WM 1982: Dunkle Schatten über Spanien

Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert runden Geburtstag: Zum 20. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum zweiten Mal nach 1950 in Brasilien. Für DFB.de erinnert der Historiker und Autor Udo Muras in einer WM-Serie an alle Turniere der Geschichte. Heute: die WM 1982 in Spanien.

Teil 12: Die WM 1982 in Spanien

Spanien 1982 war das bisher größte Turnier. Ein Qualitätsmerkmal ist das nicht, nur eine Längenangabe, das erstmals auf 24 Teilnehmer ausgedehnte Turnier dauerte vier Wochen und sah 52 Spiele. Darunter zahlreiche unvergessene Spiele, aber auch das ist eine zweischneidige Aussage. Die deutsche Mannschaft hatte einen wesentlichen Anteil am Bild dieses Turniers, das mit dem Prädikat „nicht schön, aber aufregend“ zu versehen ist. Es bekam mit Italien einen verdienten Weltmeister, der ab der Zwischenrunde voll da war.

Den Weg nach Spanien beschritt keine der 105 gemeldeten Mannschaften so mühelos und zielstrebig wie die deutsche, die alle acht Qualifikationsspiele gewann und sich nach dem EM-Gewinn 1980 offenkundig noch weiter entwickelt hatte. Vor allem war sie weitgehend eingespielt, es gab eigentlich vor dem Abflug nur ein Fragezeichen im Sturm – Fischer oder Hrubesch?

Die Abwehr vor Toni Schumacher war unumstritten: Libero Ulli Stielike war der einzige Legionär (Real Madrid), daneben spielten seit über einem Jahr schon Manfred Kaltz, Karl-Heinz Förster und Hans-Peter Briegel. In Kapitän Karl-Heinz Rummenigge stand Europas Fußballer des Jahres im Sturm.

Und im Mittelfeld konnte Bundestrainer Jupp Derwall lange Zeit gleich unter vier exzellenten Spielmachern wählen: Bernd Schuster, Felix Magath und Hansi Müller bekamen am 29. April 1981 Gesellschaft, als Rummenigges kongenialer Partner bei Bayern München, Paul Breitner, nach sechs Jahren gegen Österreich zurückkehrte.

Daraufhin provozierte Schuster seinen Rauswurf. Deutschland fuhr also ohne seinen „blonden Engel“ zur WM – aber dennoch mit viel Hoffnung. Der Europameister zählte zu den großen Favoriten, neben Brasilien, Argentinien und Spanien.

19 Spieler am Schluchsee



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Die Fußball-Weltmeisterschaft feiert runden Geburtstag: Zum 20. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum zweiten Mal nach 1950 in Brasilien. Für DFB.de erinnert der Historiker und Autor Udo Muras in einer WM-Serie an alle Turniere der Geschichte. Heute: die WM 1982 in Spanien.

Teil 12: Die WM 1982 in Spanien

Spanien 1982 war das bisher größte Turnier. Ein Qualitätsmerkmal ist das nicht, nur eine Längenangabe, das erstmals auf 24 Teilnehmer ausgedehnte Turnier dauerte vier Wochen und sah 52 Spiele. Darunter zahlreiche unvergessene Spiele, aber auch das ist eine zweischneidige Aussage. Die deutsche Mannschaft hatte einen wesentlichen Anteil am Bild dieses Turniers, das mit dem Prädikat „nicht schön, aber aufregend“ zu versehen ist. Es bekam mit Italien einen verdienten Weltmeister, der ab der Zwischenrunde voll da war.

Den Weg nach Spanien beschritt keine der 105 gemeldeten Mannschaften so mühelos und zielstrebig wie die deutsche, die alle acht Qualifikationsspiele gewann und sich nach dem EM-Gewinn 1980 offenkundig noch weiter entwickelt hatte. Vor allem war sie weitgehend eingespielt, es gab eigentlich vor dem Abflug nur ein Fragezeichen im Sturm – Fischer oder Hrubesch?

Die Abwehr vor Toni Schumacher war unumstritten: Libero Ulli Stielike war der einzige Legionär (Real Madrid), daneben spielten seit über einem Jahr schon Manfred Kaltz, Karl-Heinz Förster und Hans-Peter Briegel. In Kapitän Karl-Heinz Rummenigge stand Europas Fußballer des Jahres im Sturm.

Und im Mittelfeld konnte Bundestrainer Jupp Derwall lange Zeit gleich unter vier exzellenten Spielmachern wählen: Bernd Schuster, Felix Magath und Hansi Müller bekamen am 29. April 1981 Gesellschaft, als Rummenigges kongenialer Partner bei Bayern München, Paul Breitner, nach sechs Jahren gegen Österreich zurückkehrte.

Daraufhin provozierte Schuster seinen Rauswurf. Deutschland fuhr also ohne seinen „blonden Engel“ zur WM – aber dennoch mit viel Hoffnung. Der Europameister zählte zu den großen Favoriten, neben Brasilien, Argentinien und Spanien.

19 Spieler am Schluchsee

Das kannte die DFB-Auswahl schon, aber einiges war neu. Erstmals seit 1962 ging es zur Vorbereitung nicht nach Malente, sondern in den Schwarzwald. Jupp Derwall ließ auch drei Spieler auf Abruf zu Hause und nahm nur 19 mit an den Schluchsee, darunter jeweils drei Stars der dominierenden Klubs aus Hamburg, München und Köln. Meister HSV und Pokalsieger FC Bayern standen im Mai noch in Europapokalfinals, was zwar ein Gütesiegel für die Bundesliga war, sich aber als Nachteil erwies. Derwall klagte hinterher über eine zu kurze Vorbereitungszeit, die Saison endete erst zwei Wochen vor Turnierstart. Aber „wegen der Endspielteilnahmen von Hamburger SV und Bayern München konnte man von beiden Vereinen nicht verlangen, in dieser Phase Spieler zu Lehrgängen abzustellen.“

Neidisch blickte er da auf die Franzosen, die den Kern des Kaders schon Ende 1981 mitsamt Familien in den Pyrenäen erstmals zusammengezogen hatten. Der spätere Halbfinalist hatte eines der 13 Tickets ergattert, die Europa nunmehr zustanden. Die Sensation ereignete sich in Gruppe 2, wo der Vize-Weltmeister von 1974 und 1978 nur Vierter wurde: Holland verlor das entscheidende Spiel in Paris mit 0:2 und auch Erzrivale Belgien holte einen Punkt mehr.

Dafür hatte England endlich wieder den Weg zur WM gefunden, nach zwölf Jahren Abstinenz. Österreich kam in der deutschen Gruppe auf den rettenden zweiten Platz und war doch unzufrieden. Trainer Karl Stotz wurde gefeuert, der Verband liebäugelte mit HSV-Meister-Trainer Ernst Happel. Aber der DFB hätte zustimmen müssen und gab ihn nicht frei für die WM: „Happel kann nicht samstags Kaltz, Magath und Hrubesch trainieren, um dann eine Woche später auf der anderen Seite zu stehen“, ersparte ihm Neuberger einen Gewissenskonflikt. Happel knurrte: „Ich wundere mich, dass die starken Deutschen protestieren. Wir treffen erst im letzten Gruppenspiel aufeinander. Da ist doch schon alles gelaufen.“

Letzteres sollte sich als kolossaler Irrtum erweisen, der nicht nur einem Ernst Happel unterlief. Nach der Auslosung sah es ja alle Welt so, dass Deutschland seine Gruppe dominieren würde. Wo selbst einer der stets zur Bescheidenheit neidenden Berner Helden wie Jupp Posipal sagte, man könne „morgens gegen Chile und abends gegen Algerien spielen“. Die FIFA hatte es auch sonst gut gemeint mit den Favoriten und sie als Köpfe auf sechs Gruppen verteilt, in der jeweils ein Exot wartete.

Nur El Salvador hatte 1970 schon Erfahrung gesammelt, der Rest aus Topf 4 freute sich auf seine WM-Premiere: Kamerun und Algerien als Vertreter Afrikas, El Salvador und Honduras aus Mittelamerika und Kuwait aus der arabischen Welt.

"Solidarnosc" und Falkland als Nebenschauplätze

Zwei politische Konflikte überschatteten die WM: In Polen führte das Volk einen Freiheitskampf, der Streik der Gewerkschaftsaktivisten von „Solidarnosc“ wurde von der Sowjetunion unterdrückt. Seit Dezember 1981 herrschte Kriegsrecht, die polnische Nationalmannschaft hatte kein Spiel mehr bestritten. Da Polen und die UdSSR in einem Topf waren, konnte es wenigstens in der Vorrunde nicht zu einem brisanten Treffen kommen. Auch Argentinien und England hielt das Setzprozedere auseinander, und das war gut so. Im Atlantik führten ihre Soldaten einen bewaffneten Kampf um ein Eiland: Der Krieg um die Falkland-Inseln forderte knapp 900 Menschenleben und endete erst einen Tag nach der WM-Eröffnung.

Das Turnier zu eröffnen, stand traditionell dem Titelverteidiger zu. Argentiniens Spieler verspürten einen besonderen nationalen Auftrag angesichts der militärischen Niederlage. Doch der Versuch, „wenigstens einen Funken Freude in den grauen Alltag des argentinischen Lebens“ (Osvaldo Ardiles) zu bringen, schlug fehl. Denn erstmals seit 1962 fiel wieder ein Tor im ersten Spiel. Und das für den Außenseiter. Belgiens Vandenbergh traf aus abseitsverdächtiger Position und machte die Sensation perfekt.

Trainer Luis Cesar Menotti beruhigte zwar die Heimat, und die glaubte ihm nach dem 4:1 über Ungarn, der Start sei „nur ein Betriebsunfall“ gewesen. Doch beim 2:0 gegen El Salvador zeigte der Weltmeister wieder sein zweites Gesicht, und Maradona ließ sich gar von einem Edelreservisten von Zweitligist Bayer Uerdingen abkochen. Immerhin reichte es Argentinien zum Weiterkommen, aber die unspektakulären Belgier ließen sich den Vorsprung nicht mehr abnehmen und wurden mit 3:1 Toren Gruppensieger.

Rekordsieg der Ungarn über El Salvador

Die Mannschaft mit den meisten Toren in der Vorrunde fuhr dagegen wie 1978 früh heim: Ungarn nahm immerhin einen WM-Rekord mit, das 10:1 gegen überforderte El Salvadorianer ist bis heute das höchste WM-Ergebnis. Die Argentinien-Gruppe war die der krassesten Gegensätze, die die Fußballwelt damals kannte. Während Maradona sich auf sein künftiges Honorar über umgerechnet 2,6 Millionen Mark im Monat bei Barcelona freute, verdienten die Besten bei El Salvador 700 D-Mark. Nach Berichten über ihre Armut sah sich der Verbandspräsident gezwungen zu erklären: „Alle Spieler haben genügend Geld bekommen, um sich Getränke zu kaufen und in die Heimat zu telefonieren.“

Nicht alle Exoten verdienten Mitleid. In der kuriosen Gruppe 1, in der fünf von sechs Spiele Remis endeten, blieb Kamerun ungeschlagen. Nur weil 1:1 Tore nach FIFA-Arithmetik weniger wert waren als 2:2, war für die Afrikaner das Turnier zu Ende - und für Italien der Weg zum Titel nicht schon früh zu Ende. Hinter Polen, das Peru in 20 furiosen Minuten mit 5:1 zerlegte, belegte Italien Platz zwei.

Italien bleibt ohne Vorrundensieg

Dass diese Mannschaft Weltmeister werden könnte, war nach der Vorrunde freilich nicht abzusehen. Nie zuvor hatte eine Mannschaft ohne Vorrundensieg noch den Pokal gewonnen, aber der Modus erlaubte es der Auswahl Enzo Bearzots, noch zu hoffen. Verärgert über die Falschmeldungen, für ihre drei trostlosen Remis hätte jeder Spieler umgerechnet 140.000 D-Mark bekommen, veranlassten die schon im Torstreik befindlichen Italiener nun noch zu einem Presseboykott. „Silenzio stampa“ nennt der Italiener das, und nur der 40-jährige Torwart-Veteran Dino Zoff fütterte die Medienmeute mit dürren Worten.

Die deutsche Mannschaft hatte ähnliche Probleme, und der DFB bezeichnete es in seiner WM-Analyse als Fehler, mit der Presse in Gijon ein Hotel bezogen zu haben. Aber was sollten die Reporter auch Positives schreiben nach dieser denkwürdigen Vorrunde im Stadion El Molinon von Gijon? Erstmals überhaupt startete Deutschland, am 16. Juni, mit einer Niederlage in ein Turnier. Algerien wurde zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit ein 2:1 geschenkt.

Der Kicker hatte zwar noch in seinem Sonderheft gewarnt: „Zeigt Mut, aber keinen Übermut“, aber das half wenig. „Meine Spieler würden mich für doof erklären, wenn ich ihnen was über die algerische Mannschaft erzählen wollte“, sagte Jupp Derwall im Vorfeld und kündigte an: „Ich fahre mit dem Zug nach Hause, wenn wir verlieren sollten.“

Madjer wird zum Schreck der Deutschen

Die spanischen Zuschauer feuerten nach einer Weile die Algerier an, und nach torloser Hälfte wuchsen die Außenseiter über sich hinaus. Ein Lattentreffer kündigte das Unheil schon an, in der 53. Minute trat es ein - 0:1 durch Madjer, für den sich Jahre später Bayern München interessieren sollte. Dann atmete die Heimat kurz auf: Felix Magath bediente nach 68 Minuten Rummenigge und der drückte den Ball im Spreizschritt ins Tor. Dabei zog er sich eine Verletzung zu, die ihn im ganzen Turnier hemmen sollte – und in diesem Spiel war das Opfer vergeblich. Denn gleich mit dem Anstoß ließen die Algerier den Ball über acht Stationen laufen, und ihr Star Belloumi schoss unbehindert ein. 1:2 – dabei blieb es, und die WM hatte ihre zweite Sensation. Algeriens Trainer Khalef jubelte: „Wir sind nicht die bessere Mannschaft, aber wir haben besser gespielt. Fußball ist keine Wissenschaft.“

Noch am Abend tagte im Hotel „Principe de Asturias“ der Krisenstab: Derwall bat seine Assistenten Erich Ribbeck und Berti Vogts sowie Kapitän Rummenigge zum Gespräch. Rummenigge berichtet in seinem WM-Buch: „Auch wir mussten den Schock erst herunterschlucken, bevor wir unsere Maßnahmen beraten konnten. Ich machte den Vorschlag, gegen Chile mit der gleichen Elf einzulaufen, die gegen Algerien jene 1:2-Suppe eingebrockt hatte.“ So kam es, trotz der Kritik gerade an Paul Breitner, dessen Herausnahme die Presse vehement forderte.

Gegen die Chilenen ging es schon um alles. Auch sie hatten verloren (0:1 gegen Österreich), danach sah man sie betend in einer Klosterkirche. Von einem Erzbischof Asturiens ließen sie sich segnen. Karl-Heinz Rummenigge, der vier fürchterliche Tage voller Selbstzweifel („So deprimiert war ich noch nie, und noch nie stand ich unter einem derart extremen Druck“) erlebte, machte ein Riesenspiel. Er fuhr schon eine Stunde vor der Mannschaft ins Stadion und machte unter Ribbecks Aufsicht Sprints. Es ging, er konnte spielen.

Sieg gegen Chile sorgt für Euphorie

Zum Glück: Nach etwas mehr als einer Stunde hatte er schon drei Tore geschossen. Danach kamen wieder die Stiche im Oberschenkel, aber er musste durchspielen. Lothar Matthäus und Uwe Reinders waren bereits eingewechselt worden – und das lohnte sich. Der Bremer Reinders erzielte mit seinem ersten Ballkontakt nach zwei Minuten WM-Erfahrung das 4:0, und das chilenische Ehrentor störte nur Manfred Kaltz, der von Moscoso getunnelt worden war. Auf der Tribüne entrollten Fans schon nach dem 1:0 ein Spruchband und grüßten den „Weltmeister Deutschland“. Präsident Neuberger rief ihnen zu: „Mensch, rollt das doch wieder ein.“ Selbst Daueroptimist Derwall hielt es für besser, nicht abzuheben: „Bei uns herrscht nun große Erleichterung, aber keineswegs Euphorie."

Katzenjammer dagegen bei den Chilenen, die schon ausgeschieden waren. Gegen Caszelys Familie in Santiago wurden Morddrohungen ausgesprochen, weil der Hausvorstand gegen Österreich einen Elfmeter verschossen hatte. Ein Spiel hatten die Chilenen noch Gelegenheit, die Heimat zu versöhnen, und es gelang einigermaßen. Gegen Algerien lagen sie schon mit 0:3 zurück, da quälte sie der Ehrgeiz und es fielen noch zwei Tore. Für den Verlauf dieser WM waren es sehr bedeutsame Treffer. Denn die wegen des einsetzenden Ramadan hungrig ins Spiel gegangen Algerier verdarben sich so in der Schlussphase ihr Torverhältnis, das nach der 0:2-Niederlage zuvor gegen Österreich nun 5:5 hieß. Dadurch ergab sich die seltene Konstellation, dass drei Teams mit 4:2 Punkten einlaufen konnten – und dass Deutschland und Österreich bei einem deutschen Sieg mit maximal zwei Toren weiter wären.

So sollte es tatsächlich kommen am 25. Juni in Gijon, einem schwarzen Freitag für den Fußball. Das Ergebnis von 1:0 durch ein frühes Tor von Horst Hrubesch (11. Minute) überraschte nicht, das Spiel schon. Schon zur Pause gab es Pfiffe. Danach wedelten die Zuschauer mit weißen Tüchern wie beim Stierkampf, wenn sie der Torrero langweilte. „Raus“-Rufe wechselten sich mit „Algeria“ ab.

Stanjek fehlten die Worte

Auf dem Platz passierte so wenig, dass der ARD-Reporter Eberhard Stanjek irgendwann den Kommentar einstellte, es sei ja kein Fußball-Spiel mehr. Die algerische Nachrichtenagentur richtete: „Niemals ist der Sport in einer so schlimmen Weise beleidigt worden.“ ZDF-Reporter Harry Valerien sprach von der „schlimmsten Maskerade des Weltfußballs in den letzten Jahrzehnten.“

Tagelang wurde auf beide Mannschaften eingeprügelt, doch weckte das mehr Trotz als Schuldbewusstsein. Breitner wurde so zitiert: „Das Publikum hat überhaupt nicht kapiert, worum es für uns hier ging, nämlich um das Weiterkommen. Wir haben hier eine WM!“

Am Ende dieses Tages ereignete sich neben allerlei unerfreulichen Dingen wie Eierwürfen – Breitners Jacke wurde getroffen – eine Tragödie: Richard Gauke, der deutsche König der Schlachtenbummler, seit Jahrzehnten dabei, brach in der Hotel-Lobby tot zusammen. Der 67-Jährige hatte sich die Vorkommnisse in Gijon zu sehr zu Herzen genommen. Das war nun ebenso unabänderlich wie das Ergebnis, das in der Tabelle stand. Die FIFA tadelte zwar „das negative Schauspiel beider Mannschaften“ scharf, aber der offizielle Protest Algeriens wurde abgelehnt.

Kurz nach einer Bombendrohung in Gijon („Das ist die Strafe für das Spiel gegen Österreich“, sagte der anonyme Anrufer) brach der DFB-Tross auf nach Madrid, wo im Stadion Santiago Bernabeu das Turnier weiterging.

Blumen fürs Publikum

In der Zwischenrunde warteten England und Gastgeber Spanien, und die Deutschen brachten dem Publikum Blumen mit. Die Engländer hatten alle Spiele und damit auch ihre Gruppe 4 gewonnen. Trainer Ron Greenwood musste zwar auf den verletzten Ex-HSV-Star Kevin Keegan verzichten, aber gegen Frankreich (3:1), als Bryan Robson schon in der ersten Minute traf, die enttäuschenden Tschechen (2:0) und die tapferen Kuwaitis (1:0) ging es ohne die „Mighty Mouse“ gut. Hinter England trudelte Frankreich glücklich ein. Der spätere Halbfinalist gewann nur gegen Kuwait (4:1), das in Valladolid die größte WM-Posse überhaupt ablieferte. An diesem Tag lernte die Welt den Fußball-Präsident von Kuwait kennen.

Nach einem abseitsverdächtigen Tor der Franzosen zum vermeintlichen 4:1 winkte Scheich Fahd el Achmed el Sabah in der 81. Minute seine wild protestierenden Spieler offenkundig vom Platz, stürmte selbst hinunter, löste einen Polizeieinsatz und eine längere Unterbrechung aus. Hinterher wollte er es gar nicht so gemeint haben. Der russische Schiedsrichter Stupar jedoch schien den langen Arm des Scheichs zu fürchten und nahm zur allgemeinen Erheiterung das Tor zurück, was er formal durfte, da der Anstoß noch nicht ausgeführt worden war - und doch niemals hätte tun dürfen. Das sah die FIFA auch so, sperrte Stupar auf ewig und schickte dem Scheich eine Rechnung über 25.000 Schweizer Franken. Es war schon das zweite Scharmützel mit dem Emirat, das zuvor vergeblich beantragt hatte, sein Maskottchen ins Stadion mitbringen zu dürfen – ein Kamel.

Spanien patzt gegen Honduras

Wenig zu lachen gab es in Gruppe 5, wo Gastgeber Spanien sich aus der Favoritenrolle kapitulierte. Gegen Honduras reichte es nur zu einem 1:1, Jugoslawien wurde durch einen fragwürdigen und dann noch wiederholten Elfmeter 2:1 geschlagen, und gegen Außenseiter Nordirland setzte es ein 0:1. Weltmeister waren die Spanier nur in der Werbung, vor dem Turnier hatte der Kader bereits 86 Millionen Peseten (2 Millionen D-Mark) eingespielt. Merke: Wer schon vor dem Turnier satt ist, hat keinen Erfolgshunger mehr. Nutznießer waren die Nordiren, die schon den Rückflug für den 27. Juni gebucht hatten, aber durch Armstrongs Tor nach zwei Remis Gruppensieger plötzlich wurden. Spanien kam auf italienische Weise weiter: 3:3 Tore waren besser als die 2:2 der punktgleichen Jugoslawen, die gegen das tapfere Honduras (1:0) ein Tor zu wenig schossen.

In Gruppe 6 ging es übersichtlicher zu. Hier spielte endlich mal ein Favorit auf, der die Bezeichnung verdiente. Die Brasilianer von Trainer Tele Santana schlugen, was ihnen vor die Füße kam. Die Russen (2:1) hatten noch etwas Pech, Schottland (4:1) und Neuseeland (5:2) gerieten zum Spielball der Samba-Kicker um Zico, Falcao und Socrates. Brasilien hatte 1982 eine außergewöhnliche Mannschaft, nur über Torwart Valdir Perez und den Mittelstürmer Serginho lächelten die Zuschauer. Hinter der besten Auswahl der Vorrunde kam Russland auf Platz zwei, das entscheidende Spiel gegen die erneut tragisch scheiternden Schotten endete 2:2. Das Torverhältnis entschied über Gehen und Bleiben. Neuseeland hatte da von Beginn an wenig Illusionen und erfüllte die Wünsche seines Trainers trotz dreier Pleiten: „In Ehren untergehen und wenigstens ein Tor schießen“. Es wurden sogar zwei.

Die Zwischenrunde wurde zum ersten und einzigen Mal in Dreier-Gruppen ausgetragen. Motto: ein Stadion, drei Teams, drei Spiele, ein Halbfinalist. Die vier Mini-Turniere hoben das Niveau der WM, die in ihrer heißen Phase auch unter der spanischen Sommerhitze litt, enorm. Zwar ging es wieder um Punkte, doch keiner wollte in die Lage geraten, im letzten Spiel zusehen zu müssen, was die Konkurrenz machte. Der Auftaktsieger würde nämlich das letzte Spiel haben, und wer sein Schicksal selbst bestimmen wollte, sollte am besten gleich gewinnen.

Polen düpiert Belgien

Entsprechend verliefen die meisten Auftaktpartien. In Gruppe A in Nou Camp stürmten die Polen in einem nur zu einem Drittel gefüllten Stadion gegen die dezimierten Belgier wie entfesselt und siegten 3:0. Alle Tore schoss der rotblonde Zbigniew Boniek, der schon mit 26 Jahren bei Juventus Turin spielen durfte und den Neid der Kollegen auf sich zog, die eigentlich nicht vor 30 ins „kapitalistische Ausland“ duften. Belgien musste auf Jean-Marie Pfaff, der nach der WM zu den Bayern ging, und dem späteren Bundesliga-Trainer Eric Gerets verzichten. Die beiden waren gegen Ungarn zusammengeprallt, und so dezimierte sich der Bezwinger Argentiniens selbst.

Im nächsten Spiel gab es noch ein 0:1 gegen die Russen, die nun gegen Polen gewinnen mussten. Am 4. Juli kam es also doch zum Kampf der verfeindeten Brüder im Warschauer Pakt. Polen-Trainer Piechniczek betonte, es gebe „keinen Befehl von oben, dass wir zu verlieren haben“. Sonst hätte er sich wegen Befehlsverweigerung verantworten müssen, nach einem niveauarmen 0:0 fuhren die Russen um Alt-Star Oleg Blochin heim. Auf den Rängen sah man rotweiße Transparente mit der Aufschrift „Solidarnosc“, und Polen-Torwart Mlynarczyk betonte pathetisch: „Das war heute ganz wichtig für unser Volk, das so viele große Sorgen hat.“

In der deutschen Gruppe B war Zuschauermangel das geringste Problem. Was man hier vermisste, waren Tore und fußballerische Klasse. Im Grunde fing damals aber schon die englische Phobie vor dem deutschen Fußball an, die 1990 in Gary Linekers Spruch („Am Ende gewinnen immer die Deutschen“) gipfelte. Denn die Briten mussten abreisen, ohne ein Spiel verloren zu haben. Aber zwei 0:0-Spiele berechtigen auch nicht zum Weiterkommen. „Zwei Berge gebaren eine Maus“, lästerte France Soir nach dem Spiel gegen Deutschland zu Recht.

Nur 0:0 gegen England

Den einzigen Sieg der Gruppe aber meldete eben dieses Deutschland – als es unbedingt sein musste. Nach dem 0:0 gegen die Briten, als nur Rummenigges Lattenschuss in der 85. Minute die Kulisse vor dem Einschlafen bewahrte, musste der Gastgeber besiegt werden. Mit welcher Mannschaft, das wusste Derwall noch immer nicht. Hatte er die Vorrunde stets mit derselben Elf bestritten, so landeten Magath und Hrubesch gegen England plötzlich auf der Tribüne und Pierre Littbarski auf der Bank. Bernd Förster, Uwe Reinders und der verletzt angereiste Hansi Müller bekamen eine Chance, nur der ältere Förster-Bruder nutzte sie.

Derwall setzte Hrubesch auf die Bank. Es stürmten die Kölner Littbarski und Fischer, und die sollten sich bewähren. Im bis dahin besten deutschen Spiel schossen sie nach der Pause zwei Tore, Spaniens Zamora verkürzte noch. „Endlich ein Sieg, der Freude macht“, lobte Bild, die die Spieler mit der Schlagzeile „Siegen oder fliegen!“ in die Spur gebracht hatte. Nun aber waren die Deutschen in der Lage der Algerier zehn Tage zuvor. „Ich weiß jetzt, wie die sich gefühlt haben müssen“, sagte Verteidiger Hans-Peter Briegel vor dem letzten Gruppen-Spiel.

Würden sich die ausgeschiedenen Spanier gegen England noch mal reinhängen? Nur fünf deutsche Spieler wollten es hautnah erleben und fuhren ins Stadion, der Rest zitterte im Quartier vor dem Fernseher. „Einwurf für uns“, rief Derwall und meinte eigentlich die Spanier. Die hatten den Ehrgeiz, mit Anstand von ihrer eigenen Party zu gehen, wenn sie schon nicht bis zum Schluss bleiben konnten. Es wurde eine lange Sommer-Nacht für die Deutschen, die am 5. Juli gegen 23 Uhr der einzige Sieger dieses 0:0 waren. Dremmler und Breitner sprangen vor Freude in den Pool, ein DPA-Reporter folgte nicht ganz freiwillig. Vier Spieler hatten ihn hineinbefördert. Plötzlich waren sie wieder eine Spaßgesellschaft – wie noch vor der Abreise nach Gijon.

Gruppe C als Favoritengrab

Und plötzlich hatten sie sogar realistische Chancen, Weltmeister zu werden. Denn die Gruppe C wurde zum Favoriten-Grab, und der einzige Überlebende war die graue Maus der Vorrunde – Italien. Die Squadra Azzurra setzte sich gegen Weltmeister Argentinien und Top-Favorit Brasilien durch – nicht wie gewohnt und allseits gefürchtet mit Catenaccio, sondern mit einem unerwarteten Torrausch. Darunter fällt in Italien, wo laut Trainer Bearzot schon „ein Tor ein Weltwunder ist“, bereits ein 2:1. Solches glückte gegen Argentinien, das am Ende die Nerven und Gallego durch Platzverweis verlor. So hielten sie es auch im zweiten Spiel gegen Brasilien (1:3), diesmal flog Maradona nach einer Tätlichkeit hinunter. Sein Einstand in Spanien verlief enttäuschend, und mancher fragte sich, ob der 21-Jährige das Geld wohl wert sei, das Barcelona in ihn investierte.

Die nächste Frage war: „Wer wird jetzt der WM-Star?“ Sie wurde auch in der Gruppe C beantwortet, wo das kleine Stadion Sarria von Espanyol Barcelona die besten Gruppen-Spiele dieser WM sah. Hier ging am 5. Juli der Stern eines Mannes auf, der 1978 auch schon dabei war. Paolo Rossi, damals lebte er noch bei seiner Mutter, brauchte etwas länger, um erwachsen zu werden. 1980 war er in einen Wettskandal verwickelt und gesperrt worden, doch zur WM ließ man den nun 25-Jährigen von der Leine. Er dankte es auf die beste Weise, zu der ein Stürmer in der Lage ist: mit Toren.

An diesem Tag also schoss er die phantastischen Brasilianer aus dem Turnier, er ganz alleine. Rossi drei, Brasilien zwei hieß es nach überaus faszinierenden 90 Minuten. Zweimal hatte Brasilien ausgleichen können, doch nach Rossis drittem Streich kam es nicht mehr zurück. Auf der Tribüne beschlich den großen Pelé schon zur Pause (1:2) „ein ungutes Gefühl“, wie er die Heimat am TV-Mikrofon wissen ließ. Es sollte ihn nicht trügen.

Sieg über Brasilien begeistert Italien

Die Trainer umarmten sich nach der Hitzeschlacht, es wurden 37,6 Grad gemessen, fair. Enzo Bearzot tröstete Tele Santana: „Ihr habt eine sehr große Mannschaft.“ Santana entgegnete: „ Aber ihr seid an diesem Tag besser gewesen.“ Die italienische Presse überschlug sich: „Jetzt sind wir die Brasilianer. Das beste Italien aller Zeiten“, jubelte der Corriere dello Sport. Konnten diese Italiener etwa Weltmeister werden?

Die Gruppe D schälte aufgrund des Terminplans den ersten Halbfinalisten heraus. Es wurde Frankreich, das es schwerer hätte treffen können für einen Gruppenzweiten. Doch Österreich (1:0) und Nordirland (4:1) waren kein Hindernis für die plötzlich befreit aufspielenden Techniker, um deren Mittelfeldzauberer Platini-Giresse-Tigana sie allgemein beneidet wurden.

Bei den Österreichern dagegen war die Luft raus. Nach der Pleite gegen Frankreich ätzte Torwart Friedel Koncilla: „Jetzt hat jeder gesehen, dass wir gegen Deutschland nicht geschoben haben. Wir wollten nicht so schlecht sein, wir konnten nicht besser.“ Das zeigte sich auch beim 2:2 gegen die Nordiren, als die Helden von Cordoba endlich ausgemustert waren und ein Hans Krankl auf die Tribüne musste.

Briten stehen in der Kritik

Die Briten mussten sich im Vorfeld gegen Berichte über Saufexzesse wehren. „Natürlich haben wir nach dem Sieg gegen Spanien etwas gefeiert, aber es blieb im Rahmen. Von Alkoholleichen kann nicht die Rede sein“, sagte Kapitän Martin O’Neill. Die Nordiren bereicherten diese WM auf ihre Weise, ihre Fans etablierten in Europa den heute selbstverständlichen Brauch, ihre Mannschaft im Nationaltrikot zu unterstützen.

Was blieb noch von dieser Gruppe? Das Stadion Vicente Calderon von Atletico Madrid sah am 1. Juli das heißeste WM-Spiel, bei Nordirland-Österreich herrschten tropische Temperaturen – 50 Grad in der Sonne.

Auch der 8. Juli war ein drückend heißer Sommer-Tag. An diesem Donnerstag wurden die Halbfinals ausgetragen. Den Anfang machte die Neuauflage des schrecklichen Vorrundenspiels zwischen Italien und Polen, das torlos geendet war. Jetzt aber spielte ein anderes Italien, offensiv und selbstbewusst. Die Polen waren das auch, aber Boniek war gesperrt und das konnte diese Mannschaft nicht kompensieren. Der alte Lato, 1974 Torschützenkönig, war über seinen Zenit hinaus. Auch er musste die Bühne räumen für den neuen WM-Star Paolo Rossi.

Der Juventus-Star eroberte nun auch das größere Stadion Barcelonas und traf in Nou Camp zweimal. Rossi zwei, Polen null lautete das Resultat des italienischen „Heimspiels“, denn aus der Heimat kamen unentwegt Tifosi nach Spanien, um mit eigenen Augen zu sehen, was kaum zu glauben war. Die Polen gingen hocherhobenen Hauptes, nur Teamchef Kucowicz meckerte: „Es ist ein Skandal, dass uns das Organisationskomitee in ein Hotel ohne Klimaanlage gesteckt hat.“ Vor dem Spiel hatten Reporter beide Mannschaften gefragt, wen sie im Endspiel wollten. „Nur nicht die Deutschen!“, war der Tenor.

Der Thriller von Sevilla

Beinahe wäre ihr Wunsch erfüllt worden, aber eben nur beinahe. Am Abend begann um 21 Uhr das zweite Halbfinale, das alles in den Schatten stellen sollte, was diese WM zu bieten hatte. In Sevilla maßen sich Frankreich und Deutschland bei 33 Grad Celsius, es ging eine leichte Brise. Derwall hatte wieder umgestellt, der seit der Vorrunde verbannte Magath erhielt eine neue Chance. Karl-Heinz Förster wurde als Außenverteidiger auf Didier Six angesetzt und Wolfgang Dremmler mit der Beschattung Michel Platinis, dem genialen Lenker der Franzosen, beauftragt. Briegel ging angeschlagen ins Spiel, er war beim Duschen ausgerutscht. Und für Rummenigge blieb nur noch die Bank, der Oberschenkel war schon blau unterlaufen von den Einstichen der Spritzen. Derwall versprach ihm: „Wenn wir hinten liegen, kommst du rein.“

So begann der Europameister entgegen seiner Gewohnheit nur mit zwei Spitzen: Littbarski und Fischer. Sie sorgten schon nach 17 Minuten für die Führung, Littbarski war nach Fischers Vorarbeit zur Stelle. Lange währte die Freude nicht, da verwandelte Platini einen Foulelfmeter, den Bernd Förster verursachte. Nun wogte das Spiel hin und her.

Kein Mensch würde heute wohl mehr über den sportlichen Unterhaltungswert dieses Halbfinales reden, wenn der 21-jährige Manuel Amoros nach exakt 90 Minuten nur ein paar Zentimeter niedriger geschossen hätte. So aber traf der Franzose nur die Latte des deutschen Tores, das seit der 57. Spielminute der Buhmann des Abends hütete: Harald Schumacher aus Köln, den alle Toni riefen.

Schumacher foult Battiston

Heute fällt sie einem zuerst wieder ein, wenn von Sevilla die Rede ist: sein Foul an Patrick Battiston, dem er beim Herauslaufen ins Gesicht gesprungen war. Battiston war zu Boden gegangen, aber der Ball neben das Tor. Dem Mittelfeldspieler von AS St. Etienne, der vom Platz getragen werden musste, fehlten zwei Schneidezähne. Die Freundin von Battiston brach auf der Tribüne besinnungslos zusammen, als noch nicht abzusehen war, wie es um ihren künftigen Gatten stand.

Schumacher entschuldigte sich eine Woche später bei Battiston in Metz und söhnte sich mit ihm aus. Er hat eingesehen, dass er viel zerstört hat an diesem Juli-Abend und dass er ein wundervolles, ja episches Fußballspiel überschattet hat. Und doch war es ein glücklicher Abend für Deutschland. In der regulären Spielzeit waren die Franzosen, technisch brillant, leichtfüßig kombinierend mit dem genialen Dreigestirn Platini, Tigana, Giresse, dem Sieg näher gewesen. Aber dem stand der schon mythische deutsche Kampfgeist entgegen, der diese Elf trotz aller Probleme einte. Von hinten trieb Ulli Stielike die Mannschaft an, und Paul Breitner, ein bis dahin eher enttäuschender Regisseur, stand ihm in nichts nach.

Doch fehlte ihm sein kongenialer Partner Rummenigge. Der fieberte mit und kühlte seinen gezerrten Oberschenkel mit Eiswürfeln, die er in den Handschuh von Ersatztorwart Eike Immel gepackt hatte. Drei Minuten waren in der Verlängerung gespielt, als Frankreichs Libero Tresor nach einem Freistoß unbedrängt ein Traumtor erzielte. Das Signal für Rummenigge, er sprang von der Bank auf. Kaum für Briegel auf dem Platz, fiel das 1:3 durch Giresse. Der kleine Mann mit Schuhgröße 38 schoss die L’Equipe tricolore“ in den siebten Fußballhimmel - scheinbar.

Ein 1:3-Rückstand 20 Minuten vor Ablauf der Verlängerung, bei noch immer rund 30 Grad. „Normalerweise ist man da geneigt zu sagen, da ist nichts mehr drin. Aber wir sollten dennoch die Daumen drücken“, mahnte Rolf Kramer die TV-Zuschauer, und als Fischer schon im Gegenzug ein Abseitstor gelang, sah man, dass die Moral intakt war.

Fischers Tor für die Ewigkeit

Die Ordnung weniger: Rechtsverteidiger Kaltz kam plötzlich über linksaußen, und Libero Stielike stürmte ohne Unterlass. Sein Pass auf Littbarski leitete die Wende ein, denn Rummenigge sprang artistisch in die Flugbahn des Balles – und dieser ins Netz. Dass in einer solchen Situation, wo der Ball bloß irgendwie über die Linie musste, die Spieler beider Teams dennoch in der Lage waren, auch noch so ausnehmend schöne Tore zu erzielen – nur Platinis Elfmeter war eher gewöhnlich –, war ein Charakteristikum dieses Fußball-Epos.

Die Franzosen standen sichtlich unter Schock, nutzten die Pause in der Verlängerung voll aus. Während sie noch am Boden lagen, tänzelten die elf Deutschen schon am Anstoßkreis. Und lagen sich drei Minuten später in den Armen. Klaus Fischer hatte per Fallrückzieher ausgeglichen, das vielleicht schönste Tor der WM war auch sein wichtigstes. Und der 174 Zentimeter kleine Torwart Ettori, nur als Nummer drei nach Spanien gefahren, musste hilflos zusehen, wie Hrubesch und Fischer sich in seinem Fünfmeterraum die Bälle zuspielten. Frankreich, im Vorgefühl des sicheren Sieges, taumelte ins erste Elfmeterschießen in der WM-Geschichte.

Auch hier wähnten sich „Les Bleues“ als Sieger, lagen in Führung nach dem Fehlschuss von Stielike, aber wieder sollte es nicht reichen. Schumacher hielt den nächsten Ball von Six, denn Hansi Müller hatte ihm dessen Ecke verraten. Man kannte sich vom VfB Stuttgart.

Selbst nach dem zehnten Schuss von Rummenigge, der leichenblass zum Punkt ging, stand kein Sieger fest, und neue Schützen mussten bestimmt werden. Die Franzosen nominierten Maxime Bossis. Der war schon auf Freizeit eingestellt und schoss mit herunter gerollten Stutzen, die Schienbeinschoner lugten weit hervor. Und er schoss schlecht, Schumacher hielt fast mühelos. Nun kam Horst Hrubesch an die Reihe. Der Hamburger, der seinen Rücktritt angekündigt hatte, erwies seinen Kameraden einen letzten Dienst. Als einziger Spieler ließ er den Ball auf dem Punkt liegen, alle anderen hatten ihn sich noch einmal zurechtgerückt. Er hatte so etwas wie Gottvertrauen in diesem Moment. Vor dem Spiel fand sich ausgerechnet in seinem Spind ein aufgeklebtes Jesus-Bild, und er murmelte: „Ich glaube, jetzt kann nichts mehr schiefgehen.“ So traf er zum 8:7-Endstand, zum Finale gegen Italien nach Madrid, zu dem Bundeskanzler Helmut Schmidt eigens anreisen sollte.

Tiefer Trauer bei den Franzosen

Der hatte übrigens die Spannung nicht ertragen und beim Elfmeterschießen das Zimmer verlassen. „Gucken Sie für mich weiter“, befahl er seinem Regierungssprecher Rühl. Die Franzosen vergossen in der Kabine viele Tränen. „Aber nicht, weil wir verloren hatten. Sondern weil die Spannung abfiel und weil wir so überwältigt waren von unseren Gefühlen. Ich habe nie mehr so viele Männer zugleich weinen sehen“, gestand Platini. Und die Welt staunte wieder einmal über die deutsche Stehauf-Mentalität. Am besten brachte es eine englische Zeitung auf den Punkt: „Merke: Die Deutschen sind erst geschlagen, wenn der Sarg zugenagelt ist.“

Nun also standen sie zum vierten Mal in einem WM-Finale, was vor dem Turnier der Anspruch und während der Vorrunde eine Fata Morgana geworden war. Auch Italien hatte seine Wellentäler durchlebt, und so sah Madrid am 11. Juli das Treffen zweier klassischer Turniermannschaften. Ästheten hätten diese sicher liebend gern gegen Brasilien und Frankreich eingetauscht, doch danach geht es im Fußball ist.

Die Deutschen hatten objektiv die schlechteren Vorzeichen zu bewältigen: Sie hatten einen halben Tag weniger Ruhe. Ihr Spiel endete viel später, und noch nachts um drei Uhr saßen sie in Sevilla am Flughafen fest, weil es angeblich seit 90 Minuten keine Startgenehmigung gab. Erst als Derwall drohte: „Wenn wir in zehn Minuten noch nicht gestartet sind, verlässt die Mannschaft das Flugzeug.“ Plötzlich ging es, und morgens um fünf bekamen die Sieger von Sevilla noch ein „Abendessen“ in Madrid, da die Hotelbelegschaft extra auf den Beinen geblieben war. Steak im Morgengrauen – auch das war Spanien 1982.

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Keine Steigerung mehr möglich

Im Finale war die deutsche Mannschaft dann zu keiner Steigerung mehr fähig - und das war gegen diese Italiener zu wenig. Zur Halbzeit stand es nur deshalb noch 0:0, weil Cabrini einen Elfmeter verschoss. Der Sturm brachte zu wenig Entlastung. Das lag vor allem an Rummenigge, der sich für fit erklärte und es doch nicht war. „Willst du dich nicht endlich auswechseln lassen?“ sagte Stielike noch in der Halbzeit, „das sieht doch jeder, dass du nicht fit bist.“ Der Kapitän konterte bayerisch-derb: „Schmarrn!“. Erst nach Rossis 1:0, dessen sechsten Tor in Serie, reagierte Derwall.

Aber nicht Rummenigge, sondern Dremmler musste Horst Hrubesch weichen. Der Madrilene Stielike drehte fast durch, er wollte unbedingt im eigenen Stadion Weltmeister werden. Erst nach 70 Minuten, Tardelli hatte soeben auf 2:0 erhöht, ging der Kapitän, der mit fünf Treffern immerhin zweitbester Torjäger in Spanien war, von Bord. Es war Rummenigges persönliche Tragik, dass er nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war, als es um den WM-Titel ging.

Die sich nun an sich selbst berauschenden Italiener entschieden ein am Ende einseitiges Finale ohne Mythen und Dramen durch Joker Altobelli und gönnten Breitner noch das Ehrentor. Damit war er der dritte Fußballer nach Vava und Pele, der in zwei WM-Endspielen getroffen hatte. 1974 half es zum Sieg, diesmal zum zweiten Platz.

Dass dazwischen Welten liegen können, spürte gerade Breitner besonders. Als Derwall in der Kabine begann, tröstend das Abschneiden zu loben, fiel ihm Breitner ins Wort: „Schon gut, Trainer. Sie brauchen nichts mehr zu sagen.“ Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte da mitfühlen: „Ich bin kein Trostspender. Die Spieler müssen jetzt ein freundliches Gesicht machen wie ich nach verlorenen Wahlschlachten.“ Sein Amtskollege, der 84-jährige Sandro Pertini, hatte einen schöneren Sonntag erlebt. Bei jedem Tor war er aufgesprungen, und stolz sagte er: „Ich bin Italiens erster Tifoso.“

Jupp Derwall sagte noch im Oktober 1982: „Es wäre schön, wenn bei aller tiefschürfenden Kritik an dieser WM das Resultat eines Vizeweltmeistertitels nicht ganz vergessen würde und wir die Chance nutzen würden, auch der Mannschaft das Gefühl zu geben, etwas geleistet zu haben.“