WM 1966: Das legendäre Wembley-Tor

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

30. Juli in London - WM-Finale in England: Deutschland - England 2:4 nach Verlängerung

Vor dem Spiel:

Im Wembley-Stadion kam es zum ersten WM-Duell mit den Engländern, gegen die Deutschland in Tests nie gewonnen hatte. Schön baute wieder auf die Elf, die Uruguay geschlagen hatte – also wieder mit Höttges (für Lutz). Allerdings liebäugelte er noch am Spieltag mit dem Einsatz des Reservisten Max Lorenz, und er grübelte, ob er Emmerich nicht wieder durch Brülls ersetzen sollte. Er ließ es. Entgegen des Rates seines Assistenten Dettmar Cramer setzte Schön Beckenbauer als Wachhund auf Bobby Charlton an. Schön: "Als ich Franz Beckenbauer beiseite nahm, um ihn auf seine Aufgabe vorzubereiten, fand er die Maßnahme in Ordnung." "Alles klar! Die beste Elf spielt", titelt Bild am Spieltag.

Schon am Vortag standen sie auf dem Wembley-Rasen, beiden Finalisten wurden 20 Minuten Training zugestanden. Bis kurz vor Anpfiff wurde Tilkowskis Schulter behandelt, zum Verdruss Schöns hatten ihm die Ärzte die Schwere der Verletzung verschwiegen. Schön: "Ich mußte nachher unserer medizinischen Abteilung einige Vorwürfe machen."

Natürlich war das Stadion ausverkauft, die Queen war gekommen und aus Deutschland reisten 12.000 Fans an, sofern sie nicht schon da gewesen waren.

Die Engländer hatten erst im Halbfinale ein Tor kassiert und waren Favorit. Sie standen zwar erstmals überhaupt in einem WM-Finale, aber als Gastgeber genossen sie alle Vorteile. "In Wembley seid ihr verloren", prophezeite Portugals WM-Torschützenkönig Eusebio den Deutschen. Trainer Alf Ramsey hält an Geoff Hurst fest, der den verletzten Mittelstürmer Jimmy Greaves in Viertelfinale mehr als nur vertreten hat. Außerdem haben die Engländer ja den Leitsatz "Never change a winning team" erfunden.

Der englische Verband lobte eine Prämie von 22.000 Pfund (umgerechnet 250.000 DM) für die Spieler aus, pro Stammspieler gab es 17.000 DM, für die Reservisten 5600 DM. Davon konnten die Deutschen nur träumen, es gab pro Einsatz 250 DM, also maximal 1500 DM. Etwas mehr als ein Monatsgehalt eines Bundesliga-Spielers, das damals maximal 1200 DM (mit Prämien) betragen durfte. Die Reservisten – acht machten gar kein Spiel – hofften wenigstens auf einen fairen Anteil an der Abstellungsgebühr (1000 DM für den Verein pro Spieler).

Aber um's Geld ging es ihnen nicht, nicht an diesem Tag, der für alle der größte ihrer Karriere war. Für die meisten blieb er es.



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

30. Juli in London - WM-Finale in England: Deutschland - England 2:4 nach Verlängerung

Vor dem Spiel:

Im Wembley-Stadion kam es zum ersten WM-Duell mit den Engländern, gegen die Deutschland in Tests nie gewonnen hatte. Schön baute wieder auf die Elf, die Uruguay geschlagen hatte – also wieder mit Höttges (für Lutz). Allerdings liebäugelte er noch am Spieltag mit dem Einsatz des Reservisten Max Lorenz, und er grübelte, ob er Emmerich nicht wieder durch Brülls ersetzen sollte. Er ließ es. Entgegen des Rates seines Assistenten Dettmar Cramer setzte Schön Beckenbauer als Wachhund auf Bobby Charlton an. Schön: "Als ich Franz Beckenbauer beiseite nahm, um ihn auf seine Aufgabe vorzubereiten, fand er die Maßnahme in Ordnung." "Alles klar! Die beste Elf spielt", titelt Bild am Spieltag.

Schon am Vortag standen sie auf dem Wembley-Rasen, beiden Finalisten wurden 20 Minuten Training zugestanden. Bis kurz vor Anpfiff wurde Tilkowskis Schulter behandelt, zum Verdruss Schöns hatten ihm die Ärzte die Schwere der Verletzung verschwiegen. Schön: "Ich mußte nachher unserer medizinischen Abteilung einige Vorwürfe machen."

Natürlich war das Stadion ausverkauft, die Queen war gekommen und aus Deutschland reisten 12.000 Fans an, sofern sie nicht schon da gewesen waren.

Die Engländer hatten erst im Halbfinale ein Tor kassiert und waren Favorit. Sie standen zwar erstmals überhaupt in einem WM-Finale, aber als Gastgeber genossen sie alle Vorteile. "In Wembley seid ihr verloren", prophezeite Portugals WM-Torschützenkönig Eusebio den Deutschen. Trainer Alf Ramsey hält an Geoff Hurst fest, der den verletzten Mittelstürmer Jimmy Greaves in Viertelfinale mehr als nur vertreten hat. Außerdem haben die Engländer ja den Leitsatz "Never change a winning team" erfunden.

Der englische Verband lobte eine Prämie von 22.000 Pfund (umgerechnet 250.000 DM) für die Spieler aus, pro Stammspieler gab es 17.000 DM, für die Reservisten 5600 DM. Davon konnten die Deutschen nur träumen, es gab pro Einsatz 250 DM, also maximal 1500 DM. Etwas mehr als ein Monatsgehalt eines Bundesliga-Spielers, das damals maximal 1200 DM (mit Prämien) betragen durfte. Die Reservisten – acht machten gar kein Spiel – hofften wenigstens auf einen fairen Anteil an der Abstellungsgebühr (1000 DM für den Verein pro Spieler).

Aber um's Geld ging es ihnen nicht, nicht an diesem Tag, der für alle der größte ihrer Karriere war. Für die meisten blieb er es.

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Wembley-Tor schreibt Geschichte

Spielbericht:

Rudi Michel lässt sich die Sternstunde nicht entgehen, er kommentiert das Finale für die ARD. Weltweit sind es 400 Millionen TV-Zuschauer an diesem Samstag. Der Anpfiff erfolgt um 15 Uhr.

Seeler verliert die Seitenwahl gegen Moore, bekommt den Anstoß. Tilkowski bleibt das Sorgenkind: Nach einem Zusammenprall mit Hunt bleibt er liegen (5.). Als Ersatztorwart ist Haller vorgesehen, da Wechsel verboten sind. Doch der darf zum Glück weiter stürmen. Was sich auszahlt: nach Helds Linksflanke köpft Jacky Charlton den Ball Haller vor die Füße und der schießt flach ins lange Eck – 1:0 (13.). Warum Rudi Michel in diesem Moment "Goal" ruft, ist sein Geheimnis geblieben. Lange hält es nicht, da gleicht Geoff Hurst (18.) aus. Nach einem Freistoß kommt er völlig ungedeckt zum Kopfball. Die Deutschen sind nicht schockiert, halten das Spiel offen und Gordon Banks muss gleich zweimal binnen Sekunden den erneuten Rückstand verhindern – gegen Overath und Emmerich. Halbzeit.

"In der Pause herrschte bei uns in der Kabine eine wirklich gute, gefaßte Stimmung. Man spürte die Konzentration jedes einzelnen. Alle wußten: Diese Partie war völlig offen, es war noch alles für uns drin. Ich mußte nicht viel sagen", memoriert Schön.

Das Spiel lebt von der ungeheuren Spannung, auf Höhepunkte wartet man zunächst vergeblich nach Wiederanpfiff. Mancher schiebt es auch darauf, dass sich Beckenbauer und Charlton neutralisieren. Dass Tilkowski nach 70 Minuten schon wieder liegen bleibt, ist eher ein gefühlter deutscher Tiefpunkt, aber er rappelt sich auch nach der Karambolage mit Bobby Charlton wieder auf. Noch zwölf Minuten. Da passiert es: Höttges' Befreiungsschlag missrät zu einer Kerze. Er selbst fällt dabei um, Peters der Ball maßgerecht vor die Füße. Volley drischt er ihn ein – 2:1 für England.

Schon beginnen die englischen Fans mit den Siegesfeierlichkeiten. Der deutsche Radio-Reporter Herbert Zimmermann, obwohl beim "Wunder von Bern" durch alle Gefühlswechselbäder gegangen, resigniert: "Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass es unsere Stürmer noch mal packen werden", sagt er in der 90. Minute. Dann muss eben ein Verteidiger aushelfen. Emmerichs Freistoß landet wie eine Flipperkugel über zwei Abpraller beim Kölner Wolfgang Weber und der Verteidiger gleicht rutschend in letzter Sekunde aus. Der Schweizer Schiedsrichter pfeift gar nicht mehr an – Verlängerung.

Helmut Schön: "Alf Ramsey drehte sich zu mir um und sah mir ins Gesicht. Beide breiteten wir die Arme aus und zogen die Schultern hoch, als wollten wir sagen: 'Was soll man da machen? Fußball.'"

Was dann kommt, weiß jeder Fußball-Fan: Nachdem die wütenden Engländer nach 94 Minuten durch Bobby Charlton den Pfosten treffen, visiert Hurst in der 101. Minute freistehend aus fünf Metern die Latte an. Es folgt der wohl auf ewig unerforschte Abpraller, auf vor oder doch hinter die Linie. Rudi Michels Ausruf drückt das geradezu exemplarisch aus: "Kein Tor, kein Tor. Oder doch? Und jetzt – was entscheidet der Schiedsrichter?" Gottfried Dienst zeigt bereits Ecke zur, weil Weber den Ball ins Toraus geköpft hat. Da meldet sich Linienrichter Tefik Bachramow aus Aserbaidschan, damals Teil der Sowjetunion, gestenreich und bekennt auf Befragung, der Ball sei drin gewesen. Seitdem haftet ein Makel am sportlich nicht unverdienten WM-Titel der Engländer. Und Michels nüchterne Prophezeiung trifft den Nagel auf den Kopf: "Das wird wieder Diskussionen geben." Über Jahrzehnte.

Wissenschaftliche Computer-Simulationen von 1995, übrigens von britischen Forschern, legen nahe, dass der Russe geirrt hat. Zumal Bachramow schon am Tag nach dem Finale zugibt, er habe es selbst auch nicht genau gesehen, sondern aus dem Verhalten der Spieler – die einen jubelten, die anderen waren zumindest konsterniert – geschlossen, dass es ein Tor gewesen sein müsse.

In der 120. Minute setzt Hurst noch einen drauf, allein rennt er von links auf Tilkowski zu. Obwohl – so ganz allein ist er nicht. In der Annahme, es sei Schluss, hasten drei Zuschauer aufs Feld, von "Bobbys" gehetzt. Da sie auf der gegenüberliegenden Seite sind, scheint es irrelevant. In Wahrheit ist es irregulär. Hurst darf sein drittes Tor trotzdem schießen, das den Schlusspunkt in diesem epischen Finale setzt. Kurios: Bis zum Bankett denkt er, es habe gar nicht gezählt und England nur 3:2 gewonnen. So also werden Weltmeisterschaften entschieden. Aber sie schenken uns auch Gemälde der Leidenschaften – wie das Foto vom geknickten Uwe Seeler, der das Feld mit hängenden Schultern und verlässt. Dabei gibt es nach diesem Spiel allen Grund, aufrecht zu gehen.

Schön hält fest: "In der Kabine herrschte grenzenlose Enttäuschung. Einige Spieler weinten. Es fielen auch ein paar deutliche Worte." Die Weltpresse aber stellt der deutschen Mannschaft ein denkbar gutes Zeugnis aus, auch und gerade weil sie die teilweise irregulären Tore so sportlich hingenommen hat.

"Sie hat mit dieser Besonnenheit in diesem Moment für den deutschen Sport und für das deutsche Ansehen mehr getan, als sie mit dem Gewinn des Titels je hätte erreichen können", schreibt die FAZ. In Frankfurt wird der Vize-Weltmeister jedenfalls wie ein Champion empfangen. Es galt, einer im Grunde ungeschlagenen Mannschaft, Trost und Anerkennung zu spenden.

Aufstellung: Tilkowski – Höttges, Schulz, Weber, Schnellinger – Haller, Beckenbauer, Overath – Held, Seeler, Emmerich.

Tore: 1:0 Haller (12.), 1:1 Hurst (18.), 1:2 Peters (78.), 2:2 Weber (90.), 2:3, 2:4 Hurst (101., 120.)

Zuschauer: 96.264

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Schön: "Wir sind auch mit dem zweiten Platz zufrieden"

Stimmen zum Spiel:

Helmut Schön: "Natürlich wären wir gern Weltmeister geworden. Aber wir sind auch mit dem zweiten Platz zufrieden. Es ist doch mehr, als wir vor der Weltmeisterschaft erwartet hatten. Alles in allem war es ein glücklicher Tag für den Fußball."

Wolfgang Weber: "Wenn der Ball im Tor gewesen wäre, dann hätte ich ihn doch mit einem Fallrückzieher aus dem Tor befördern müssen."

Willi Schulz: "Immerhin – und das macht mich froh – haben wir hier in der regulären Spielzeit kein Spiel verloren."

Uwe Seeler: "Wir gönnen den Engländern den Sieg. Doch dass wir auf diese Art verlieren mussten, gerade als wir den Gegner beherrschten, als wir am Drücker waren, das ist ärgerlich."

Stanley Rous (FIFA-Präsident): "Es war die Elf mit der größeren körperlichen Kraft. Zum dritten Tor möchte ich sagen, dass es regulär war."

Geoff Hurst (England): "Ich schoss aus der Drehung heraus und hatte genug zu tun, um auf den Beinen zu bleiben. Ich konnte nicht erkennen, ob der Ball die Linie überschritten hatte."

Bobby Moore (Englands Kapitän): "Wir sind überglücklich. Das Spiel erlebte ich wie im Traum. Die Deutschen haben alles gegen uns geworfen – und das war nicht wenig."

"Das hatte dieses Finale nicht verdient! Deutschland hat allen Grund, unserer Mannschaft zu gratulieren. Niemand braucht sich dieser Niederlage zu schämen, die unter so unglücklichen und mysteriösen Umständen zustande kam. Das sollte uns nicht daran hindern, auch unserem Gegner den Respekt zu zollen, den er sich verdiente. Das große Spiel, ein Finale, von dem noch Fußballgenerationen erzählen werden, wäre nicht möglich gewesen, hätten nicht beide Mannschaften das letzte aus sich herausgeholt." (kicker)

"120 Minuten lang lieferte die deutsche Elf dem hohen Favoriten einen Kampf auf Biegen und Brechen. Sie war es schließlich, die das Spiel so dramatisch gestaltete und die Entscheidung so lange hinausschob. Wollte ich mit spitzer Feder schreiben, so müßte die Schlagzeile lauten: Russischer Linienrichter schenkte England den Weltpokal!" (Süddeutsche Zeitung)

"Wir haben 2:2 verloren!" (Bild)

"Wembley hat niemals zuvor so ein Spiel erlebt. Spannung und Dramatik beherrschten gestern das Stadion für 120 phantastische Minuten. Die ungeheure, nervenzerreißende Erregung wird den fast 100.000 Zuschauern, die jede Sekunde dieses titanischen Kampfes mit den Spielern durchlitten, für ewig im Gedächtnis bleiben." (Sunday Express/London)

"In der 101. Minute knallte Hurst den Ball gegen die Unterkante des Querbalkens, von wo aus er hinter die Torlinie prallte. Oder? Der Schiedsrichter befragte Bachramow, einen der Linienrichter, der – ganz Russe – ohne äußeres Anzeichen irgendwelcher Emotionen blieb und auf Tor entschied." (The Guardian/London)

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