Voss-Tecklenburg: "Der Fußball muss solidarisch zusammenstehen"

Die EM-Qualifikationsspiele und die Frauen-EM 2021 sind verschoben, die Spielerinnen auf ungewisse Zeit im Individualtraining. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg spricht im DFB.de-Interview über Zusammenhalt, motivierende Trainingsinhalte und die Bedeutung der EM-Verschiebung für den Frauenfußball.

DFB.de: Eine Frage, die in diesen Tagen keine Floskel ist: Wie geht es Ihnen?

Martina Voss-Tecklenburg: Mir geht es soweit gut, weil zum Glück auch niemand in meinem direkten Umfeld erkrankt ist. Wir halten als Familie und Freunde zusammen. Und trotzdem ist es spürbar, dass man nachdenklicher wird. Man hat so viele Fragezeichen im Kopf - für alle Lebensbereiche, die einen bewegen. Mein Papa wird beispielsweise heute 80 Jahre alt. Der Tag war anders geplant, aber die Familienfeier ist nur verschoben, und wir alle drücken ihn ganz fest aus der Ferne.

DFB.de: Wie gehen Sie konkret mit dieser schwierigen Situation um?

Voss-Tecklenburg: Man versucht, sich durch bestimmte Aufgaben abzulenken. Wir gehen ja trotzdem noch unserem - wenn auch eingeschränkten - Arbeitsalltag nach, sind zudem im Austausch mit den Menschen, die einem wichtig sind. Das Thema Coronavirus ist natürlich sehr dominant, deshalb muss man sich auch Freiräume schaffen, in denen man sich mit anderen Dingen beschäftigt. Sei es etwa ein gutes Buch zu lesen oder aufs Rad zu steigen, um einfach mal die Natur zu genießen. Damit man trotz der schwierigen Zeiten positiv bleibt.

DFB.de: Wie gestaltet sich aktuell der Kontakt und Austausch zu den Nationalspielerinnen?

Voss-Tecklenburg: Wie bei vielen anderen kommunizieren wir derzeit nur über Telefon und Videokonferenzen. Wir haben eine Fürsorgepflicht unseren Spielerinnen gegenüber, sind Kümmerer, fragen aktiv nach bei ihnen und haben einige Dinge angeschoben.

DFB.de: Welche konkret?

Voss-Tecklenburg: Wir machen beispielsweise eine Aktion unter der Überschrift #stayathome, die alle Spielerinnen von den U 15-Juniorinnen bis zur Frauen-Nationalmannschaft betrifft. Aufgeteilt in unterschiedliche Gruppen, vermitteln wir über unsere SAP-Team-App altersgruppengerechte Trainingsinhalte und -programme. Die Inhalte sind von unseren Trainerinnen und Trainern unter Federführung von Patrik Grolimund, dem Assistenztrainer mit Schwerpunkt Athletik bei der Frauen-Nationalmannschaft, entwickelt worden.

DFB.de: Was darf man sich darunter vorstellen?

Voss-Tecklenburg: Die Schwerpunkte sind hierbei unterschiedlich, natürlich sind die Inhalte bei A-Nationalspielerinnen andere als bei der U 15. Zumal unsere A-Spielerinnen auch von ihren Vereinen detaillierte Trainingspläne erhalten haben. Aber um Abwechslung und andere Ideen in den Trainingsalltag zu bringen und ihnen zusätzlich das Gefühl zu geben, dass auch wir für sie da sind, sind diese Maßnahmen total wichtig. Vor allem im U-Bereich, weil es hier viele heterogene Ansätze gibt. Da braucht es ganz viel Support von unserer Seite. Wir haben hier konkrete Trainingshilfen bereitgestellt, die alle um die Frage kreisen: Was könnt ihr tun, um euch einigermaßen fit zu halten. Denn die große Herausforderung wird sein, dass unsere Spielerinnen, wenn sie irgendwann mal in den Trainingsalltag zurückkehren, nicht direkt den Overload bekommen. Dann wird es auch um die richtige Belastungssteuerung gehen. Wir stehen vor großen Herausforderungen, weil wir mit dieser Situation noch keine Erfahrungen gemacht haben. Das ist so ein bisschen wie verletzte Spielerinnen zurück auf den Platz zu bringen, die aber gar nicht verletzt waren.

DFB.de: Wie läuft der Austausch mit den Vereinen?

Voss-Tecklenburg: Wir haben die Vereine auf allen Ebenen mit ins Boot genommen und darüber informiert, was wir vorhaben. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv, der Austausch ist vorhanden und keine Einbahnstraße, da kommt auch ganz viel zurück. Das wird sich sicher auch noch intensivieren, weil wir alle kreativ sein und neue Ideen entwickeln müssen - schließlich weiß keiner so genau, wie lange diese Situation andauert.

DFB.de: Die EM-Qualifikationsspiele im April sind verschoben, Sie werden Ihre Spielerinnen über eine lange Phase hinweg nicht mehr zusammenhaben, möglicherweise bis in den September. Wie geht man als Trainerin mit dieser Situation um?

Voss-Tecklenburg: Das ist für mich nicht der wichtigste Punkt. Fußball ist derzeit in den Hintergrund getreten. Ich glaube, wir müssen es einfach so annehmen, wie es ist. Wir waren ja auch nach dem England-Spiel und vor dem Algarve Cup fünf Monate nicht zusammen. Das ist an sich also nichts Neues für uns. Für mich ist viel wichtiger, dass die Spielerinnen so viel Unterstützung erhalten wie möglich. Und natürlich, dass sie und ihre Familien gesund bleiben. Was wir aus sportlicher Sicht tun können, tun wir. Und mehr noch: Wir wollen versuchen, die Freude auf das, was uns immer so normal erschien, hochzuhalten: nämlich dass wir Fußball spielen und uns als Team gemeinsam bewegen dürfen. Wir haben immer versucht herauszustellen, dass wir privilegiert sind und es ein Geschenk ist, was wir tun. Das wird uns allen jetzt noch viel bewusster - und dieses Bewusstsein und die Sensibilität dafür werden wir auch nach der Krise wieder zurück in den Alltag nehmen.

DFB.de: Die Frauen-EM wird ebenfalls verschoben. Ihre Einschätzung dazu?

Voss-Tecklenburg: Ich sehe das nicht als Zurückstellung des Frauenfußballs. In diesen herausfordernden Zeiten muss der Fußball als Ganzes solidarisch zusammenstehen. Die aktuelle Situation erfordert von den Vereinen, Verbänden, Spielerinnen und Funktionären nicht nur besondere Anstrengungen im Sinne des Zusammenhalts, sondern auch die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und Verantwortung zu übernehmen, um gemeinsam Lösungen für komplexe Sachverhalte zu finden. Es ist nachvollziehbar, die EM der Männer auf das nächste Jahr zu verschieben. Genauso alternativlos ist es auch, unsere Frauen-EM in der Folge neu zu terminieren. Wir werden unsere Planungen dementsprechend anpassen. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir auch zu einem späteren Zeitpunkt ein großartiges Turnier erleben.

DFB.de: Wie blicken Sie der Zukunft entgegen?

Voss-Tecklenburg: So schwer das gerade ist, sollte man seine positive Einstellung nicht verlieren. Und sich darauf besinnen, dass die Menschheit schon sehr viele Krisen erlebt hat und aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen ist. Es ist für uns alle eine große Herausforderung, aber ich erlebe auch bei vielen Menschen sehr viel Solidarität und Kreativität. Ich glaube, gerade jetzt braucht es auch die Starken für die Schwächeren. Ich habe vor wenigen Tagen bei der Caritas recherchiert, wie ich Senioren unterstützen kann. Jeder kann versuchen, seine Aufgabe zu finden, zu helfen, zu unterstützen in diesen schweren Zeiten. Es liegt eine Riesenchance darin, gewisse Werte, die wir verloren haben, jetzt wiederzugewinnen: nämlich als Familien und Gesellschaft achtsam miteinander umzugehen, uns gegenseitig zu unterstützen, fürsorglich und empathisch zu sein. Ich hoffe, dass wir diese Werte, wenn wir die Krise überstanden haben, auch im Alltag nicht wieder vergessen, sondern danach leben.

[as]

Die EM-Qualifikationsspiele und die Frauen-EM 2021 sind verschoben, die Spielerinnen auf ungewisse Zeit im Individualtraining. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg spricht im DFB.de-Interview über Zusammenhalt, motivierende Trainingsinhalte und die Bedeutung der EM-Verschiebung für den Frauenfußball.

DFB.de: Eine Frage, die in diesen Tagen keine Floskel ist: Wie geht es Ihnen?

Martina Voss-Tecklenburg: Mir geht es soweit gut, weil zum Glück auch niemand in meinem direkten Umfeld erkrankt ist. Wir halten als Familie und Freunde zusammen. Und trotzdem ist es spürbar, dass man nachdenklicher wird. Man hat so viele Fragezeichen im Kopf - für alle Lebensbereiche, die einen bewegen. Mein Papa wird beispielsweise heute 80 Jahre alt. Der Tag war anders geplant, aber die Familienfeier ist nur verschoben, und wir alle drücken ihn ganz fest aus der Ferne.

DFB.de: Wie gehen Sie konkret mit dieser schwierigen Situation um?

Voss-Tecklenburg: Man versucht, sich durch bestimmte Aufgaben abzulenken. Wir gehen ja trotzdem noch unserem - wenn auch eingeschränkten - Arbeitsalltag nach, sind zudem im Austausch mit den Menschen, die einem wichtig sind. Das Thema Coronavirus ist natürlich sehr dominant, deshalb muss man sich auch Freiräume schaffen, in denen man sich mit anderen Dingen beschäftigt. Sei es etwa ein gutes Buch zu lesen oder aufs Rad zu steigen, um einfach mal die Natur zu genießen. Damit man trotz der schwierigen Zeiten positiv bleibt.

DFB.de: Wie gestaltet sich aktuell der Kontakt und Austausch zu den Nationalspielerinnen?

Voss-Tecklenburg: Wie bei vielen anderen kommunizieren wir derzeit nur über Telefon und Videokonferenzen. Wir haben eine Fürsorgepflicht unseren Spielerinnen gegenüber, sind Kümmerer, fragen aktiv nach bei ihnen und haben einige Dinge angeschoben.

DFB.de: Welche konkret?

Voss-Tecklenburg: Wir machen beispielsweise eine Aktion unter der Überschrift #stayathome, die alle Spielerinnen von den U 15-Juniorinnen bis zur Frauen-Nationalmannschaft betrifft. Aufgeteilt in unterschiedliche Gruppen, vermitteln wir über unsere SAP-Team-App altersgruppengerechte Trainingsinhalte und -programme. Die Inhalte sind von unseren Trainerinnen und Trainern unter Federführung von Patrik Grolimund, dem Assistenztrainer mit Schwerpunkt Athletik bei der Frauen-Nationalmannschaft, entwickelt worden.

DFB.de: Was darf man sich darunter vorstellen?

Voss-Tecklenburg: Die Schwerpunkte sind hierbei unterschiedlich, natürlich sind die Inhalte bei A-Nationalspielerinnen andere als bei der U 15. Zumal unsere A-Spielerinnen auch von ihren Vereinen detaillierte Trainingspläne erhalten haben. Aber um Abwechslung und andere Ideen in den Trainingsalltag zu bringen und ihnen zusätzlich das Gefühl zu geben, dass auch wir für sie da sind, sind diese Maßnahmen total wichtig. Vor allem im U-Bereich, weil es hier viele heterogene Ansätze gibt. Da braucht es ganz viel Support von unserer Seite. Wir haben hier konkrete Trainingshilfen bereitgestellt, die alle um die Frage kreisen: Was könnt ihr tun, um euch einigermaßen fit zu halten. Denn die große Herausforderung wird sein, dass unsere Spielerinnen, wenn sie irgendwann mal in den Trainingsalltag zurückkehren, nicht direkt den Overload bekommen. Dann wird es auch um die richtige Belastungssteuerung gehen. Wir stehen vor großen Herausforderungen, weil wir mit dieser Situation noch keine Erfahrungen gemacht haben. Das ist so ein bisschen wie verletzte Spielerinnen zurück auf den Platz zu bringen, die aber gar nicht verletzt waren.

DFB.de: Wie läuft der Austausch mit den Vereinen?

Voss-Tecklenburg: Wir haben die Vereine auf allen Ebenen mit ins Boot genommen und darüber informiert, was wir vorhaben. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv, der Austausch ist vorhanden und keine Einbahnstraße, da kommt auch ganz viel zurück. Das wird sich sicher auch noch intensivieren, weil wir alle kreativ sein und neue Ideen entwickeln müssen - schließlich weiß keiner so genau, wie lange diese Situation andauert.

DFB.de: Die EM-Qualifikationsspiele im April sind verschoben, Sie werden Ihre Spielerinnen über eine lange Phase hinweg nicht mehr zusammenhaben, möglicherweise bis in den September. Wie geht man als Trainerin mit dieser Situation um?

Voss-Tecklenburg: Das ist für mich nicht der wichtigste Punkt. Fußball ist derzeit in den Hintergrund getreten. Ich glaube, wir müssen es einfach so annehmen, wie es ist. Wir waren ja auch nach dem England-Spiel und vor dem Algarve Cup fünf Monate nicht zusammen. Das ist an sich also nichts Neues für uns. Für mich ist viel wichtiger, dass die Spielerinnen so viel Unterstützung erhalten wie möglich. Und natürlich, dass sie und ihre Familien gesund bleiben. Was wir aus sportlicher Sicht tun können, tun wir. Und mehr noch: Wir wollen versuchen, die Freude auf das, was uns immer so normal erschien, hochzuhalten: nämlich dass wir Fußball spielen und uns als Team gemeinsam bewegen dürfen. Wir haben immer versucht herauszustellen, dass wir privilegiert sind und es ein Geschenk ist, was wir tun. Das wird uns allen jetzt noch viel bewusster - und dieses Bewusstsein und die Sensibilität dafür werden wir auch nach der Krise wieder zurück in den Alltag nehmen.

DFB.de: Die Frauen-EM wird ebenfalls verschoben. Ihre Einschätzung dazu?

Voss-Tecklenburg: Ich sehe das nicht als Zurückstellung des Frauenfußballs. In diesen herausfordernden Zeiten muss der Fußball als Ganzes solidarisch zusammenstehen. Die aktuelle Situation erfordert von den Vereinen, Verbänden, Spielerinnen und Funktionären nicht nur besondere Anstrengungen im Sinne des Zusammenhalts, sondern auch die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und Verantwortung zu übernehmen, um gemeinsam Lösungen für komplexe Sachverhalte zu finden. Es ist nachvollziehbar, die EM der Männer auf das nächste Jahr zu verschieben. Genauso alternativlos ist es auch, unsere Frauen-EM in der Folge neu zu terminieren. Wir werden unsere Planungen dementsprechend anpassen. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir auch zu einem späteren Zeitpunkt ein großartiges Turnier erleben.

DFB.de: Wie blicken Sie der Zukunft entgegen?

Voss-Tecklenburg: So schwer das gerade ist, sollte man seine positive Einstellung nicht verlieren. Und sich darauf besinnen, dass die Menschheit schon sehr viele Krisen erlebt hat und aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen ist. Es ist für uns alle eine große Herausforderung, aber ich erlebe auch bei vielen Menschen sehr viel Solidarität und Kreativität. Ich glaube, gerade jetzt braucht es auch die Starken für die Schwächeren. Ich habe vor wenigen Tagen bei der Caritas recherchiert, wie ich Senioren unterstützen kann. Jeder kann versuchen, seine Aufgabe zu finden, zu helfen, zu unterstützen in diesen schweren Zeiten. Es liegt eine Riesenchance darin, gewisse Werte, die wir verloren haben, jetzt wiederzugewinnen: nämlich als Familien und Gesellschaft achtsam miteinander umzugehen, uns gegenseitig zu unterstützen, fürsorglich und empathisch zu sein. Ich hoffe, dass wir diese Werte, wenn wir die Krise überstanden haben, auch im Alltag nicht wieder vergessen, sondern danach leben.

###more###