WM 1966: Die Erfindung der Gelben und Roten Karte

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

16. Juli in Birmingham - zweites WM-Gruppenspiel in England: Deutschland - Argentinien 0:0

Vor dem Spiel:

Nach dem glänzenden Auftakt gab es keine Wechsel im deutschen Team, ein Novum in der erst zweijährigen Amtszeit von Helmut Schön. Die Angeschlagenen – Höttges, Overath und Brülls – waren wieder hergestellt. Helmut Schön warnte: "Die Argentinier werden nur schwer zu überwinden sein. Die Abwehr steht hervorragend geschlossen." 20 Autominuten vor Birmingham stoppte der Bus und die Spieler ruhten sich in einer Turnhalle noch mal aus, auf Schaumgummi-Matratzen.

Auch Argentinien hatte gewonnen (2:1 gegen Spanien), so dass beide mit einem Punkt hätten zufrieden sein können. Es hätte aber nicht zu Argentiniens Herangehensweise gepasst. Trainer Juan Carlos Lorenzo tönte ungeniert: "Wir werden Gruppensieger!" Nach zwei Siegen bei Weltmeister Brasilien (3:0 und 3:2) platzten sie vor Selbstbewusstsein. In diesem Spiel würde der Gruppensieger stehen, da war sich die Fachwelt einig.



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

16. Juli in Birmingham - zweites WM-Gruppenspiel in England: Deutschland - Argentinien 0:0

Vor dem Spiel:

Nach dem glänzenden Auftakt gab es keine Wechsel im deutschen Team, ein Novum in der erst zweijährigen Amtszeit von Helmut Schön. Die Angeschlagenen – Höttges, Overath und Brülls – waren wieder hergestellt. Helmut Schön warnte: "Die Argentinier werden nur schwer zu überwinden sein. Die Abwehr steht hervorragend geschlossen." 20 Autominuten vor Birmingham stoppte der Bus und die Spieler ruhten sich in einer Turnhalle noch mal aus, auf Schaumgummi-Matratzen.

Auch Argentinien hatte gewonnen (2:1 gegen Spanien), so dass beide mit einem Punkt hätten zufrieden sein können. Es hätte aber nicht zu Argentiniens Herangehensweise gepasst. Trainer Juan Carlos Lorenzo tönte ungeniert: "Wir werden Gruppensieger!" Nach zwei Siegen bei Weltmeister Brasilien (3:0 und 3:2) platzten sie vor Selbstbewusstsein. In diesem Spiel würde der Gruppensieger stehen, da war sich die Fachwelt einig.

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Initialzündung für Erfindung von Gelben und Roten Karten

Spielbericht:

Deutschland spielt erstmals bei einer WM ganz in Weiß, die traditionell schwarzen Hosen müssen den Fernsehzuschauern zuliebe weichen. Die tragen schon die Argentinier. Erstmals überträgt das ZDF ein deutsches WM-Spiel. Uwe Seeler freut sich auf sein 50. Länderspiel, das um 15 Uhr angestoßen wird und manchen an die tristen Tage von Chile erinnern wird. Nicht nur wegen des regnerisch-kühlen Wetters. Seeler verliert die Seitenwahl gegen Rattin, los geht's. Auch Argentiniens Elf ist unverändert.

Viel Fußball wird nicht gespielt. Das gelangweilte neutrale Publikum ruft schon bald demonstrativ nach der englischen Mannschaft. "Torchancen kamen so selten vor wie Walfische im Rhein", witzelt Die Welt am Montag danach hintergründig, denn im Mai 1966 hat sich tatsächlich ein Wal in den Rhein verirrt.

Immerhin zweimal landet der Ball an der Latte, doch sind es jeweils Beinahe-Eigentore der Argentinier durch Rattin und Albrecht (13., 39.). Erste Härten kommen auf, der deutschstämmige Albrecht reißt Haller mit einem Catchergriff um, als er später auch Brülls umtritt, wird er verwarnt. Tilkowski in seinen Memoiren: "Von Minute zu Minute wird die Gangart härter. Wir bekommen das komplette Repertoire offener und versteckter Fouls zu spüren."

Nach 38 Minuten bricht Held durch und hat nur noch den Torwart vor sich, da pfeift der Schiedsrichter den Vorteil ab und ahndet reichlich spät ein Foul an Brülls. Die Deutschen regen sich auf, während ihre Fans leiden.

Der leichtfüßige Kombinationsfußball gegen die Schweiz ist an diesem Tag nicht möglich, das merken alle. Mit 0:0 geht es in die Kabinen, Tilkowski ist kaum geprüft worden und die besten deutschen Chancen resultieren aus argentinischen Kopfbällen an die eigene Latte.

"Naive Zuschauer murrten, daß dem Spiel die große Linie fehlte. Das System der Argentinier war, daß sie kein System hatten!", steht in einem WM-Buch aus dem Göttinger Fischer-Verlag.

Der Regen wird stärker, das Spiel nicht. Auch nach der Pause passiert lange nichts und dann etwas, das niemand sehen will. Als sich der aufgerückte Verteidiger Wolfgang Weber in der gegnerischen Hälfte den Ball etwas zu weit vorlegt, rennt ihn Albrecht, "der grundsätzlich in jedem Zweikampf seinem Gegner eins verpassen will" (kicker), regelrecht über den Haufen.

Da er bereits verwarnt ist, schickt ihn der jugoslawische Schiedsrichter gestenreich vom Platz, doch es dauert vier Minuten, bis er es wahrhaben will. Auch sein Trainer kann es nicht fassen und gesellt sich zu den wild protestierenden Spielern. Während der Rudelbildung spielen sich bedrohliche Szenen ab, besonders für Schiedsrichter Zecevic.

Diese Szene schafft es als abschreckendes Beispiel in einen FIFA-Lehrfilm und ist die Initialzündung für die Erfindung von Gelben und Roten Karten. Der englische Schiedsrichterbetreuer Ken Aston, 1962 in Chile selbst noch an der Pfeife, kommt auf der Rückfahrt von diesem Spiel an einer Ampel zu stehen. Da geht ihm ein Licht auf: Gelb für Vorsicht, Rot für Stopp! Signalfarben, die keine Dolmetscher brauchen. So hat dieses schlimme Spiel doch noch etwas Gutes.

Tore hat es nicht mehr im Angebot, auch wenn es die Deutschen nun offensiver angehen lassen. Aber Perfumo rettet nach Seelers Kopfball für seinen Torwart per Fallrückzieher auf der Linie (77.). Auf der Gegenseite rettet Weber vor dem einköpfbereiten Artime. Nach dem allzu frühen, aber für alle erlösenden Schlusspfiff jubeln die Argentinier wie Sieger und winken ins Publikum, das sie trotzdem auspfeift.

Statt Toren werden 32 Fouls gezählt, Argentinien gewinnt mit 21:11 in dieser Disziplin. "Der Franz Beckenbauer hat sich zum Schluss nicht mehr in die Offensive getraut, sie hatten alle Angst", beklagt Bundestrainer Schön vor der Presse die rustikale Spielweise des Gegners. Vorwürfe für den Münchner, der sich in defensiver Rolle geübt und hauptsächlich um Onega gekümmert hat, seien im Übrigen "unangebracht".

Der FIFA-Disziplinarausschuss tadelt die Mannschaft und den Trainer Argentiniens offiziell für ihren Auftritt. Die Deutschen zählen derweil die Verletzten: Seeler, Höttges, Brülls und Weber sind fraglich fürs nächste Spiel, Schrammen und Blutergüsse haben sie alle. Überall lange Gesichter. Helmut Schön steuert dagegen: "Was ist? Sind wir aus dem Rennen?"

Aufstellung: Tilkowski – Höttges, Schulz, Weber, Schnellinger – Haller, Beckenbauer, Overath – Brülls, Seeler, Held.

Tore: -

Platzverweis: Albrecht (65.)

Zuschauer: 46.587

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"Das war das schmutzigste Spiel, das ich je erlebt habe"

Stimmen zum Spiel:

Helmut Schön: "Ich bin zwar mit dem 0:0 zufrieden, aber nicht mit der Leistung der Mannschaft. Ich muss allerdings auch sagen, dass den Argentiniern kein Trick und keine Mätzchen zu übel waren. Ich verstehe das nicht. Die Spieler sind große Könner und hätten es wahrhaftig nicht nötig, in eine so unsportliche Gangart zu verfallen."

Juan Carlos Lorenzo (Trainer Argentiniens): "Die Deutschen haben meinen Trick nicht durchschaut. Ich habe diesmal Onega ganz nach vorne geschickt. Beckenbauer blieb bei ihm und wurde dadurch in der Abwehr gefesselt. Die deutschen Spieler waren hart, so hart wie wir. Der Platzverweis gegen Albrecht ist eine riesige Ungerechtigkeit. Mehrere Deutsche haben ähnliche Fouls begangen, aber keiner von ihnen wurde vom Platz gestellt. Sie sind alle großartige Schauspieler."

Karl-Heinz Schnellinger: "Ich wußte schon vorher, was kommen würde. Argentiniens Trainer Lorenzo weiß, wie man ein Spiel aufbaut, und er weiß auch, wie man es wirksam stört. Dazu kam der nasse Boden, der den steil gespielten Ball oft zu schnell machte, und die giftig-unfaire Spielweise der Argentinier. Vorsicht war höchstes Gebot. Als wir dann gegen Schluss umschalten wollten, ging es einfach nicht mehr."

Franz Beckenbauer: "Es konnte beim besten Willen nichts Gescheites dabei raus kommen. So ein Fußball darf doch nicht sein."

Uwe Seeler: "Wir müssen mit dem 0:0 zufrieden sein. Den Argentiniern war jedes Mittel recht, unsere Angriffe zu unterbinden."

Sepp Herberger: "So sieht eben ein Spiel zweier Mannschaften aus, von denen keine verlieren will. Als die Argentinier nur noch mit zehn Mann spielten, hätte sich Beckenbauer stärker ins Angriffsspiel einschalten müssen."

Bernd Trautmann (Ex-Torwart Manchester City): "Das war das schmutzigste Spiel, das ich je erlebt habe."

"Es war böser Fußball im Aston-Villa-Park. Die Argentinier kamen auf das Feld wie die Abbrucharbeiter, nichts anderes im Sinn als zu zerstören. Sie taten es perfekt. Zunächst zerstörten sie das Konzept, dann die Gesundheit, am Ende die Moral der deutschen Truppe. Übrig blieb ein von Fehlpässen, Fouls und Eigensinnigkeiten zerrissenes Getümmel, das die neutralen englischen Zuschauer verärgerte." (Die Welt)

"Für Pampas-Stiere ist in Fußball-Stadien kein Platz, jedenfalls nicht in europäischen. Es ist der deutschen Elf anzukreiden, dass sie gegen den dezimierten Gegner auch nicht besser aussah als zuvor. Allzu zögernd steckte sie den Kopf aus dem Betonbunker." (Sport-Illustrierte)

"Das deutsche Spiel, so weit es den Angriff betraf, war gewiß nicht gut, war nicht einmal glücklos. Aber gekämpft hat unsere Mannschaft, sich auch innerlich wahrscheinlich so zerrissen, daß sie vielleicht auch gerade deshalb, um Helmut Schön zu zitieren, nicht ansprechbar war. So etwas gibt es." (Kicker)

"Die Argentinier gingen aus diesem Spiel gegen Deutschland als ‚Sieger“ hervor – abgesehen vom Resultat. Das Unentschieden wurde im argentinischen Lager wie ein Triumph gefeiert, angesichts der besonderen Umstände…: eine Atmosphäre, die von den vorausgegangenen Spielen angeheizt war, ein Schiedsrichter, der parteiisch war, ein Publikum, das hinter Deutschland stand, ein Platzregen, der vom Himmel fiel…Alles in allem kann man nur von einem mittelmäßigen Spiel sprechen." (Cronica/Buenos Aires)

"Das Spiel war eine Schande. Die Argentinier trifft dabei die meiste Schuld. Ihr Benehmen und ihre Spielmethoden waren einfach fürchterlich. Die Deutschen aber waren nicht schuldlos an der Treterei. Je weniger über das Spiel gesagt wird, desto besser." (The People/England)

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