verliert den Ball und hat Glück, einen Freistoß zu bekommen. Katzenartig pariert er danach Klinsmann-Heber mit links mit einem Rückwärtssprung.

Nach druckvollen 20 Minuten, die auch Beckenbauer gefallen, lässt der Vize-Weltmeister nach und Kolumbien aufkommen. In der 23. Minute kann – ja muss – der Außenseiter in Führung gehen. Gegen die an diesem Tag auffällig unsichere DFB-Abwehr, der Kritiker sechs schwere Patzer nachweisen, kommt Alfonso Fajarda aus sechs Metern vor dem leeren Tor zum Abschluss, trifft es jedoch nicht. Es fehlt den Deutschen an der letzten Motivation in diesem Spiel, das spüren die Fans bis unter die obersten Ränge. Und so gibt es erstmals Pfiffe in San Siro bei dieser WM und im Brehme-Vertreter Hansi Pflügler, dessen Offensivbemühungen nicht mit denen des Mailänders Schritt halten können, finden die verärgerten Fans einen Sündenbock. Zumal Kolumbien über seine linke Seite immer wieder zu gefährlichen Vorstößen kommt.

Die meisten Pfiffe erntet freilich Kolumbiens extravaganter Spielmacher Carlos Valderama. Der Mann mit der Löwenmähne scheint nach einem Foul von Augenthaler nie mehr Fußball spielen zu können, bleibt lange liegen und lässt sich unter großem Lamento mit der Bahre vom Platz tragen, um eine Minute später "wie Jesus von den Toten aufzuerstehen" (Süddeutsche Zeitung). Man wünscht sich allgemein bessere Unterhaltung als dieses Schmierentheater.

Dass sich die Deutschen so schwer antun, führt Inter Mailands Trainer Giovanni Trapattoni auf die Temperaturen und die Witterung, die am frühen Abend herrschen, zurück. Torlos geht es in die Halbzeit, Beckenbauer reagiert auf Uwe Beins bescheidene Vorstellung und bringt zum dritten Mal Littbarski. Die erste Chance aber hat der Gegner, Bodo Illgner kann sich endlich mal auszeichnen, als Carlos Enrique Estrada frei vor ihm auftaucht. Die Abwehr, das macht auch diese Szene deutlich, hat nicht ihren besten Tag, weshalb die dpa fordern wird: "Beckenbauer muß sich nun wieder Gedanken um die Libero-Position machen. Augenthaler verunsicherte seine eigene Abwehr mit einer Serie von Abspielfehlern und unnötigen Fouls."

Die Zuschauer sehen eine andere Personalie als dringlicher an und fordern nun vielstimmig: "Pflügler raus!" Lothar Matthäus hat auch nicht seinen besten Tag, liefert aber die beste Szene bis dahin. Nach Reuters Zuspiel spurtet er in den Strafraum und lupft den springenden Ball aus vollem Lauf über Higuita – Latte! (75.). Nun wollen sie doch den Sieg, Rudi Völler wühlt sich durch die Abwehrreihen, verzieht knapp (83.). Beckenbauer lässt nun Olaf Thon debütieren bei dieser WM, noch ein Zuckerl für einen schmollenden Reservisten. Dann sticht der erste Joker. Völler tritt dynamisch an und bedient mit dem Außenrist Littbarski, der aus 13 Metern mit dem linken Fuß Higuita keine Chance lässt.

Eine Minute vor Schluss scheint Kolumbien der Punkt, der zum Achtelfinale gereicht hätte, zu entschwinden. Aber der Schiedsrichter lässt, auch wegen der Valderama-Posse, nachspielen. Die Uhr zeigt 47:12 Minuten in der zweiten Hälfte, als Freddy Rincon nach einer sehenswerten Kombination, an der Valderama großen Anteil hat, frei vor Bodo Illgner die Nerven behält und den deutschen Torwart tunnelt. Kolumbien im Rausch, es ist das Tor fürs Achtelfinale. Littbarski schimpft über Schauspieler Valderama: "Dass der dann auch noch die Vorlage zum Tor gibt, hat mich gewurmt." Und doch ist es die gerechte Strafe für die schwächste Leistung der Deutschen bei der WM in Italien.

Die in den nächsten Tagen publizierte Mängelliste ist lang: taktische Unzulänglichkeiten und Stellungsfehler in der Abwehr, fehlendes Flügelspiel, fehlende Konzentration. Nicht wenige Zeitungen wählen für ihre Überschrift die abgedroschene Floskel vom "Dämpfer zur rechten Zeit." Sie passt selten besser als an diesem Tag.

Aufstellung: Illgner – Berthold, Augenthaler, Buchwald, Pflügler – Reuter, Hässler (87. Thon), Matthäus, Bein (46. Littbarski) – Völler, Klinsmann.

Tore: 1:0 Littbarski (89.), 1:1 Rincon (92.).

Zuschauer: 72.510

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Littbarski: "Wichtig ist, dass wir aus dem Himmel geholt wurden"

Stimmen zum Spiel:

Franz Beckenbauer: "Der Druck für eine große Leistung hat gefehlt. Es war ein Spiel, das wir zwar gewinnen wollten, aber nicht gewinnen mussten. Es ist ganz gut, dass wir diesen kleinen Dämpfer bekommen haben. Und es stimmt, ich habe mich gefreut, weil die Kolumbianer dieses Unentschieden verdient haben. Ich kenne ihren Trainer Maturana, das ist ein guter Taktiker, ein freundlicher Mann. Solchen Leuten wünscht man den Erfolg."

Klaus Augenthaler: "Sonst ist jeder für sich und konzentriert im Bus. Heute hat jeder geratscht. Ich habe nicht dieses Kribbeln gespürt wie sonst. Bis auf Guido Buchwald darf keiner mit seiner Leistung zufrieden sein."

Guido Buchwald: "Der Ausgleich durfte nicht fallen, die Kolumbianer waren doch schon k.o."

Hans Pflügler: "Dass nun alle auf mich losgehen, finde ich nicht okay. Vor allem von den Zuschauern bin ich enttäuscht, die uns bislang so euphorisch unterstützt haben."

Pierre Littbarski: "Wichtig ist, dass wir aus dem Himmel geholt wurden. Ich habe mich über das Tor gefreut, aber nur in Maßen."

Francisco Manturana (Trainer Kolumbiens): "Ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Wir werden weiter hart arbeiten, damit wir noch weiter kommen. Freddy Rincons Tor schlug das wichtigste Kapitel in der kolumbianischen Fußballhistorie auf."

Freddy Rincon (Kolumbien): "Ich war ganz ruhig, als ich den Zuckerpass von Valderrama bekam. Ich habe geschaut und gedacht: nicht mit Gewalt, sondern platziert. Aber ehrlich: Durch die Beine wollte ich nicht schießen."

"Beckenbauers Mannschaft fand kein Rezept gegen die Südamerikaner und deren Ziehharmonika-Fußball. Mit dem 32 Jahre alten Augenthaler und erneut Häßler hatte der Vize-Weltmeister sogar zwei ausgesprochene Schwachpunkte aufzuweisen. Pflügler konnte den gesperrten Brehme nicht ersetzen." (dpa)

"Außer Zweifel steht, daß wir am Dienstag in Mailand erneut ein gutes Spiel zu sehen bekamen. Vor allem dank der Südamerikaner. In den ersten 20 Minuten sah es so aus, als würde unsere Elf den Gegner überrennen können. Doch die Chancen wurden nicht genutzt… (Kicker)

"Deutschland, der große WM-Favorit, wurde von Kolumbien arg zerzaust." (Neue Kronenzeitung/Wien)

"Deutschlands Torhüter Illgner gibt seinen Segen für die Qualifikation der Kolumbianer." (Corriere della Serra/Mailand)

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