WM 1970: Mühsamer Auftakt gegen Marokko

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

3. Juni in Leon - WM-Vorrunde: Deutschland - Marokko 2:1

Vor dem Spiel:

19 Tage nach einer strapaziösen Saison mit außergewöhnlich vielen Nachholspielen flog der DFB-Tross nach Mexiko. Obwohl der erste Versuch, 1968 an einer EM teilzunehmen, auf einem Hartplatz in Tirana sein Ende fand, hatte Helmut Schön an Bewährtem festgehalten. 14 der 22 Spieler waren bereits in England dabei gewesen. Mit an Bord, aber ohne Kaderplatz, war der Dirigent von Meister Borussia Mönchengladbach, Günter Netzer. Ihn hinderte eine Verletzung, wenn auch nicht am Schreiben. Eine Zeitung hatte ihn als Kolumnisten eingekauft.

Damit hatte sich die Spielmacherfrage - Overath oder Netzer ? - von selbst gelöst. Die spannende Frage nach dem Mittelstürmer - Seeler oder Müller - löste Helmut Schön salomonisch. Da er den Hamburger 1969 zur Rückkehr in die Nationalelf hatte bewegen können, wollte er nicht auf ihn verzichten, aber auf den bereits dreifachen Münchner Torschützenkönig auch nicht. Seeler sollte etwas zurückgezogen agieren, als hängende Spitze. Was er klaglos hinnahm.

Auf Betreiben des Co-Trainers Jupp Derwall wurden die Rivalen im Quartier Balnearo de Comanjilla, einer schmucken Hazienda in der Nähe von Leon, auf Zimmer 15 sogar zusammengelegt, um die Feinheiten des Zusammenspiels auch bei Nacht ausdiskutieren zu können. Blieb noch das Problem Helmut Haller. Der Italien-Legionär war längst nicht mehr in der Form von Wembley, wog bei 1,78 Metern stolze 78 Kilogramm. Aber er wusste die Boulevardpresse hinter sich. So gab Schön ihm den Vorzug vor Stan Libuda, dessen Tor gegen die Schotten im Oktober 1969 das Mexiko-Ticket erst gelöst hatte.

Gegen Marokkos Feierabendfußballer - alle gingen einem Beruf nach und trainierten nur zweimal die Woche - schien die Aufstellung egal. "Wir gewinnen klar und deutlich", versprach Berti Vogts. Und Schön, der oft so Zaudernde: "Wenn die Mannschaft verliert, die wir jetzt aufbieten, dann weiß ich auch nicht."

Die Hauptsorge galt vielmehr den Rahmenbedingungen, trotz aller Vorsorge erwischte einige Spieler "Montezumas Rache" (Durchfallerkrankung) und die Hitze veranlasste Wolfgang Overath zu der Prognose: "Ich glaube nicht, dass es eine WM mit vielen großen Spielen gibt. Dafür sind die äußeren Umstände zu schlecht."
Im Rückblick sagte er: "Die ersten drei Trainingstage waren eine Katastrophe." Dann begann die Gewöhnung an Höhenluft und Hitze.

In der Öffentlichkeit wurde nur die Höhe des deutschen Sieges diskutiert, zumal es gegen diesen Gegner bisher nur klare Erfolge (4:1 und 5:1) gegeben hatte. Marokko war erst der zweite WM-Teilnehmer aus Afrika, zur WM kamen sie per Losentscheid. Und Trainer Blagoje Vudinic gab sich keinen Illusionen hin: "Unser leichtestes Spiel wird gegen Deutschland sein. Wir werden natürlich verlieren, oder rechnet irgendjemand mit einer Überraschung?"



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

3. Juni in Leon - WM-Vorrunde: Deutschland - Marokko 2:1

Vor dem Spiel:

19 Tage nach einer strapaziösen Saison mit außergewöhnlich vielen Nachholspielen flog der DFB-Tross nach Mexiko. Obwohl der erste Versuch, 1968 an einer EM teilzunehmen, auf einem Hartplatz in Tirana sein Ende fand, hatte Helmut Schön an Bewährtem festgehalten. 14 der 22 Spieler waren bereits in England dabei gewesen. Mit an Bord, aber ohne Kaderplatz, war der Dirigent von Meister Borussia Mönchengladbach, Günter Netzer. Ihn hinderte eine Verletzung, wenn auch nicht am Schreiben. Eine Zeitung hatte ihn als Kolumnisten eingekauft.

Damit hatte sich die Spielmacherfrage - Overath oder Netzer ? - von selbst gelöst. Die spannende Frage nach dem Mittelstürmer - Seeler oder Müller - löste Helmut Schön salomonisch. Da er den Hamburger 1969 zur Rückkehr in die Nationalelf hatte bewegen können, wollte er nicht auf ihn verzichten, aber auf den bereits dreifachen Münchner Torschützenkönig auch nicht. Seeler sollte etwas zurückgezogen agieren, als hängende Spitze. Was er klaglos hinnahm.

Auf Betreiben des Co-Trainers Jupp Derwall wurden die Rivalen im Quartier Balnearo de Comanjilla, einer schmucken Hazienda in der Nähe von Leon, auf Zimmer 15 sogar zusammengelegt, um die Feinheiten des Zusammenspiels auch bei Nacht ausdiskutieren zu können. Blieb noch das Problem Helmut Haller. Der Italien-Legionär war längst nicht mehr in der Form von Wembley, wog bei 1,78 Metern stolze 78 Kilogramm. Aber er wusste die Boulevardpresse hinter sich. So gab Schön ihm den Vorzug vor Stan Libuda, dessen Tor gegen die Schotten im Oktober 1969 das Mexiko-Ticket erst gelöst hatte.

Gegen Marokkos Feierabendfußballer - alle gingen einem Beruf nach und trainierten nur zweimal die Woche - schien die Aufstellung egal. "Wir gewinnen klar und deutlich", versprach Berti Vogts. Und Schön, der oft so Zaudernde: "Wenn die Mannschaft verliert, die wir jetzt aufbieten, dann weiß ich auch nicht."

Die Hauptsorge galt vielmehr den Rahmenbedingungen, trotz aller Vorsorge erwischte einige Spieler "Montezumas Rache" (Durchfallerkrankung) und die Hitze veranlasste Wolfgang Overath zu der Prognose: "Ich glaube nicht, dass es eine WM mit vielen großen Spielen gibt. Dafür sind die äußeren Umstände zu schlecht."
Im Rückblick sagte er: "Die ersten drei Trainingstage waren eine Katastrophe." Dann begann die Gewöhnung an Höhenluft und Hitze.

In der Öffentlichkeit wurde nur die Höhe des deutschen Sieges diskutiert, zumal es gegen diesen Gegner bisher nur klare Erfolge (4:1 und 5:1) gegeben hatte. Marokko war erst der zweite WM-Teilnehmer aus Afrika, zur WM kamen sie per Losentscheid. Und Trainer Blagoje Vudinic gab sich keinen Illusionen hin: "Unser leichtestes Spiel wird gegen Deutschland sein. Wir werden natürlich verlieren, oder rechnet irgendjemand mit einer Überraschung?"

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Die "Joker" bringen die Wende 

Spielbericht:

Mit sieben Spielern, die vor vier Jahren im Wembley-Finale gestanden haben, eröffnet Deutschland diese WM. In Leon ist es 16 Uhr, in Mitteleuropa hat dieser Mittwoch nur noch eine Stunde. Das Thermometer zeigt 39 Grad! Ernst Huberty kommentiert für die ARD live aus einem nur spärlich besuchten Stadion. Die Tickets sind überteuert, 30mal so viel wie ein Kinobesuch - zu viel für die Einheimischen. Erstmals sehen deutsche Zuschauer ein WM-Spiel ihrer Elf in Farbe, sofern sie das passende Gerät haben.

Marokkos Spieler werfen Blumen ins Publikum, das trotzdem die Deutschen anfeuert. Uwe-Sprechchöre in Leon. Held holt die erste Ecke heraus, den ersten Torschuss setzen die Afrikaner ab, noch braucht Maier nicht einzugreifen. Der aufgerückte Vogts prüft Torwart Allal, der auch Overaths 16-Meter-Geschoss meistert. "Noch immer nichts, was nach Tor aussieht", protokolliert der Kicker.

Plötzlich Gefahr vor dem DFB-Tor, Maier muss sich Idriss vor die Füße werfen, um den Ball zu bekommen. Sekunden später doch das 0:1, als Höttges eine Linksflanke unbedrängt in die Gefahrenzone und gegen Maiers Laufrichtung köpft. Houmane hat leichtes Spiel und schießt aus fünf Metern ein. "Eine Vorlage von Höttges, die schöner gar nicht sein kann", spottet Huberty bitter. Der Sünder entschuldigt sich später: "Der Ball flatterte in der Luft und anstatt auf die Stirn bekam ich ihn auf die Seite. Anstatt zu Sepp flog der Ball dem Marokkaner vor die Füße."

Dieser Marokkaner bekommt Oberwasser, drei Minuten später zwingt Houmanes Kopfball Maier zu einer Glanzparade. Im Kicker ist zu lesen: "Overath gelingt nichts, kein Paß kommt an den Mann. Was ist denn nur los mit ihm?" Auch Haller fällt ab, schon nach 20 Minuten leuchtet sein Kopf rot, der Fitnessrückstand des Turiners macht sich deutlich bemerkbar. Die Fans rufen nach Libuda, aber der sitzt nicht mal auf der Bank. Dann endlich eine Chance für Müller - Latte (28.).

Zusammenhängende Aktionen sind Mangelware und Weitschüsse wie der von Overath (33.) führen nicht zum Erfolg. Immer deutlicher wird, dass die Kompromisslösung Müller und Seeler einen Nachteil hat - das deutsche Spiel ist flügellahm. Mit 0:1 gehen sie in die Kabine, wo sie auf einen erregten Bundestrainer treffen. "Spielt endlich schneller! So geht es nicht weiter. Ihr müsst das Heft in die Hand bekommen!"

Dann führt er den ersten Wechsel in der deutschen WM-Geschichte durch, erstmals ist es in Mexiko erlaubt. Jürgen Grabowski kommt für Haller, der an diesem Tag sein Abschiedsspiel macht, was noch keiner ahnt. Seeler geht ins Mittelfeld, Grabowski besetzt den von Haller kaum besetzten rechten Flügel. Im ARD-Studio in Mexiko sitzt Fritz Walter und gesteht Moderator Adi Furler: "Ich bin genauso maßlos enttäuscht wie unsere Zuschauer am Bildschirm. Bei aller Nervosität müsste man doch mehr erwarten."

Schön gibt letzte Kommandos: "Seht euch vor, die werden das Spiel jetzt zerhacken und verzögern. Jede Minute läuft jetzt für die." Sie sind sogar dermaßen zögerlich, dass bei Wiederanpfiff erst acht Marokkaner auf dem Feld stehen, sogar der Torwart fehlt. Trainer Vidovic empört sich später: "Was Schiedsrichter Ravens sich da geleistet hat, war einfach kriminell. Uns hat keiner gesagt, dass die zweite Halbzeit beginnt. Er pfiff das Spiel an, da war Allal noch unter der Tribüne."

Aber Siggi Held, zu dem der Ball nach dem Anstoß kommt, merkt es nicht, er geht trotz freier Schussbahn ins Dribbling und der Vorteil bleibt ungenutzt. Kurz nachdem Houmane erneut das 2:0 vergibt, endlich der Ausgleich. Auch bei seinem vierten WM-Tor schafft es Uwe Seeler in die Torschützenliste, der ein Müller-Zuspiel aus der Drehung im Fallen flach einschießt. Jetzt spielt nur noch Deutschland, Grabowski macht viel Wirbel, aber seine Flanken finden oft keinen Abnehmer.

Nach 75 Minuten kommt mit dem Kölner Hennes Löhr ein zweiter Joker für den Sturm, Höttges muss weichen. Es ist ein Glücksgriff, denn eine Kombination der Joker führt zum 2:1. Grabowskis Flanke köpft Löhr auf die Latte und der Abpraller fällt dem Mann mit dem eingebauten Torinstinkt auf die Stirn: Gerd Müller! Seeler schießt noch ein Abseitstor, aber ein höherer Sieg wäre nicht verdient gewesen. Auch wenn die Torschussstatistik ein 19:8 für Deutschland ausweist. Helmut Schön hält in seinen Memoiren die Stimmung fest: "Wir waren noch einmal davon gekommen. Die Spieler wirkten ausgesprochen deprimiert."

Aufstellung: Maier - Vogts, Schulz, Fichtel, Höttges (75. Löhr) - Haller (46. Grabowski), Beckenbauer, Overath - Seeler - Müller, Held.

Tore: 0:1 Jair (21.), 1:1 Seeler (56.), 2:1 Müller (80.).

Zuschauer: 12.742

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"2:1 - aber ein Trauerspiel"

Stimmen zum Spiel:

Helmut Schön: "Komm ich heut nicht, komm ich morgen - so haben wir angefangen und das war falsch. Es ist kompliziert gespielt worden mit dem unterschwelligen Gefühl der Überlegenheit. Nach jedem zweiten Pass spätestens ging der Ball verloren. Wir dürfen nicht wie die Brasilianer spielen, wir müssen unser deutsches Spiel machen."

Blagoje Vidinic (Trainer Marokkos): "Ich bin mit der Leistung meiner Mannschaft sehr zufrieden. Erst Grabowskis Hereinnahme hat das Spiel herum gerissen. Nach der Pause sah auch Beckenbauer gut aus."

Gerd Müller: "In den letzten 20 Minuten habe ich ganz schön geschnauft. Da wollte ich schon gar nicht mehr nach vorne mitlaufen, aber dann habe ich gesehen, dass von hinten der Löhr kommt. Dann bin ich doch mit vorgegangen."

Uwe Seeler: "Es wird schon noch alles besser, weil es nicht schlechter werden kann."

Günter Netzer: "Unglaublich, Marokko brachte uns an den Rand einer Katastrophe. Mir ist ohnehin unverständlich, wieso wir nicht von Beginn an mit vier Sturmspitzen gespielt haben."

"Nicht viel, was die deutschen Stürmer zu bieten hatten…was der Zweite der letzten Weltmeisterschaft zu bieten hatte, das war wirklich erbärmlich." (Süddeutsche Zeitung)

"2:1 - aber ein Trauerspiel. So schwach spielte unsere Mannschaft lange nicht mehr… Die unerwartet starke Leistung der Marokkaner darf aber nicht als Entschuldigung für alles herhalten, was unsere Elf an Fehlern machte." (Kicker)

"Man könnte vieles über dieses Spiel sagen, aber in einem Punkt sind sich alle einig: Marokko hätte den Sieg verdient gehabt…Diese junge Amateurmannschaft, die gegen die deutschen Giganten, die zu Mythen geworden sind, in dieser Fußballweltmeisterschaft gespielt und sich verteidigt hat, muss gelobt werden. Die ganze Welt hat ein solches Spiel nicht erwartet, aber sie bewundert jetzt Marokko… Wir stehen jetzt auf dem gleichen Niveau wie die Deutschen." (Al Alan/Rabat)

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