WM 1966: Legendärste Fehlentscheidung der Geschichte

Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 8: Die WM 1966 in England

Nach den Unkenrufen in Folge der Weltmeisterschaft 1962 war es um so überraschender zu sehen, dass die Idee eines globalen Fußballturniers nicht mehr auszulöschen war. Wurde vier Jahre zuvor noch im ersten Zorn über unsportliche, unattraktive und schlecht besuchte Spiele in Chile laut über eine Abschaffung nachgedacht, stellte die FIFA vor der Endrunde 1966 fest, dass die WM-Bewegung lebendiger denn je war. Als am 31. Januar 1964 die Qualifikationsgruppen zugeteilt (nicht gelost!) wurden, war eine Rekordteilnehmerzahl von 72 Ländern zu verzeichnen – vor Chile waren es 54 gewesen.

Alle wollten nach England, ins Mutterland des Fußballs. Viel hätte nicht gefehlt und die WM 1966 wäre in Deutschland ausgetragen worden, denn der DFB war der einzige Gegenkandidat bei der Abstimmung auf dem Fifa-Kongress 1960 in Rom. Doch die Engländer warfen ihr Jubiläum in die Waagschale, 1963 wurde der Verband bereits 100 Jahre alt, und schlugen die Deutschen mit 34:27 Stimmen. Es war, wenn man so will, ein Omen für das Wembley-Finale, in dem sich diese Länder sechs Jahre später ebenfalls duellieren sollten.

Bis es so weit war, mussten die WM-Kandidaten erst durch die Mühlen der Qualifikation. Erstmals hatte die FIFA den „Exoten“ einen Startplatz garantiert. Doch leichter wäre es wohl gewesen, ein Kamel durch ein Nadelohr zu schleusen, als sich als Primus von drei Kontinenten zu qualifizieren. Im Klartext: Asien, Afrika und Australien spielten einen Teilnehmer aus. Afrika zog daraufhin als Kontinentalverband geschlossen zurück und zeterte: „Wir fordern zumindest zwei Plätze für England. Europa bekommt zehn Plätze und wir müssen uns sogar noch mit Australien qualifizieren. Das ist eine glatte Benachteiligung, wir machen nicht mit.“

So wurde das Nadelöhr etwas größer und hindurch schlüpfte ein Exot, von dem noch die Rede sein wird – Nordkorea, das davon profitierte, das der verfeindete Bruderstaat Südkorea nicht antrat und Südafrika suspendiert wurde. Noch immer spielte die Weltpolitik eine nachteilige Rolle im Vorfeld des Turniers und es kam zu aus heutiger Sicht absurden Gruppen-einteilungen. So wurden Israel und Syrien kurzerhand nach Europa „verlegt“, wo sie auch rein sportlich fremdelten.

Portugal beklagt sich über Reisekosten

Portugal beklagte sich über seine Kontrahenten in einem Brief an die FIFA: „Die geographische Lage ist in keinster Weise berücksichtigt worden. Wir haben mit Rumänien und der CSSR zwei Gegner aus dem Osten, dazu noch die Türkei. Und wer soll die hohen Reisekosten zahlen?“ Letztlich hatten sie Geld genug, um sogar nach England zu reisen. Auch von Portugal wird man noch hören.

Mancher suchte den Weg noch durch die Hintertür. Die an Bulgarien gescheiterten Belgier legten Protest ein, weil ein Bulgare nach dem Spiel kollabiert sei. Klarer Fall von Doping, meinten die Belgier. Die FIFA lehnte ab, weil der Protest „vor dem Spiel“ hätte eingehen müssen. Seltsam.

Die deutsche Mannschaft war mit Schweden und Zypern in einer Dreiergruppe und musste nach dem 1:1 gegen die Skandinavier in Berlin zittern. Die Premiere von Herberger-Nachfolger Helmut Schön war missglückt an jenem November-Tag 1964 und vor dem Rückspiel im September 1965 in Stockholm war die Angst groß, man könne den Flug nach England verpassen – so wie etwa Vize-Weltmeister CSSR.

Debüt von Beckenbauer gegen Schweden

„Nie zuvor stand ein Spiel unter so einer nervlichen Belastung für uns alle“, gab Helmut Schön hinterher zu. Er hatte Risiko gespielt und neben dem Rekonvaleszenten Uwe Seeler auch zwei Debütanten aus München eingesetzt: Franz Beckenbauer und Peter Grosser. Deutschland siegte mit 2:1 und so wird zumindest auch von Seeler und Beckenbauer noch etwas zu hören sein. Denn sie standen im Aufgebot, das sich Schön aus anfangs 40, später 26 Spielern zusammensuchte. Spieler des amtierenden Meisters TSV 1860 München waren nicht dabei, auch ein Günter Netzer, damals im ersten Bundesliga-Jahr, wurde noch aussortiert. Nach ein paar Tagen in Malente reiste der 22er-Kader am 8. Juli als letzter der 16 Teilnehmer auf die britische Insel. Als die Lufthansa-Maschine Heidelberg das Wembley-Stadion überflog, meldete sich der Kapitän zu Wort: „Hier möchten wir sie spielen sehen.“

Favoriten waren sie zwar nicht, wie Schön gern betonte, aber der deutsche Fußball befand sich nach dem Rückschlag von Chile im Frühjahr 1966 offenkundig im Aufschwung. Hatte doch am 5. Mai mit Borussia Dortmund erstmals überhaupt ein deutscher Klub einen Europapokal gewonnen – den der Pokalsieger gegen den FC Liverpool. Im Vorjahr hatte 1860 München in diesem Wettbewerb bereits das Finale erreicht – und die neuformierte Nationalmannschaft, in der seit Chile 39 Debütanten zum Einsatz gekommen waren, hatte sechs der letzten sieben Spiele vor der WM gewonnen.

Dass die Buchmacher dennoch die niedrigsten Quoten auf Titelverteidiger Brasilien (7:4) und Gastgeber England (9:2) vergaben, verwunderte nicht. Die Deutschen standen auf dem sechsten Platz, man hätte den vierzehnfachen Einsatz zurückbekommen im Falle eines WM-Glücksfalles. Dass in England überhaupt um den Jules-Rimet-Pokal gespielt werden konnte, ist im Übrigen einem kleinen Hund zu verdanken.

Denn wie bereits 1895 der nationale FA-Cup war den Engländern im März 1966 auch die WM-Trophäe abhanden gekommen. Sie wurde in Westminster über Nacht auf einer von sechs Detektiven bewachten Ausstellung über Sport-Briefmarken, der sie einen gewissen Glanz verleihen sollte, gestohlen. Das Geschrei war groß, England stand eine Woche unter Schock und Scotland Yard verhaftete die üblichen Verdächtigen – ergebnislos.

"WM-Held" Pickels findet Pokal im Gebüsch

Aber am 27. März 1966 führte der Londoner Barkassenführer Dave Corbett seinen Hund wie jeden Sonntag im eigenen Garten spazieren und der kleine Pickles, eine schwarz-weiße Promenadenmischung, entdeckte den in Zeitungspapier eingewickelten Pokal im Gebüsch. Die WM hatte ihren Siegerpreis wieder, England seine Ehre und Dave Corbett fortan einen vierbeinigen Helden an der Leine. Der kleine Pickles machte ihn reich, allein schon durch seine Nebenrolle im Film „Der Spion mit der kalten Schnauze“ kamen 60.000 Pfund herein.

Die FIFA lud Pickles samt Herrchen übrigens zum Eröffnungsspiel ein. – und sogar zur WM 1970 nach Mexiko, doch solange währte sein Hundeleben leider nicht. Er erdrosselte sich mit der eigenen Leine – auf der Jagd nach einer Katze. Auch Prominenz schützt vor Unglück nicht.

Eine Weisheit, die auch auf den designierten Super-Star der WM zutreffen sollte. Der WM-Favorit Nummer eins war Brasilien, Brasilien aber war Pelé. Zum dritten Mal bereits nahm der Stürmer des FC Santos an einer WM teil, zwei Mal hatte es zum Titel gereicht. Warum nicht wieder? Im Quartier der Brasilianer trafen in England täglich bis zu 3000 Briefe ein, oft nur mit „König Pelé“ adressiert – analog zu dem Filmtitel, der die Kinokassen auch international füllte. Schon mit 25 Jahren war dieser Pelé ein gemachter Mann, der drei Häuser besaß, darunter einen 20-stöckigen Wolkenkratzer.

Und so war es nur angemessen, dass er auch das erste Tor der Weltmeisterschaft schoss, die mit einem niveauarmen 0:0 zwischen England und Uruguay begonnen hatte. Gegen Bulgarien (2:0) verwandelte Pele am nächsten Tag einen Freistoß. Dass es sein einziges Tor bleiben sollte, ahnte niemand. Aber es sollte nicht die WM der Südamerikaner werden und schon gar nicht die des Titelverteidigers.

Brasilien scheitert in der Vorrunde

Bereits nach der Vorrunde war Brasilien, das danach gegen Ungarn und Portugal jeweils verdient mit 1:3 verlor, ausgeschieden. Das hatte es seit 1950 in der WM-Historie nicht mehr gegeben und nur Frankreich erduldete 2002 als Titelverteidiger das gleiche Schicksal. In Rio de Janeiro kollabierten Menschen auf öffentlichen Plätzen, als das Ergebnis gegen Portugal über Lautsprecher verkündet wurde, Straßenkämpfe brachen aus und der Sitz des Fußballverbands erhielt Polizeischutz. Auch vor dem Haus des Nationaltrainers Vicente Feola zog die Polizei schon vor seiner Rückkehr einen Sicherheitsgürtel.

„Die Ära Brasiliens aber ist beendet. Für wie lange? Pelé sagte, dass er an keiner WM mehr teilnehmen wolle. Und neue Pelés bringt auch Brasilien nicht jedes Jahr hervor“, stimmte der Fußball- Sport schon einen Abgesang an. Feola hatte Pele gegen Ungarn geschont, das warf man ihm nun vor. Schon in der Halbzeit meckerte Djalma Santos: „Ohne Pelé sind wir nur die Hälfte wert.“ Doch als der Angeschlagene zurückgekehrt war, konnte er gegen Portugal auch keine Wunder mehr vollbringen. Ein König ohne Macht.

Brasiliens Versagen ist ein Grund dafür, warum England 1966 als WM der Überraschungen in die Annalen einging. Dass WM-Neuling Portugal in der Brasilien-Gruppe alle Spiele gewinnen würde, stand auch auf keinem Expertenzettel. Frankreichs klägliches Scheitern in Gruppe 1 mit Sieger England, Uruguay (Zweiter) und Mexiko war zumindest ein empfindlicher Schlag für Europas Selbstbewusstsein.

Doch es war nichts gegen den Volltreffer in die Magengrube, den die Nordkoreaner setzten. Am 19. Juli trafen sie im letzten Spiel der Gruppe 4 auf Italien, dessen Sieg nur als Formsache angesehen wurde. Nordkorea hatte zwar nur zwei seiner 37 Vorbereitungsspiele verloren und zuvor gegen Chile (1:1) in letzter Minute seinen ersten WM-Punkt erbeutet, beeindruckte aber mehr durch roboterhafte Laufbereitschaft als durch Spielvermögen. Einige verglichen die Asiaten mit einem Ameisenhaufen, Schlagzeilen machten nur ihre Extravaganzen neben dem Platz. So war ihnen kein Trainingsplatz gut genug, gleich drei ihnen zugewiesene Felder lehnten sie strikt ab.

Die 79-köpfige Delegation war die größte aller Teilnehmer, allein neun Dolmetscher waren im Einsatz, und musste auf zwei Hotels verteilt werden. Die Mannschaft des von England offiziell nicht anerkannten kommunistischen Staates wurde von einem Militär-Obersten trainiert – oder besser gedrillt.

Seit 13 Monaten waren die Spieler kaserniert worden und keinem war es erlaubt vor der WM zu heiraten. Dafür feierten sie andere Feste. In Middlesbrough erlebte die WM eine ihrer denkwürdigsten Momente und Italiens Fußball in etwa das, was für Deutschland „Cordoba“ ist. Eine Schmach.

Ein Spieler namens Pak Doo-Ik schoss sich in der 40. Minute in die Schlagzeilen der Weltpresse, als er nach einem Fehlversuch – er trat in den Rasen – im zweiten Versuch Torwart Albertosi überwand.

Die Italiener, seit der 22. Minute verletzungsbedingt in Unterzahl, schlugen wütend zurück und holten 19:2 Ecken heraus. Aber kein Tor mehr, es blieb beim 1:0. „Korea, kannst Du mich hören? Wir haben gewonnen“, brüllte ein patriotischer Rundfunkreporter ins Mikrofon in Richtung Heimat. Torschütze Pak Doo-Ik gab später zum Besten: „In der Kabine weinten wir alle. Ich rannte die Treppe hinauf zu den obersten Rängen der Tribüne und hielt eine Rede an den Großen Führer Kim Il-Sung. Ich wusste, wir hatten ihm seinen Wunsch erfüllt. Und dann musste ich noch mehr weinen.“

Fan-Tumulte in Italien

Auch Italien weinte – Tränen der Wut. Eine Wut, die die schon damals hochdotierten Profis zu spüren bekamen: obwohl sie statt in Mailand in Genua landeten und der Flieger morgens um 3.28 Uhr aufsetzte, warteten Hunderte Tomatenwerfer auf die Azzuri. Im Parlament musste sich die Regierung Fragen der Opposition gefallen lassen, wie es sein könne, dass Italien gegen ein Land wie Nord-Korea verloren habe. Die parlamentarische Anfrage änderte auch nichts an den Fakten und Trainer Edmondo Fabbri wurde alsbald arbeitslos. Mit Nordkorea zog die UdSSR, die alle Spiele gewann, ins Viertelfinale ein.

In der deutschen Gruppe hieß der Favorit Argentinien, das allein Weltmeister Brasilien seit 1962 vier Mal bezwungen hatte. Insgeheim richtete man sich im DFB-Lager auf ein Duell mit Spanien um den zweiten Platz ein. Dazu mussten möglichst viele Punkte und Tore gegen die Schweiz her, die am 13. Juli in Sheffield erster deutscher Gegner war. Die Schweizer nahmen das WM-Abenteuer offensichtlich etwas lockerer und drei Spieler machten noch am Abend vor der Partie einen längeren Ausflug, darunter der spätere Nationaltrainer Köbi Kuhn. Wie ARD-Reporter Rudi Michel am nächsten Tag zu berichten wusste, hatten sie „den Zapfenstreich um genau 57 Minuten überzogen“ und sich so selbst aus dem Team katapultiert. Ob es einen anderen Sieger gegeben hätte, darf angesichts der grandiosen Form der Deutschen jedoch bezweifelt werden.

Am Ende des Nachmittags von Sheffield hieß es 5:0, die meisten Tore schoss dabei das Mittelfeld. Die Zimmerpartner Helmut Haller und Franz Beckenbauer trafen jeweils doppelt, Dortmunds Stürmer Siggi Held allerdings musste in der 13. Minute den Bann brechen. Als Beckenbauer nach Doppelpass mit Uwe Seeler das 3:0 erzielte, schwärmte Rudi Michel: „Das sind Kombinationen wie aus der Fußball-Fibel. Es ist unglaublich, welche Spielerpersönlichkeiten wir doch haben.“ Und als der 20jährige Beckenbauer nach der Pause über das halbe Feld marschiert war, um bei seiner WM-Premiere erneut in ungewohnter Torjäger-Rolle zu brillieren, jubilierte der Kommentator: „Ich bin sicher, dieses Spiel wird das Urteil über den deutschen Fußball in Europa ändern. Denn die Deutschen spielen nicht kraftvoll, sie spielen technisch gekonnt.“

Vor allem Bayern Münchens Jung-Star Franz Beckenbauer beeindruckte die Fachwelt: „Dieser junge Mann hat schon alles, was ein Fußballspieler überhaupt haben kann“, lobte Spaniens Trainer Villalonga. Es war also ein rundum gelungener WM-Start – sieht man einmal davon ab, dass ein englischer Bäcker auf der Geburtstagstorte für Torwart Hans Tilkowski, der am Spieltag 31 Jahre wurde, Geburtstag mit p geschrieben hatte. Dennoch kam die nette Geste der Gastwirte im herrlichen Quartier Peveril of the Peak, in der mittelenglischen Grafschaft Derbyshire, gut an.

0:0 in Birmingham gegen Argentinien

Nun warteten in Birmingham die Argentinier. Der DFB-Bus legte auf der Anfahrt noch einen Zwischenstopp ein, in einer Turnhalle wurden Tee, Sandwiches und Schaumgummi-Matratzen bereitgestellt. Zum Entspannen.

Davon konnte auf dem Platz nicht mehr die Rede sein, an diesem 16. Juli entwickelte sich eines der unschönsten Spiele der deutschen WM-Geschichte. Zwei Mal trafen die Argentinier die eigene Latte, aber Tore fielen nicht – Spieler umso mehr. Hinterher wurden 32 Unterbrechungen nach Fouls gezählt, Argentinien gewann in dieser Hinsicht mit 21:11. „So viele bösartige Fouls, wie ich heute von der argentinischen Mannschaft gesehen habe, erleben wir hier in der ganzen Saison nicht“, sagte der deutsche Torwart von Manchester City, Bernd Trautmann. Als der Argentinier Albrecht vom jugoslawischen Schiedsrichter gestenreich des Feldes verwiesen wurde, gab es einen Tumult.

In einem WM-Buch liest sich das so: „Schiedsrichter Zecevic schritt zu Taten, die niemand verstand, weil er kein Spanisch sprach. Es dauerte Minuten, bis die Argentinier begriffen hatten, welche Schmach er ihnen antun wollte. Albrecht sollte vom Platz! Der Jugoslawe wird an die Höhe seiner Lebensversicherung für die Witwe gedacht haben, als er sich einem Dutzend drohender Fäuste gegenüber sah.“ Erst nach fünf Minuten fügte sich Albrecht.

Die FIFA verwarnte die argentinische Delegation inklusive Trainer Lorenzo, der aufs Feld gestürmt war, offiziell. Die Deutschen, die die Überzahl nicht nutzen konnten, fuhren körperlich angeschlagen und seelisch leicht geknickt zurück, bissiger Kritiken harrend nach einem Spiel, das „kein Fußball“ war, wie Helmut Schön zugab. Aber er traf auch die Situation, als er in die Runde fragte: „Was ist los? Sind wir schon aus dem Rennen?“

Waren sie nicht, aber gegen Spanien, das gewinnen musste, durften sie wiederum keineswegs verlieren. Schön war auch aufgrund der argentinischen Gangart zu Umstellungen gezwungen und brachte den Dortmunder Linksaußen Lothar Emmerich, der erst ein Länderspiel bestritten hatte, sowie Duisburgs Werner Krämer. Dafür nahm er Albert Brülls und Helmut Haller aus der Elf.

Die Herausnahme des Italien-Legionärs Haller vom FC Bologna war ein Politikum und lag Schön schwer im Magen, als er sich nach eigenen Worten am Spieltag morgens um fünf gleich nach dem Aufwachen dazu durchgerungen hatte. Das erzählte er alsbald seinen noch schlummernden Assistenten Dettmar Cramer und Udo Lattek, dessen WM-Aufenthalt adidas bezahlte. Cramer berichtete: „Er hat sich zwei Tage und zwei Nächte mit der Entscheidung herum geschlagen. Am Mittwochmorgen um 8 Uhr erschien er hier im Zimmer an unseren Betten und teilte uns seinen Entschluss mit.“ Diese Erklärung war deshalb interessant, weil in der Presse Spekulationen aufgekommen waren, Helmut Schön stelle die Mannschaft gar nicht alleine auf.

Seine Eingebung war kein Fehler, denn zumindest Emmerich schlug ein. Er erzielte gegen Spanien den 1:1-Ausgleich mit einem Schuss aus fast unmöglichem Winkel von der Torauslinie – und Uwe Seeler rettete in Birmingham mit seinem ersten Turnier-Tor kurz vor Schluss den Sieg. Auch den in der Gruppe 2 übrigens, wodurch man England entgangen war.

Doch die Worte von Sepp Herberger, der sich immer in der Nähe und zuweilen gar in der Kabine aufhielt, sollten noch Bedeutung erhalten: „Was, ihr wollt den Emmerich aufstellen? Wenn der ein Tor schießt, kriegt ihr ihn nicht mehr aus der Mannschaft.“ Dem war so und das war nicht gut, denn was Herberger meinte, trat ein: der junge Dortmunder war noch ein unfertiger Spieler mit technischen Schwächen und mangelndem Spielverständnis. Doch Schön schleppte Emmerich nun durch das Turnier, was er hinterher bereute.

Schienbeinschoner nicht vergessen

Immerhin kam Haller zurück in die Elf, was sich nur zwei Tage später in Sheffield bezahlt machen sollte. Im Viertelfinale traf Deutschland auf Uruguay und nicht nur Hans Tilkowski wusste, was das bedeutete: „Ab sofort wissen wir, was wir bei der Abfahrt nicht vergessen dürfen: die Schienbeinschoner“, schreibt er in seinen Erinnerungen.

Siggi Held machte den Spruch des Tages: „Die Urus sollen schreckliches Heimweh haben. Davon werden wir sie heute erlösen.“ In der Tat. Vorher sahen sie noch einen Miss Marple-Film im Kino: „17.50 Uhr ab Paddington.“ Dem Krimi folgte ein Drama.

Wieder sah die WM ein brutales Spiel, das nach Hallers frühem 1:0 aus den Fugen geriet. Als Uruguays Kapitän Troche Lothar Emmerich in den Magen schlug, intervenierte der Linienrichter. Emmerich erzählte dem Kicker: „Ich stehe da und schaue dem Ball nach, da fährt mir der Schmerz wie ein Messer durch den Bauch. Es wird mir schwarz vor Augen und weg war ich. Er hat mir einen Haken genau auf die Leber geschlagen.“

Troche flog vom Platz und wollte retten, was zu retten war. Er ohrfeigte den unbeteiligten Uwe Seeler, um eine Revanche zu provozieren. Doch Seeler beherrschte sich.

Kurz darauf drehte der nächste Südamerikaner durch: Silva trat Haller um und wurde ebenfalls vom Feld geschickt. Da er sich weigerte, musste ihn schließlich die englische Polizei abführen. Gegen neun Gegner kam die deutsche Elf erst spät noch zu einem klaren 4:0-Sieg durch altbekannte Schützen: Haller, Beckenbauer und Seeler trafen wieder. Die Uruguayer, denen pro Kopf umgerechnet 25.000 D-Mark Weltmeister-Prämie entgangen waren, tobten noch in den Katakomben weiter und Cortes erhielt für seinen Tritt gegen den Schiedsrichter vom eigenen Verband eine lange Sperre.

Es war nicht das einzige Skandal-Spiel des Viertelfinales, nachdem die Europäer unter sich waren. Englands 1:0 gegen Argentinien wurde überschattet von der Affäre Kreitlein-Rattin.

In der 35. Minute stellte der deutsche Schiedsrichter Rudolf Kreitlein Argentiniens Kapitän Antonio Rattin vom Platz. Dieser war hinter ihm hergelaufen und hatte ihn angebrüllt. Kreitlein hatte dies, obwohl er kein Spanisch verstand, als Beleidigung aufgefasst. Er habe das „vom Gesichtsausdruck abgelesen“, sagte Kreitlein später. Rattin, der weder Deutsch noch Englisch sprach, hatte jedoch angeblich lediglich einen Dolmetscher gefordert und weigerte sich standhaft, das Spielfeld zu verlassen. Wieder mussten Polizisten die Entscheidung des Schiedsrichters exekutieren und Rattín vom Platz führen.

Ken Aston "erfindet" Gelbe und Rote Karten

Aufgrund dieses neuerlichen Vorfalles wurden übrigens die Gelben und Roten Karten eingeführt, die jede Sprachhürde nehmen. Den Einfall hatte der englische Schiedsrichterbetreuer Ken Aston, 1962 selbst noch in Chile aktiv, am nächsten Morgen an einer Ampel. Auch deren Signalfarben sind ohne Worte allgemeinverständlich.

So wurden in England die Weichen gestellt für den Übergang zum modernen Fußball. Die WM 1966 war quasi die letzte der Antike, aber diese Endrunde stand schon an der Schwelle zur Moderne. Nicht nur bei der Kartenregelung. Gewiss, noch immer durfte nicht ausgewechselt werden, weshalb alle Teams einen Notplan brauchten, falls der Torwart mal ausfiele. Bei Deutschland waren Siggi Held, Horst Höttges oder gar Uwe Seeler vorgesehen, je nach Spielstand. Und noch immer galt der Losentscheid bei Gleichstand in K.-o.-Spielen. Aber erstmals gab es Doping-Kontrollen und endlich kamen alle Spiele live im Fernsehen – wenn auch nur in Schwarz-Weiß und ohne Zeitlupe. Das Finale war das erste, das weltweit live übertragen wurde und wurde von 400 Millionen Menschen gesehen.

Auf den Weg dorthin machten sich ab dem Halbfinale nur noch Europäer. Denn das koreanische Märchen endete mit einem Paukenschlag. Gegen die Portugiesen führte der Außenseiter zwar nach 27 Minuten sensationell mit 3:0, am Ende aber hieß es 3:5, weil WM-Torschützenkönig Eusebio allein vier Mal traf. Der Kicker stellte fest: „Die Asiaten sind bald keine Schüler mehr.“ Auch Russland erreichte mit einem 2:1 über Ungarn das Halbfinale und traf dort auf die Deutschen.

Der Goodison-Park von Liverpool, Heimat des FC Everton, war mit 40.000 Zuschauern nicht ausverkauft und wer kam, versäumte rein fußballerisch wenig. Aber es zählt nur der Sieg in einem WM-Halbfinale – und der glückte den Deutschen. Helmut Haller überwand den legendären Lew Jaschin kurz vor der Pause und provozierte damit eine unsportliche Reaktion. Mit Tschislenko, der Held foulte, flog schon der vierte Gegner in einem Spiel mit Deutschland vom Platz. Als Beckenbauer mit einem Schlenzer das 2:0 erzielte, war das Finale nahe. Der russische Ehrentreffer in der 88. Minute war nur Statistik, schlimmer schien die Schulterverletzung von Tilkowski. Noch im Stadion wurde er geröntgt, es war nur eine Prellung. Vier Tage wurde er von Masseur Erich Deuser behandelt, denn in Wembley wollte niemand fehlen.

England mit nur einem Gegentor ins Finale

Im Finale am 30. Juli warteten erwartungsgemäß die Engländer, die mit nur einem Gegentor durchs Turnier marschiert waren, das ihnen Eusebio in vorletzter Minute bescherte. Doch zuvor hatte Bobby Charlton für das Team von Sir Alf Ramsey zweimal getroffen und seine Extra-Klasse bewiesen. Der Überlebende der Flugzeugkatastrophe der Mannschaft von Manchester United in München 1958 bereitete Helmut Schön großes Kopfzerbrechen. Wie ihn ausschalten?

Dettmar Cramer überzeugte ihn, Franz Beckenbauer rein defensiv als Charltons Wachhund einzusetzen. Hinterher wurde das als mitentscheidender Fehler angesehen, aber hinterher ist man immer schlauer. Auch den Einsatz des zuvor verletzten Horst-Dieter Höttges, für den gegen die Russen Friedel Lutz verteidigt hatte, warf man Schön vor. Von Emmerichs Aufstellung ganz zu schweigen. Und doch absolvierte die Mannschaft am 30. Juli in Wembley vor 96.924 Zuschauern, darunter der Queen, ein auf ewig unvergessliches Spiel, das es nicht verdient hat, auf eine Szene reduziert zu werden. Eine Szene wiederum, an der kein Chronist vorbei kommt, weil sie Weltruhm erlangt hat. Das Wembley-Tor, das, wie der italienische Corriere della Sera prophezeite, „das meistdiskutierte der Fußball-Geschichte bleiben wird“.

Schon vor dem legendärsten Nicht-Tor des Fußballs war es ein Drama. Hallers frühe Führung glich Geoff Hurst postwendend zum Pausenstand von 1:1 aus und als Peters in der 78. Minute auf 2:1 erhöhte, begannen die englischen Fans mit den Siegesfeierlichkeiten. Der deutsche Radio-Reporter Herbert Zimmermann, obwohl beim Wunder von Bern durch alle Gefühlswechselbäder gegangen, resignierte bereits.

„Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass es unsere Stürmer noch mal packen werden“, sagte er in der 90. Minute. Dann musste eben ein Verteidiger aushelfen. Emmerichs Freistoß landete über zwei Abpraller beim Kölner Wolfgang Weber und der glich in letzter Sekunde aus. Der Schiedsrichter pfiff gar nicht mehr an – nur zur Verlängerung. Was dann kam, weiß jeder Fußball-Fan: Der Lattenschuss von Hurst in der 101. Minute und der wohl auf ewig unerforschte Abpraller, auf vor oder doch hinter die Linie. Schiedsrichter Gottfried Dienst gab bereits Ecke, weil Weber den Ball ins Toraus geköpft hatte.

Linienrichter Bachramow entscheidet die WM

Da meldete sich Linienrichter Tefik Bachramow aus der Sowjetunion gestenreich und bekannte auf Befragung, der Ball sei drin gewesen. Wissenschaftliche Computer-Simulationen von 1995, übrigens von britischen Forschern, legen nahe, dass er geirrt hat. Zumal Bachramow später zugab, er habe es selbst auch nicht gesehen, sondern aus dem Verhalten der Spieler – die einen jubelten, die anderen waren zumindest konsterniert – geschlossen, dass es ein Tor gewesen sein müsse.

So also werden Weltmeisterschaften entschieden. Immerhin war Bachramow nicht allein, auch FIFA-Präsident Stanley Rous und jeder Engländer, den man befragte, hatte den Ball drin gesehen. Und jedem, dem es politisch in den Kram passte wie etwa der DDR-Zeitung Junge Welt. Da stand zu lesen: „Der Ball sprang hinter die Torlinie und dann durch Effet-Wirkung wieder ins Feld.“

Dass auch Bundespräsident Heinrich Lübke im August anlässlich der Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes davon sprach, er habe „den Ball im Netz zappeln“ sehen, trugen die Verlierer schon mit Humor, obgleich Helmut Schön tapfer widersprach. Ersatztorwart Sepp Maier verkleidete sich derweil in der Villa Hammerschmidt als Lampe und setzte sich den Schirm auf den Kopf. Sie konnten es sich leisten, sie waren wieder wer.

Weltpresse lobt die DFB-Auswahl

Die Weltpresse hatte den Deutschen ein denkbar gutes Zeugnis ausgestellt, auch und gerade weil sie die zumindest teilweise irregulären Tore – beim 4:2 von Hurst waren schon jubelnde Fans auf dem Platz – so sportlich hingenommen hatten. „Sie hat mit dieser Besonnenheit in diesem Moment für den deutschen Sport und für das deutsche Ansehen mehr getan, als sie mit dem Gewinn des Titels je hätte erreichen können“, fand auch die seriöse FAZ.

In Frankfurt wurde der Vize-Weltmeister jedenfalls wie ein Champion empfangen. Es galt einer im Grunde ungeschlagenen Mannschaft Trost und Anerkennung zu spenden. Die Stimmung jener Tage spiegelte der Titel der Bild-Zeitung wider: „Wir haben 2:2 verloren!“.

Ganz mit leeren Händen waren sie ohnehin nicht aus England zurückgekommen, denn schon zu Turnierbeginn beschloss die FIFA, die WM 1974 nach Deutschland zu vergeben. Dass das ein Grund zur Freude sein kann, bewies England 1966. Sportlich und wirtschaftlich (17 Millionen Schweizer Franken Gewinn) war die achte WM ein voller Erfolg.

[um]

[bild1]

Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 8: Die WM 1966 in England

Nach den Unkenrufen in Folge der Weltmeisterschaft 1962 war es um so überraschender zu sehen, dass die Idee eines globalen Fußballturniers nicht mehr auszulöschen war. Wurde vier Jahre zuvor noch im ersten Zorn über unsportliche, unattraktive und schlecht besuchte Spiele in Chile laut über eine Abschaffung nachgedacht, stellte die FIFA vor der Endrunde 1966 fest, dass die WM-Bewegung lebendiger denn je war. Als am 31. Januar 1964 die Qualifikationsgruppen zugeteilt (nicht gelost!) wurden, war eine Rekordteilnehmerzahl von 72 Ländern zu verzeichnen – vor Chile waren es 54 gewesen.

Alle wollten nach England, ins Mutterland des Fußballs. Viel hätte nicht gefehlt und die WM 1966 wäre in Deutschland ausgetragen worden, denn der DFB war der einzige Gegenkandidat bei der Abstimmung auf dem Fifa-Kongress 1960 in Rom. Doch die Engländer warfen ihr Jubiläum in die Waagschale, 1963 wurde der Verband bereits 100 Jahre alt, und schlugen die Deutschen mit 34:27 Stimmen. Es war, wenn man so will, ein Omen für das Wembley-Finale, in dem sich diese Länder sechs Jahre später ebenfalls duellieren sollten.

Bis es so weit war, mussten die WM-Kandidaten erst durch die Mühlen der Qualifikation. Erstmals hatte die FIFA den „Exoten“ einen Startplatz garantiert. Doch leichter wäre es wohl gewesen, ein Kamel durch ein Nadelohr zu schleusen, als sich als Primus von drei Kontinenten zu qualifizieren. Im Klartext: Asien, Afrika und Australien spielten einen Teilnehmer aus. Afrika zog daraufhin als Kontinentalverband geschlossen zurück und zeterte: „Wir fordern zumindest zwei Plätze für England. Europa bekommt zehn Plätze und wir müssen uns sogar noch mit Australien qualifizieren. Das ist eine glatte Benachteiligung, wir machen nicht mit.“

So wurde das Nadelöhr etwas größer und hindurch schlüpfte ein Exot, von dem noch die Rede sein wird – Nordkorea, das davon profitierte, das der verfeindete Bruderstaat Südkorea nicht antrat und Südafrika suspendiert wurde. Noch immer spielte die Weltpolitik eine nachteilige Rolle im Vorfeld des Turniers und es kam zu aus heutiger Sicht absurden Gruppen-einteilungen. So wurden Israel und Syrien kurzerhand nach Europa „verlegt“, wo sie auch rein sportlich fremdelten.

Portugal beklagt sich über Reisekosten

Portugal beklagte sich über seine Kontrahenten in einem Brief an die FIFA: „Die geographische Lage ist in keinster Weise berücksichtigt worden. Wir haben mit Rumänien und der CSSR zwei Gegner aus dem Osten, dazu noch die Türkei. Und wer soll die hohen Reisekosten zahlen?“ Letztlich hatten sie Geld genug, um sogar nach England zu reisen. Auch von Portugal wird man noch hören.

Mancher suchte den Weg noch durch die Hintertür. Die an Bulgarien gescheiterten Belgier legten Protest ein, weil ein Bulgare nach dem Spiel kollabiert sei. Klarer Fall von Doping, meinten die Belgier. Die FIFA lehnte ab, weil der Protest „vor dem Spiel“ hätte eingehen müssen. Seltsam.

Die deutsche Mannschaft war mit Schweden und Zypern in einer Dreiergruppe und musste nach dem 1:1 gegen die Skandinavier in Berlin zittern. Die Premiere von Herberger-Nachfolger Helmut Schön war missglückt an jenem November-Tag 1964 und vor dem Rückspiel im September 1965 in Stockholm war die Angst groß, man könne den Flug nach England verpassen – so wie etwa Vize-Weltmeister CSSR.

Debüt von Beckenbauer gegen Schweden

„Nie zuvor stand ein Spiel unter so einer nervlichen Belastung für uns alle“, gab Helmut Schön hinterher zu. Er hatte Risiko gespielt und neben dem Rekonvaleszenten Uwe Seeler auch zwei Debütanten aus München eingesetzt: Franz Beckenbauer und Peter Grosser. Deutschland siegte mit 2:1 und so wird zumindest auch von Seeler und Beckenbauer noch etwas zu hören sein. Denn sie standen im Aufgebot, das sich Schön aus anfangs 40, später 26 Spielern zusammensuchte. Spieler des amtierenden Meisters TSV 1860 München waren nicht dabei, auch ein Günter Netzer, damals im ersten Bundesliga-Jahr, wurde noch aussortiert. Nach ein paar Tagen in Malente reiste der 22er-Kader am 8. Juli als letzter der 16 Teilnehmer auf die britische Insel. Als die Lufthansa-Maschine Heidelberg das Wembley-Stadion überflog, meldete sich der Kapitän zu Wort: „Hier möchten wir sie spielen sehen.“

Favoriten waren sie zwar nicht, wie Schön gern betonte, aber der deutsche Fußball befand sich nach dem Rückschlag von Chile im Frühjahr 1966 offenkundig im Aufschwung. Hatte doch am 5. Mai mit Borussia Dortmund erstmals überhaupt ein deutscher Klub einen Europapokal gewonnen – den der Pokalsieger gegen den FC Liverpool. Im Vorjahr hatte 1860 München in diesem Wettbewerb bereits das Finale erreicht – und die neuformierte Nationalmannschaft, in der seit Chile 39 Debütanten zum Einsatz gekommen waren, hatte sechs der letzten sieben Spiele vor der WM gewonnen.

Dass die Buchmacher dennoch die niedrigsten Quoten auf Titelverteidiger Brasilien (7:4) und Gastgeber England (9:2) vergaben, verwunderte nicht. Die Deutschen standen auf dem sechsten Platz, man hätte den vierzehnfachen Einsatz zurückbekommen im Falle eines WM-Glücksfalles. Dass in England überhaupt um den Jules-Rimet-Pokal gespielt werden konnte, ist im Übrigen einem kleinen Hund zu verdanken.

Denn wie bereits 1895 der nationale FA-Cup war den Engländern im März 1966 auch die WM-Trophäe abhanden gekommen. Sie wurde in Westminster über Nacht auf einer von sechs Detektiven bewachten Ausstellung über Sport-Briefmarken, der sie einen gewissen Glanz verleihen sollte, gestohlen. Das Geschrei war groß, England stand eine Woche unter Schock und Scotland Yard verhaftete die üblichen Verdächtigen – ergebnislos.

[bild2]

"WM-Held" Pickels findet Pokal im Gebüsch

Aber am 27. März 1966 führte der Londoner Barkassenführer Dave Corbett seinen Hund wie jeden Sonntag im eigenen Garten spazieren und der kleine Pickles, eine schwarz-weiße Promenadenmischung, entdeckte den in Zeitungspapier eingewickelten Pokal im Gebüsch. Die WM hatte ihren Siegerpreis wieder, England seine Ehre und Dave Corbett fortan einen vierbeinigen Helden an der Leine. Der kleine Pickles machte ihn reich, allein schon durch seine Nebenrolle im Film „Der Spion mit der kalten Schnauze“ kamen 60.000 Pfund herein.

Die FIFA lud Pickles samt Herrchen übrigens zum Eröffnungsspiel ein. – und sogar zur WM 1970 nach Mexiko, doch solange währte sein Hundeleben leider nicht. Er erdrosselte sich mit der eigenen Leine – auf der Jagd nach einer Katze. Auch Prominenz schützt vor Unglück nicht.

Eine Weisheit, die auch auf den designierten Super-Star der WM zutreffen sollte. Der WM-Favorit Nummer eins war Brasilien, Brasilien aber war Pelé. Zum dritten Mal bereits nahm der Stürmer des FC Santos an einer WM teil, zwei Mal hatte es zum Titel gereicht. Warum nicht wieder? Im Quartier der Brasilianer trafen in England täglich bis zu 3000 Briefe ein, oft nur mit „König Pelé“ adressiert – analog zu dem Filmtitel, der die Kinokassen auch international füllte. Schon mit 25 Jahren war dieser Pelé ein gemachter Mann, der drei Häuser besaß, darunter einen 20-stöckigen Wolkenkratzer.

Und so war es nur angemessen, dass er auch das erste Tor der Weltmeisterschaft schoss, die mit einem niveauarmen 0:0 zwischen England und Uruguay begonnen hatte. Gegen Bulgarien (2:0) verwandelte Pele am nächsten Tag einen Freistoß. Dass es sein einziges Tor bleiben sollte, ahnte niemand. Aber es sollte nicht die WM der Südamerikaner werden und schon gar nicht die des Titelverteidigers.

Brasilien scheitert in der Vorrunde

Bereits nach der Vorrunde war Brasilien, das danach gegen Ungarn und Portugal jeweils verdient mit 1:3 verlor, ausgeschieden. Das hatte es seit 1950 in der WM-Historie nicht mehr gegeben und nur Frankreich erduldete 2002 als Titelverteidiger das gleiche Schicksal. In Rio de Janeiro kollabierten Menschen auf öffentlichen Plätzen, als das Ergebnis gegen Portugal über Lautsprecher verkündet wurde, Straßenkämpfe brachen aus und der Sitz des Fußballverbands erhielt Polizeischutz. Auch vor dem Haus des Nationaltrainers Vicente Feola zog die Polizei schon vor seiner Rückkehr einen Sicherheitsgürtel.

„Die Ära Brasiliens aber ist beendet. Für wie lange? Pelé sagte, dass er an keiner WM mehr teilnehmen wolle. Und neue Pelés bringt auch Brasilien nicht jedes Jahr hervor“, stimmte der Fußball- Sport schon einen Abgesang an. Feola hatte Pele gegen Ungarn geschont, das warf man ihm nun vor. Schon in der Halbzeit meckerte Djalma Santos: „Ohne Pelé sind wir nur die Hälfte wert.“ Doch als der Angeschlagene zurückgekehrt war, konnte er gegen Portugal auch keine Wunder mehr vollbringen. Ein König ohne Macht.

Brasiliens Versagen ist ein Grund dafür, warum England 1966 als WM der Überraschungen in die Annalen einging. Dass WM-Neuling Portugal in der Brasilien-Gruppe alle Spiele gewinnen würde, stand auch auf keinem Expertenzettel. Frankreichs klägliches Scheitern in Gruppe 1 mit Sieger England, Uruguay (Zweiter) und Mexiko war zumindest ein empfindlicher Schlag für Europas Selbstbewusstsein.

Doch es war nichts gegen den Volltreffer in die Magengrube, den die Nordkoreaner setzten. Am 19. Juli trafen sie im letzten Spiel der Gruppe 4 auf Italien, dessen Sieg nur als Formsache angesehen wurde. Nordkorea hatte zwar nur zwei seiner 37 Vorbereitungsspiele verloren und zuvor gegen Chile (1:1) in letzter Minute seinen ersten WM-Punkt erbeutet, beeindruckte aber mehr durch roboterhafte Laufbereitschaft als durch Spielvermögen. Einige verglichen die Asiaten mit einem Ameisenhaufen, Schlagzeilen machten nur ihre Extravaganzen neben dem Platz. So war ihnen kein Trainingsplatz gut genug, gleich drei ihnen zugewiesene Felder lehnten sie strikt ab.

Die 79-köpfige Delegation war die größte aller Teilnehmer, allein neun Dolmetscher waren im Einsatz, und musste auf zwei Hotels verteilt werden. Die Mannschaft des von England offiziell nicht anerkannten kommunistischen Staates wurde von einem Militär-Obersten trainiert – oder besser gedrillt.

Seit 13 Monaten waren die Spieler kaserniert worden und keinem war es erlaubt vor der WM zu heiraten. Dafür feierten sie andere Feste. In Middlesbrough erlebte die WM eine ihrer denkwürdigsten Momente und Italiens Fußball in etwa das, was für Deutschland „Cordoba“ ist. Eine Schmach.

Ein Spieler namens Pak Doo-Ik schoss sich in der 40. Minute in die Schlagzeilen der Weltpresse, als er nach einem Fehlversuch – er trat in den Rasen – im zweiten Versuch Torwart Albertosi überwand.

Die Italiener, seit der 22. Minute verletzungsbedingt in Unterzahl, schlugen wütend zurück und holten 19:2 Ecken heraus. Aber kein Tor mehr, es blieb beim 1:0. „Korea, kannst Du mich hören? Wir haben gewonnen“, brüllte ein patriotischer Rundfunkreporter ins Mikrofon in Richtung Heimat. Torschütze Pak Doo-Ik gab später zum Besten: „In der Kabine weinten wir alle. Ich rannte die Treppe hinauf zu den obersten Rängen der Tribüne und hielt eine Rede an den Großen Führer Kim Il-Sung. Ich wusste, wir hatten ihm seinen Wunsch erfüllt. Und dann musste ich noch mehr weinen.“

Fan-Tumulte in Italien

Auch Italien weinte – Tränen der Wut. Eine Wut, die die schon damals hochdotierten Profis zu spüren bekamen: obwohl sie statt in Mailand in Genua landeten und der Flieger morgens um 3.28 Uhr aufsetzte, warteten Hunderte Tomatenwerfer auf die Azzuri. Im Parlament musste sich die Regierung Fragen der Opposition gefallen lassen, wie es sein könne, dass Italien gegen ein Land wie Nord-Korea verloren habe. Die parlamentarische Anfrage änderte auch nichts an den Fakten und Trainer Edmondo Fabbri wurde alsbald arbeitslos. Mit Nordkorea zog die UdSSR, die alle Spiele gewann, ins Viertelfinale ein.

In der deutschen Gruppe hieß der Favorit Argentinien, das allein Weltmeister Brasilien seit 1962 vier Mal bezwungen hatte. Insgeheim richtete man sich im DFB-Lager auf ein Duell mit Spanien um den zweiten Platz ein. Dazu mussten möglichst viele Punkte und Tore gegen die Schweiz her, die am 13. Juli in Sheffield erster deutscher Gegner war. Die Schweizer nahmen das WM-Abenteuer offensichtlich etwas lockerer und drei Spieler machten noch am Abend vor der Partie einen längeren Ausflug, darunter der spätere Nationaltrainer Köbi Kuhn. Wie ARD-Reporter Rudi Michel am nächsten Tag zu berichten wusste, hatten sie „den Zapfenstreich um genau 57 Minuten überzogen“ und sich so selbst aus dem Team katapultiert. Ob es einen anderen Sieger gegeben hätte, darf angesichts der grandiosen Form der Deutschen jedoch bezweifelt werden.

Am Ende des Nachmittags von Sheffield hieß es 5:0, die meisten Tore schoss dabei das Mittelfeld. Die Zimmerpartner Helmut Haller und Franz Beckenbauer trafen jeweils doppelt, Dortmunds Stürmer Siggi Held allerdings musste in der 13. Minute den Bann brechen. Als Beckenbauer nach Doppelpass mit Uwe Seeler das 3:0 erzielte, schwärmte Rudi Michel: „Das sind Kombinationen wie aus der Fußball-Fibel. Es ist unglaublich, welche Spielerpersönlichkeiten wir doch haben.“ Und als der 20jährige Beckenbauer nach der Pause über das halbe Feld marschiert war, um bei seiner WM-Premiere erneut in ungewohnter Torjäger-Rolle zu brillieren, jubilierte der Kommentator: „Ich bin sicher, dieses Spiel wird das Urteil über den deutschen Fußball in Europa ändern. Denn die Deutschen spielen nicht kraftvoll, sie spielen technisch gekonnt.“

Vor allem Bayern Münchens Jung-Star Franz Beckenbauer beeindruckte die Fachwelt: „Dieser junge Mann hat schon alles, was ein Fußballspieler überhaupt haben kann“, lobte Spaniens Trainer Villalonga. Es war also ein rundum gelungener WM-Start – sieht man einmal davon ab, dass ein englischer Bäcker auf der Geburtstagstorte für Torwart Hans Tilkowski, der am Spieltag 31 Jahre wurde, Geburtstag mit p geschrieben hatte. Dennoch kam die nette Geste der Gastwirte im herrlichen Quartier Peveril of the Peak, in der mittelenglischen Grafschaft Derbyshire, gut an.

0:0 in Birmingham gegen Argentinien

Nun warteten in Birmingham die Argentinier. Der DFB-Bus legte auf der Anfahrt noch einen Zwischenstopp ein, in einer Turnhalle wurden Tee, Sandwiches und Schaumgummi-Matratzen bereitgestellt. Zum Entspannen.

Davon konnte auf dem Platz nicht mehr die Rede sein, an diesem 16. Juli entwickelte sich eines der unschönsten Spiele der deutschen WM-Geschichte. Zwei Mal trafen die Argentinier die eigene Latte, aber Tore fielen nicht – Spieler umso mehr. Hinterher wurden 32 Unterbrechungen nach Fouls gezählt, Argentinien gewann in dieser Hinsicht mit 21:11. „So viele bösartige Fouls, wie ich heute von der argentinischen Mannschaft gesehen habe, erleben wir hier in der ganzen Saison nicht“, sagte der deutsche Torwart von Manchester City, Bernd Trautmann. Als der Argentinier Albrecht vom jugoslawischen Schiedsrichter gestenreich des Feldes verwiesen wurde, gab es einen Tumult.

In einem WM-Buch liest sich das so: „Schiedsrichter Zecevic schritt zu Taten, die niemand verstand, weil er kein Spanisch sprach. Es dauerte Minuten, bis die Argentinier begriffen hatten, welche Schmach er ihnen antun wollte. Albrecht sollte vom Platz! Der Jugoslawe wird an die Höhe seiner Lebensversicherung für die Witwe gedacht haben, als er sich einem Dutzend drohender Fäuste gegenüber sah.“ Erst nach fünf Minuten fügte sich Albrecht.

Die FIFA verwarnte die argentinische Delegation inklusive Trainer Lorenzo, der aufs Feld gestürmt war, offiziell. Die Deutschen, die die Überzahl nicht nutzen konnten, fuhren körperlich angeschlagen und seelisch leicht geknickt zurück, bissiger Kritiken harrend nach einem Spiel, das „kein Fußball“ war, wie Helmut Schön zugab. Aber er traf auch die Situation, als er in die Runde fragte: „Was ist los? Sind wir schon aus dem Rennen?“

Waren sie nicht, aber gegen Spanien, das gewinnen musste, durften sie wiederum keineswegs verlieren. Schön war auch aufgrund der argentinischen Gangart zu Umstellungen gezwungen und brachte den Dortmunder Linksaußen Lothar Emmerich, der erst ein Länderspiel bestritten hatte, sowie Duisburgs Werner Krämer. Dafür nahm er Albert Brülls und Helmut Haller aus der Elf.

Die Herausnahme des Italien-Legionärs Haller vom FC Bologna war ein Politikum und lag Schön schwer im Magen, als er sich nach eigenen Worten am Spieltag morgens um fünf gleich nach dem Aufwachen dazu durchgerungen hatte. Das erzählte er alsbald seinen noch schlummernden Assistenten Dettmar Cramer und Udo Lattek, dessen WM-Aufenthalt adidas bezahlte. Cramer berichtete: „Er hat sich zwei Tage und zwei Nächte mit der Entscheidung herum geschlagen. Am Mittwochmorgen um 8 Uhr erschien er hier im Zimmer an unseren Betten und teilte uns seinen Entschluss mit.“ Diese Erklärung war deshalb interessant, weil in der Presse Spekulationen aufgekommen waren, Helmut Schön stelle die Mannschaft gar nicht alleine auf.

Seine Eingebung war kein Fehler, denn zumindest Emmerich schlug ein. Er erzielte gegen Spanien den 1:1-Ausgleich mit einem Schuss aus fast unmöglichem Winkel von der Torauslinie – und Uwe Seeler rettete in Birmingham mit seinem ersten Turnier-Tor kurz vor Schluss den Sieg. Auch den in der Gruppe 2 übrigens, wodurch man England entgangen war.

Doch die Worte von Sepp Herberger, der sich immer in der Nähe und zuweilen gar in der Kabine aufhielt, sollten noch Bedeutung erhalten: „Was, ihr wollt den Emmerich aufstellen? Wenn der ein Tor schießt, kriegt ihr ihn nicht mehr aus der Mannschaft.“ Dem war so und das war nicht gut, denn was Herberger meinte, trat ein: der junge Dortmunder war noch ein unfertiger Spieler mit technischen Schwächen und mangelndem Spielverständnis. Doch Schön schleppte Emmerich nun durch das Turnier, was er hinterher bereute.

Schienbeinschoner nicht vergessen

Immerhin kam Haller zurück in die Elf, was sich nur zwei Tage später in Sheffield bezahlt machen sollte. Im Viertelfinale traf Deutschland auf Uruguay und nicht nur Hans Tilkowski wusste, was das bedeutete: „Ab sofort wissen wir, was wir bei der Abfahrt nicht vergessen dürfen: die Schienbeinschoner“, schreibt er in seinen Erinnerungen.

Siggi Held machte den Spruch des Tages: „Die Urus sollen schreckliches Heimweh haben. Davon werden wir sie heute erlösen.“ In der Tat. Vorher sahen sie noch einen Miss Marple-Film im Kino: „17.50 Uhr ab Paddington.“ Dem Krimi folgte ein Drama.

Wieder sah die WM ein brutales Spiel, das nach Hallers frühem 1:0 aus den Fugen geriet. Als Uruguays Kapitän Troche Lothar Emmerich in den Magen schlug, intervenierte der Linienrichter. Emmerich erzählte dem Kicker: „Ich stehe da und schaue dem Ball nach, da fährt mir der Schmerz wie ein Messer durch den Bauch. Es wird mir schwarz vor Augen und weg war ich. Er hat mir einen Haken genau auf die Leber geschlagen.“

Troche flog vom Platz und wollte retten, was zu retten war. Er ohrfeigte den unbeteiligten Uwe Seeler, um eine Revanche zu provozieren. Doch Seeler beherrschte sich.

Kurz darauf drehte der nächste Südamerikaner durch: Silva trat Haller um und wurde ebenfalls vom Feld geschickt. Da er sich weigerte, musste ihn schließlich die englische Polizei abführen. Gegen neun Gegner kam die deutsche Elf erst spät noch zu einem klaren 4:0-Sieg durch altbekannte Schützen: Haller, Beckenbauer und Seeler trafen wieder. Die Uruguayer, denen pro Kopf umgerechnet 25.000 D-Mark Weltmeister-Prämie entgangen waren, tobten noch in den Katakomben weiter und Cortes erhielt für seinen Tritt gegen den Schiedsrichter vom eigenen Verband eine lange Sperre.

Es war nicht das einzige Skandal-Spiel des Viertelfinales, nachdem die Europäer unter sich waren. Englands 1:0 gegen Argentinien wurde überschattet von der Affäre Kreitlein-Rattin.

In der 35. Minute stellte der deutsche Schiedsrichter Rudolf Kreitlein Argentiniens Kapitän Antonio Rattin vom Platz. Dieser war hinter ihm hergelaufen und hatte ihn angebrüllt. Kreitlein hatte dies, obwohl er kein Spanisch verstand, als Beleidigung aufgefasst. Er habe das „vom Gesichtsausdruck abgelesen“, sagte Kreitlein später. Rattin, der weder Deutsch noch Englisch sprach, hatte jedoch angeblich lediglich einen Dolmetscher gefordert und weigerte sich standhaft, das Spielfeld zu verlassen. Wieder mussten Polizisten die Entscheidung des Schiedsrichters exekutieren und Rattín vom Platz führen.

Ken Aston "erfindet" Gelbe und Rote Karten

Aufgrund dieses neuerlichen Vorfalles wurden übrigens die Gelben und Roten Karten eingeführt, die jede Sprachhürde nehmen. Den Einfall hatte der englische Schiedsrichterbetreuer Ken Aston, 1962 selbst noch in Chile aktiv, am nächsten Morgen an einer Ampel. Auch deren Signalfarben sind ohne Worte allgemeinverständlich.

So wurden in England die Weichen gestellt für den Übergang zum modernen Fußball. Die WM 1966 war quasi die letzte der Antike, aber diese Endrunde stand schon an der Schwelle zur Moderne. Nicht nur bei der Kartenregelung. Gewiss, noch immer durfte nicht ausgewechselt werden, weshalb alle Teams einen Notplan brauchten, falls der Torwart mal ausfiele. Bei Deutschland waren Siggi Held, Horst Höttges oder gar Uwe Seeler vorgesehen, je nach Spielstand. Und noch immer galt der Losentscheid bei Gleichstand in K.-o.-Spielen. Aber erstmals gab es Doping-Kontrollen und endlich kamen alle Spiele live im Fernsehen – wenn auch nur in Schwarz-Weiß und ohne Zeitlupe. Das Finale war das erste, das weltweit live übertragen wurde und wurde von 400 Millionen Menschen gesehen.

Auf den Weg dorthin machten sich ab dem Halbfinale nur noch Europäer. Denn das koreanische Märchen endete mit einem Paukenschlag. Gegen die Portugiesen führte der Außenseiter zwar nach 27 Minuten sensationell mit 3:0, am Ende aber hieß es 3:5, weil WM-Torschützenkönig Eusebio allein vier Mal traf. Der Kicker stellte fest: „Die Asiaten sind bald keine Schüler mehr.“ Auch Russland erreichte mit einem 2:1 über Ungarn das Halbfinale und traf dort auf die Deutschen.

Der Goodison-Park von Liverpool, Heimat des FC Everton, war mit 40.000 Zuschauern nicht ausverkauft und wer kam, versäumte rein fußballerisch wenig. Aber es zählt nur der Sieg in einem WM-Halbfinale – und der glückte den Deutschen. Helmut Haller überwand den legendären Lew Jaschin kurz vor der Pause und provozierte damit eine unsportliche Reaktion. Mit Tschislenko, der Held foulte, flog schon der vierte Gegner in einem Spiel mit Deutschland vom Platz. Als Beckenbauer mit einem Schlenzer das 2:0 erzielte, war das Finale nahe. Der russische Ehrentreffer in der 88. Minute war nur Statistik, schlimmer schien die Schulterverletzung von Tilkowski. Noch im Stadion wurde er geröntgt, es war nur eine Prellung. Vier Tage wurde er von Masseur Erich Deuser behandelt, denn in Wembley wollte niemand fehlen.

England mit nur einem Gegentor ins Finale

Im Finale am 30. Juli warteten erwartungsgemäß die Engländer, die mit nur einem Gegentor durchs Turnier marschiert waren, das ihnen Eusebio in vorletzter Minute bescherte. Doch zuvor hatte Bobby Charlton für das Team von Sir Alf Ramsey zweimal getroffen und seine Extra-Klasse bewiesen. Der Überlebende der Flugzeugkatastrophe der Mannschaft von Manchester United in München 1958 bereitete Helmut Schön großes Kopfzerbrechen. Wie ihn ausschalten?

Dettmar Cramer überzeugte ihn, Franz Beckenbauer rein defensiv als Charltons Wachhund einzusetzen. Hinterher wurde das als mitentscheidender Fehler angesehen, aber hinterher ist man immer schlauer. Auch den Einsatz des zuvor verletzten Horst-Dieter Höttges, für den gegen die Russen Friedel Lutz verteidigt hatte, warf man Schön vor. Von Emmerichs Aufstellung ganz zu schweigen. Und doch absolvierte die Mannschaft am 30. Juli in Wembley vor 96.924 Zuschauern, darunter der Queen, ein auf ewig unvergessliches Spiel, das es nicht verdient hat, auf eine Szene reduziert zu werden. Eine Szene wiederum, an der kein Chronist vorbei kommt, weil sie Weltruhm erlangt hat. Das Wembley-Tor, das, wie der italienische Corriere della Sera prophezeite, „das meistdiskutierte der Fußball-Geschichte bleiben wird“.

Schon vor dem legendärsten Nicht-Tor des Fußballs war es ein Drama. Hallers frühe Führung glich Geoff Hurst postwendend zum Pausenstand von 1:1 aus und als Peters in der 78. Minute auf 2:1 erhöhte, begannen die englischen Fans mit den Siegesfeierlichkeiten. Der deutsche Radio-Reporter Herbert Zimmermann, obwohl beim Wunder von Bern durch alle Gefühlswechselbäder gegangen, resignierte bereits.

„Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass es unsere Stürmer noch mal packen werden“, sagte er in der 90. Minute. Dann musste eben ein Verteidiger aushelfen. Emmerichs Freistoß landete über zwei Abpraller beim Kölner Wolfgang Weber und der glich in letzter Sekunde aus. Der Schiedsrichter pfiff gar nicht mehr an – nur zur Verlängerung. Was dann kam, weiß jeder Fußball-Fan: Der Lattenschuss von Hurst in der 101. Minute und der wohl auf ewig unerforschte Abpraller, auf vor oder doch hinter die Linie. Schiedsrichter Gottfried Dienst gab bereits Ecke, weil Weber den Ball ins Toraus geköpft hatte.

Linienrichter Bachramow entscheidet die WM

Da meldete sich Linienrichter Tefik Bachramow aus der Sowjetunion gestenreich und bekannte auf Befragung, der Ball sei drin gewesen. Wissenschaftliche Computer-Simulationen von 1995, übrigens von britischen Forschern, legen nahe, dass er geirrt hat. Zumal Bachramow später zugab, er habe es selbst auch nicht gesehen, sondern aus dem Verhalten der Spieler – die einen jubelten, die anderen waren zumindest konsterniert – geschlossen, dass es ein Tor gewesen sein müsse.

So also werden Weltmeisterschaften entschieden. Immerhin war Bachramow nicht allein, auch FIFA-Präsident Stanley Rous und jeder Engländer, den man befragte, hatte den Ball drin gesehen. Und jedem, dem es politisch in den Kram passte wie etwa der DDR-Zeitung Junge Welt. Da stand zu lesen: „Der Ball sprang hinter die Torlinie und dann durch Effet-Wirkung wieder ins Feld.“

Dass auch Bundespräsident Heinrich Lübke im August anlässlich der Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes davon sprach, er habe „den Ball im Netz zappeln“ sehen, trugen die Verlierer schon mit Humor, obgleich Helmut Schön tapfer widersprach. Ersatztorwart Sepp Maier verkleidete sich derweil in der Villa Hammerschmidt als Lampe und setzte sich den Schirm auf den Kopf. Sie konnten es sich leisten, sie waren wieder wer.

Weltpresse lobt die DFB-Auswahl

Die Weltpresse hatte den Deutschen ein denkbar gutes Zeugnis ausgestellt, auch und gerade weil sie die zumindest teilweise irregulären Tore – beim 4:2 von Hurst waren schon jubelnde Fans auf dem Platz – so sportlich hingenommen hatten. „Sie hat mit dieser Besonnenheit in diesem Moment für den deutschen Sport und für das deutsche Ansehen mehr getan, als sie mit dem Gewinn des Titels je hätte erreichen können“, fand auch die seriöse FAZ.

In Frankfurt wurde der Vize-Weltmeister jedenfalls wie ein Champion empfangen. Es galt einer im Grunde ungeschlagenen Mannschaft Trost und Anerkennung zu spenden. Die Stimmung jener Tage spiegelte der Titel der Bild-Zeitung wider: „Wir haben 2:2 verloren!“.

Ganz mit leeren Händen waren sie ohnehin nicht aus England zurückgekommen, denn schon zu Turnierbeginn beschloss die FIFA, die WM 1974 nach Deutschland zu vergeben. Dass das ein Grund zur Freude sein kann, bewies England 1966. Sportlich und wirtschaftlich (17 Millionen Schweizer Franken Gewinn) war die achte WM ein voller Erfolg.