Wasserschlacht gegen Polen: Dank Müller und Maier ins Finale

Müller schießt Gastgeber ins WM-Finale

Spielbericht:

Deutschland spielt ganz in Weiß, Polen ganz in Rot. Aber was heißt hier spielen? "Das hat mit Fußball wenig zu tun", erkennt Ernst Huberty schon nach drei Minuten. Zu oft bleiben eigentlich gut getimte Pässe in Lachen liegen, und mancher Dribbler verliert den Ball unterwegs nicht an einen Gegenspieler, sondern in einer Pfütze. In der ersten Hälfte haben die Deutschen keine echte Torchance, und die Polen versuchen es vor allem mit Weitschüssen, weil vor dem Tor keine Kombinationen möglich sind. Sie müssen auf die fast unbespielbare Spielhälfte des Rasens anrennen, was in Polen noch Jahrzehnte lang für Verschwörungstheorien sorgen wird, die einen logischen Fehler haben: Wie hätten die vermeintlichen Saboteure unter den Feuerwehrleuten und Helfern wissen können, wer die Seitenwahl gewinnt?

Wie das Spiel ausgehen wird, ahnt lange Zeit auch keiner. Im Kampf mit den Naturgewalten haben die Aktiven mindestens ebenso viel Mühe wie mit dem Gegner. Selbst auf den Beinen zu bleiben, ist nicht die leichteste Übung an diesem Tag. Sportliche Höhepunkte sind rar gesät. Einer ist Gadochas Freistoßhammer aus spitzem Winkel, Sepp Maier bekommt noch die Finger dran - Ecke (20.). Dann tritt sogar Beckenbauer über den nicht wie sonst springenden Ball, und Lato strebt allein auf Maier zu, der pariert aus kürzester Distanz, auch den Nachschuss von Gadocha (28.). Ein Schlenzer von Kazimierz Deyna rauscht knapp am langen Eck vorbei.

Torlos geht der erste Akt zuende. Man sieht, dass die Polen gewinnen wollen, weil sie es müssen. Keine Wechsel auf diesem Geläuf, beiden Trainern erscheint es zu riskant, jetzt noch jemanden zu bringen, der sich erst zurecht finden muss auf der Frankfurter Seenplatte. Polen drückt weiter, Gadocha fordert Maier die nächste Parade ab. Dann ein Konter: Hölzenbein dringt von links in den Strafraum ein und fällt über Jerzy Gorgons Bein - die Zeitlupe beseitigt alle Zweifel: Es ist ein berechtigter Elfmeter.

Uli Hoeneß hat gegen Schweden verwandelt, er soll es wieder tun. Huberty bekommt Zweifel. "Hoffentlich hat Jan Tomaszewski nicht gesehen, wie er den letzten Elfmeter geschossen hat!" Dieser Gedanke läuft in diesem Moment auch im Kopfkino des Schützen. "Ich habe nicht, wie es gute Elfmeterschützen handhaben, spontan und ohne Denkprozess geschossen - ich fing vielmehr vorher schrecklich zu überlegen an", berichtet Hoeneß später den Reportern und davon, dass er zu viel darüber nachdachte, was wohl der Pole dachte und ob der womöglich auch den Rückblick auf das Schweden-Spiel gesehen habe, der noch am Vormittag gelaufen ist.

Kurzum: Kannte er seine Ecke? Hoeneß in seinem WM-Buch: "Plötzlich schoß es mir durch den Kopf: Der Tomaszewski ahnt etwas, der saß heute ebenfalls vor dem Fernsehapparat. Im letzten Moment entschloß ich mich für die andere Ecke." Der Schuss drückt die inneren Kämpfe und die ganze Verunsicherung aus, ist weder präzise noch fest und wird gehalten. Es ist der erste Elfmeterfehlschuss der deutschen WM-Historie. Das Publikum stöhnt. Hoeneß sackt innerlich zusammen, da kommt Beckenbauer auf ihn zu gerannt: "Uli, das macht nichts! Das kann jedem von uns passieren. Jetzt erst recht, reiß dich zusammen!" Es sind ja noch 37 Minuten zu spielen.

Der Schock bleibt nicht ohne Wirkung, doch anders, als es meistens kommt. Er löst Trotz aus, und Hoeneß stellt fest: "Für die gesamte Mannschaft war mein Versagen eine Art Fanal, keineswegs lähmte es uns." Deutschland übernimmt nun das Kommando, auch im Wissen darum, dass das eigene Tor am sichersten ist, wenn der Ball vor dem anderen ist. Auf 0:0 spielen auf diesem Boden und bei diesem gefährlichen Gegner - schier ein Ding der Unmöglichkeit.

Und so stürmen die Deutschen plötzlich. Hölzenbein, der seine Leistung aus dem Schweden-Spiel noch einmal übertrifft, schlenzt von der Strafraumgrenze etwas zu hoch, Huberty jammert: "Was für eine Chance!" Polen kommt länger nicht mehr zu Abschlüssen. Als der Regen 20 Minuten vor Abpfiff wieder einsetzt, warnt Huberty: "Viel kann dieser Rasen nicht mehr vertragen." Gibt es gar einen Spielabbruch? Nein, sie bringen es mit Anstand zu Ende.

Und so bekommt das Spiel noch seinen Höhepnkt. Hölzenbein bedient in der 76. Minute auf links Rainer Bonhof, der dringt in den Strafraum ein. Antoni Szymanowski hetzt ihm hinterher und spitzelt ihm den Ball vom Fuß, was er besser nicht getan hätte. Das Leder kommt nämlich genau zu Gerd Müller, der frei steht und wie immer mit allem rechnet. Ballannahme und Schuss sind eins, flach zischt die Kugel ins linke Eck. 1:0!

Es ist das Tor des Tages, weil der unbezwingbare Maier noch zwei Schüsse von Deyna und Joker Kazimierz Kmiecik vereitelt. Hinterher wird der Bayern-Keeper mit Lob überschüttet, besser hat er wohl nie gehalten im deutschen Tor. Nach dem Schlusspfiff eilt Schön auf den Platz und drückt als ersten seine Nummer 1 - die am nächsten Tag auf Seite 1 der Bild-Zeitung lesen darf: "1:0 durch Müller gegen Polen - und Maier war der Größte".

Für den Kicker ist Maier "der Held von Frankfurt". Noch einen Gewinner gibt es im deutschen Team, aber das bekommt erst mal keiner mit. Berti Vogts hat nicht besonders gut gespielt und mit Gadocha so seine Schwierigkeiten gehabt. Dafür lernt er in den Stunden nach dem Sieg im VIP-Restaurant der Lufthansa seine Frau Monika kennen. Die Stewardess bringt ihm ein Steak und - zum Dessert - auch die Telefonnummer.

Aufstellung: Maier - Vogts, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner - Bonhof, Overath, Hoeneß - Grabowski, Müller, Hölzenbein.

Tore: 1:0 Müller (76.).

Zuschauer:59.000 in Frankfurt.



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

3. Juli in Frankfurt - drittes Finalrundenspiel: Deutschland - Polen 1:0

Vor dem Spiel:

In den letzten 20 Minuten von Düsseldorf hatte sich endlich die beste Elf gefunden. Bundestrainer Helmut Schön belohnte den Einsatz von Joker Jürgen Grabowski, der sich mit einem Tor in die Polen-Elf zurückgeschoss hatte. Gewiss mag auch eine Rolle gespielt haben, dass das finale Spiel der Finalrunde Spiel in Frankfurt stieg. Grabowski bekam sein "Heimspiel" und war wieder Rechtsaußen, sein vielseitiger Klubkamerad Bernd Hölzenbein rückte auf links. Wie zuvor Uli Hoeneß hatte auch Grabowski seine Lektion gelernt, für seinen Vertreter Dieter Herzog war die WM vorbei. Als der Tross in der Sportschule Hofheim im Taunus ankam, war erstmals in diesem Turnier keine Personalie mehr offen.

Schön änderte auch nichts am System mit drei Stürmern, obwohl gegen die starken Polen ein Punkt genügte, um das Finale zu erreichen. "Die Polen sind nicht stärker als die Schweden", glaubte Kapitän Franz Beckenbauer zu wissen. Diese Polen hatten jedoch als einziges Team alle WM-Spiele gewonnen und die Herzen der neutralen Zuschauer erobert. Namen wie Grzegorz Lato, Robert Gadocha und Wladysław Zmuda waren plötzlich in aller Munde. Ihr Pech: Die Siege in der Zwischenrunde waren zu knapp, so dass sie als Zweiter in ein Spiel gingen, das sie gewinnen mussten.

Nach dem 2:1 gegen die Jugoslawen hatte Trainer Kazimierz Gorski gesagt: "Hoffentlich fehlt uns jetzt nicht ein Tag zum Krafttanken, die wir gegen Deutschland brauchen. Aber wir werden uns für das Spiel am Mittwoch etwas einfallen lassen." Er musste auf jeden Fall einen Vertreter für Mittelstürmer Andrzej Szarmach (fünf WM-Tore) finden, der sich gegen Jugoslawien am Oberschenkel verletzt hatte und von Jan Domarski ersetzt wurde. Auf der WM-Bühne war es das erste Treffen mit Deutschland. Auf dem Weg zur EM 1972 hatte es die ersten Pflichtspiele gegeben, Polen unterlag in Warschau 1:3, das 0:0 in Berlin bedeutete das Aus der Gäste. In bis dato insgesamt neun Duellen war Deutschland ungeschlagen geblieben.

Der schwierigste Gegner für beide Teams sollte ohnehin der Regen werden, der das Spielfeld seit dem frühen Morgen in eine Seenplatte verwandelte. So waren die Zuschauer vor dem entscheidenden Spiel um den Finaleinzug auf Regen eingestellt. Sogar Plastikplanen wurden auf den Rängen gesichtet, denn über dem Rhein-Main-Gebiet wurden wieder heftige Regenschauer angekündigt. Aber das, was dann geschah, hatte niemand erwartet. Deutschland gegen Polen, offiziell war es das letzte Zwischenrundenspiel, praktisch jedoch ein Halbfinale, ging als "Wasserschlacht von Frankfurt" in die Fußballgeschichte ein. Niemals in der Geschichte der WM gab es irregulärere Platzverhältnisse. Sie machten das Spiel legendär.

Wobei die eigentlichen Helden des Tages schon vor dem Spiel im Einsatz waren. Sie gingen barfuß und traten auf, als der Himmel seine Schleusen öffnete. Knapp 90 Minuten vor dem planmäßigen Anpfiff um 16 Uhr gingen 14 Liter pro Quadratmeter nieder, und "die Regentropfen sprangen einen halben Meter vom Boden hoch", erinnerte sich der Schiedsrichter Erich Linemayr aus Linz in Österreich. 40 Minuten dauerte der Spuk, und er hinterließ auf dem Rasen des Waldstadions eine Seenlandschaft, nicht mal die Linien waren zu sehen. Sie wurden vor aller Augen nachgezogen, doch das war das kleinste Problem und machte den Platz auch nicht bespielbar.

Linemayr geriet in die Bredouille. Offiziell 59.000 Zuschauer waren gekommen, 500 Millionen weltweit saßen an den Bildschirmen - und der Terminplan sah eigentlich keinen Spielraum vor. Eine Absage hätte dazu geführt, dass das Finale am Montag ausgetragen worden wäre - und wer wollte das schon? Linemayr beriet sich mit seinen Assistenten und beschloss, auf Zeit zu spielen. Er ging in die Kabinen der Mannschaften und teilte ihnen zunächst mit, noch zehn Minuten zu warten, dann kam er wieder und bat um weitere 20 Minuten Geduld.

Die Deutschen zogen sich die Fußballschuhe wieder aus und kickten sich die Nervosität im Duschraum weg - in Turnschuhen. Im Stadion brannte ab 15.30 an einem Juli-Tag das Flutlicht, so dunkel war der Gewitterhimmel. Ehrenspielführer Uwe Seeler beschwichtigte noch und sagte in der ARD: "Das ist unser Wetter." Polens Trainer Kazimierz Gorski nutzte die Wartezeit, um Helmut Schön einen Blumenstrauß zu übergeben - für sein 100. Länderspiel. Aber würde es überhaupt angepfiffen werden? Der Stadionsprecher erntete Pfiffe, als er mitteilte, dass sich der Anpfiff verzögere. Linemayr hatte nach seinem ersten Eindruck noch gesagt: "Hier wird unter keinen Umständen gespielt." Daraufhin versuchten die Verantwortlichen, die Umstände zu ändern.

Karl-Heinz Erdmann, der Geschäftsführer der Stadion GmbH, schrie den Feuerwehrmann Walter Meinl, der mit 20-köpfiger Mannschaft routinemäßig vor Ort war, an: "Mein Gott, mach doch was!" Eine Spielfeldhälfte war nahezu komplett unter Wasser, die Pfützen waren bis zu zehn Zentimeter tief und das Grün war an drei Stellen hässlichem Braun gewichen. Die Drainage war zu schlecht, das Wasser lief nicht ab. "Der Frankfurter Rasen ist eine Weltmeisterschaftsblamage", schrieb der Kicker am nächsten Tag.

Aber es gab auch Helden. Ordner versuchten mit zwei Wasserkehrmaschinen so viel wie möglich abzupumpen. Zwei Mann an einer Walze, liefen sie auf und ab, am Ende in barfuß. Dann kam Walter Meinels Löschzug zum Einsatz, mit Schläuchen "bildeten wir einen eigenen Wasserkreislauf und verwendeten unser Wasser als Treibmittel". Es war ein rührender Kampf gegen die Fluten, ARD-Kommentator Ernst Huberty gab am Mikrofon Durchhalteparolen aus und fand: "Es steigert ja nur die Spannung."

Im ARD-Studio wurden zur Überbrückung derweil Zuschauerfragen eingespielt, und ein Anrufer wollte von Experte Walter Johannsen, damals Braunschweigs Trainer, wissen, ob eigentlich barfuß gespielt werden dürfe. So vergingen die Minuten, und unter dem Regenschirm tagte der Krisenstab unter Führung von OK-Chef Hermann Neuberger, der nichts mehr fürchtete als eine Absage. Zitat: "Organisatorisch wäre es für uns eine Katastrophe gewesen."

Dann aber kam die Sonne wieder raus und mit ihr die Mannschaften. "Erich, wir probieren's", hatte Linienrichter Hans Scheurer den Schiedsrichter ermutigt, und der pfiff um 16.31 Uhr an. Auch, wie er noch 2006 der Welt verriet, weil die Mannschaften als fair galten und nicht zu befürchten war, dass sie auf rutschigem Boden Schauspieleinlagen einlegen würden.

###more###

Müller schießt Gastgeber ins WM-Finale

Spielbericht:

Deutschland spielt ganz in Weiß, Polen ganz in Rot. Aber was heißt hier spielen? "Das hat mit Fußball wenig zu tun", erkennt Ernst Huberty schon nach drei Minuten. Zu oft bleiben eigentlich gut getimte Pässe in Lachen liegen, und mancher Dribbler verliert den Ball unterwegs nicht an einen Gegenspieler, sondern in einer Pfütze. In der ersten Hälfte haben die Deutschen keine echte Torchance, und die Polen versuchen es vor allem mit Weitschüssen, weil vor dem Tor keine Kombinationen möglich sind. Sie müssen auf die fast unbespielbare Spielhälfte des Rasens anrennen, was in Polen noch Jahrzehnte lang für Verschwörungstheorien sorgen wird, die einen logischen Fehler haben: Wie hätten die vermeintlichen Saboteure unter den Feuerwehrleuten und Helfern wissen können, wer die Seitenwahl gewinnt?

Wie das Spiel ausgehen wird, ahnt lange Zeit auch keiner. Im Kampf mit den Naturgewalten haben die Aktiven mindestens ebenso viel Mühe wie mit dem Gegner. Selbst auf den Beinen zu bleiben, ist nicht die leichteste Übung an diesem Tag. Sportliche Höhepunkte sind rar gesät. Einer ist Gadochas Freistoßhammer aus spitzem Winkel, Sepp Maier bekommt noch die Finger dran - Ecke (20.). Dann tritt sogar Beckenbauer über den nicht wie sonst springenden Ball, und Lato strebt allein auf Maier zu, der pariert aus kürzester Distanz, auch den Nachschuss von Gadocha (28.). Ein Schlenzer von Kazimierz Deyna rauscht knapp am langen Eck vorbei.

Torlos geht der erste Akt zuende. Man sieht, dass die Polen gewinnen wollen, weil sie es müssen. Keine Wechsel auf diesem Geläuf, beiden Trainern erscheint es zu riskant, jetzt noch jemanden zu bringen, der sich erst zurecht finden muss auf der Frankfurter Seenplatte. Polen drückt weiter, Gadocha fordert Maier die nächste Parade ab. Dann ein Konter: Hölzenbein dringt von links in den Strafraum ein und fällt über Jerzy Gorgons Bein - die Zeitlupe beseitigt alle Zweifel: Es ist ein berechtigter Elfmeter.

Uli Hoeneß hat gegen Schweden verwandelt, er soll es wieder tun. Huberty bekommt Zweifel. "Hoffentlich hat Jan Tomaszewski nicht gesehen, wie er den letzten Elfmeter geschossen hat!" Dieser Gedanke läuft in diesem Moment auch im Kopfkino des Schützen. "Ich habe nicht, wie es gute Elfmeterschützen handhaben, spontan und ohne Denkprozess geschossen - ich fing vielmehr vorher schrecklich zu überlegen an", berichtet Hoeneß später den Reportern und davon, dass er zu viel darüber nachdachte, was wohl der Pole dachte und ob der womöglich auch den Rückblick auf das Schweden-Spiel gesehen habe, der noch am Vormittag gelaufen ist.

Kurzum: Kannte er seine Ecke? Hoeneß in seinem WM-Buch: "Plötzlich schoß es mir durch den Kopf: Der Tomaszewski ahnt etwas, der saß heute ebenfalls vor dem Fernsehapparat. Im letzten Moment entschloß ich mich für die andere Ecke." Der Schuss drückt die inneren Kämpfe und die ganze Verunsicherung aus, ist weder präzise noch fest und wird gehalten. Es ist der erste Elfmeterfehlschuss der deutschen WM-Historie. Das Publikum stöhnt. Hoeneß sackt innerlich zusammen, da kommt Beckenbauer auf ihn zu gerannt: "Uli, das macht nichts! Das kann jedem von uns passieren. Jetzt erst recht, reiß dich zusammen!" Es sind ja noch 37 Minuten zu spielen.

Der Schock bleibt nicht ohne Wirkung, doch anders, als es meistens kommt. Er löst Trotz aus, und Hoeneß stellt fest: "Für die gesamte Mannschaft war mein Versagen eine Art Fanal, keineswegs lähmte es uns." Deutschland übernimmt nun das Kommando, auch im Wissen darum, dass das eigene Tor am sichersten ist, wenn der Ball vor dem anderen ist. Auf 0:0 spielen auf diesem Boden und bei diesem gefährlichen Gegner - schier ein Ding der Unmöglichkeit.

Und so stürmen die Deutschen plötzlich. Hölzenbein, der seine Leistung aus dem Schweden-Spiel noch einmal übertrifft, schlenzt von der Strafraumgrenze etwas zu hoch, Huberty jammert: "Was für eine Chance!" Polen kommt länger nicht mehr zu Abschlüssen. Als der Regen 20 Minuten vor Abpfiff wieder einsetzt, warnt Huberty: "Viel kann dieser Rasen nicht mehr vertragen." Gibt es gar einen Spielabbruch? Nein, sie bringen es mit Anstand zu Ende.

Und so bekommt das Spiel noch seinen Höhepnkt. Hölzenbein bedient in der 76. Minute auf links Rainer Bonhof, der dringt in den Strafraum ein. Antoni Szymanowski hetzt ihm hinterher und spitzelt ihm den Ball vom Fuß, was er besser nicht getan hätte. Das Leder kommt nämlich genau zu Gerd Müller, der frei steht und wie immer mit allem rechnet. Ballannahme und Schuss sind eins, flach zischt die Kugel ins linke Eck. 1:0!

Es ist das Tor des Tages, weil der unbezwingbare Maier noch zwei Schüsse von Deyna und Joker Kazimierz Kmiecik vereitelt. Hinterher wird der Bayern-Keeper mit Lob überschüttet, besser hat er wohl nie gehalten im deutschen Tor. Nach dem Schlusspfiff eilt Schön auf den Platz und drückt als ersten seine Nummer 1 - die am nächsten Tag auf Seite 1 der Bild-Zeitung lesen darf: "1:0 durch Müller gegen Polen - und Maier war der Größte".

Für den Kicker ist Maier "der Held von Frankfurt". Noch einen Gewinner gibt es im deutschen Team, aber das bekommt erst mal keiner mit. Berti Vogts hat nicht besonders gut gespielt und mit Gadocha so seine Schwierigkeiten gehabt. Dafür lernt er in den Stunden nach dem Sieg im VIP-Restaurant der Lufthansa seine Frau Monika kennen. Die Stewardess bringt ihm ein Steak und - zum Dessert - auch die Telefonnummer.

Aufstellung: Maier - Vogts, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner - Bonhof, Overath, Hoeneß - Grabowski, Müller, Hölzenbein.

Tore: 1:0 Müller (76.).

Zuschauer:59.000 in Frankfurt.

###more###

"Das war der beste Sepp Maier, den ich je gesehen habe"

Stimmen zum Spiel:

Helmut Schön: "Es war ein erregendes Spiel, und ich muss unserem Gegner ein großes Kompliment machen, der uns alles, aber auch alles abverlangt hat. Überhaupt haben beide Mannschaften bei diesen Bodenverhältnissen eine hervorragende Leistung geboten. Der Boden hat uns sicherlich nicht behagt und unsere Favoritenrolle gemindert. Stellvertretend für die anderen möchte ich vor allem Bonhof hervorheben, dem es gelungen ist, Polens Spielmacher Deyna im Zaum zu halten."

Sepp Maier: "Selten musste ich mich so sehr konzentrieren. Der Boden war fürchterlich und kein Ball richtig zu berechnen. Ich bin deshalb zufrieden, weil es das beste meiner bisherigen WM-Spiele einschließlich Mexiko war."

Franz Beckenbauer: "Es war ein Spiel des Zufalls, weil auf dem unmöglichen Spielfeld alles passieren kann. Die Polen erwiesen sich als die erwartet starke Mannschaft, und wenn wir gewonnen haben, dann liegt es zum großen Teil an unserer Erfahrung."

Rainer Bonhof: "Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht so verausgabt."

Gerd Müller: "Ich bin überglücklich und weiß nicht, woher ich die Ruhe genommen habe, um kalt meine Torchance zu nutzen. Wir haben phantastisch gekämpft."

Wolfgang Kleff: "Das war der beste Sepp Maier, den ich je gesehen habe."

Kazimierz Gorski (Trainer Polens): "Das Ergebnis hätte ebenso gut wie 1:0 auch 0:0 oder 0:1 heißen können. Das war Glück. Wir haben im entscheidenden Moment den Fehler begangen, auf Abseits zu spielen. Da ist Müller einen Augenblick mit Tomaszewski allein geblieben, und da ist es eben passiert."

"Es ist geschafft! Unter widrigsten äußeren Bedingungen gewann die deutsche Nationalmannschaft ihr letztes Spiel der zweiten Finalrunde gegen Polen 1:0. Nach zwei Wolkenbrüchen (...) war der Platz bei Anpfiff noch immer so überflutet, daß ein Bundesligaspiel mit Sicherheit nicht angepfiffen worden wäre (...) Klatschnaß und völlig fertig von den Strapazen eines solchen, erst recht für eine Weltmeisterschaft unzumutbaren Bodens, gingen die Spieler beider Mannschaften in die Kabinen." (Kicker)

"Der Kampf von Frankfurt wird unter dem traurigen Namen 'Wasserschlacht' in die Fußballgeschichte eingehen." (Süddeutsche Zeitung)

"Die Niederlage im Kampf gegen eine Mannschaft, die sich bereits den Titel des Vizeweltmeisters gesichert hat und die womöglich sogar Meister wird, ist keine Schande. Zumal nach einem Kampf, der bei etwas mehr Glück mit einem anderen, für uns günstigeren Ergebnis hätte enden können. Denn eine lange Zeit hindurch waren es die polnischen Spieler, die den Ton im Stadion angaben (...) Sie haben starken Beifall verdient." (Trybuna Luda/Warschau)

###more###