Vor 40 Jahren: Das Drama von Sevilla

Es gibt tausende Fußballbücher, aber nur wenige über ein Spiel. Wenn es ein Buch über ein Spiel gibt, dann muss es etwas Besonderes gehabt haben, das die Menschen bewegt hat und an das sie immer wieder gern erinnert werden wollen. Wenn es über ein Spiel zwei Bücher gibt, dann hat es Grenzen verschoben, dann muss es auch die Neugier derjenigen wecken, die es nie gesehen haben. Das WM-Halbfinale Deutschland gegen Frankreich heute vor genau 40 Jahren hat die Zeitgenossen fasziniert und scheint niemals zu enden.

Das bewies auch der Zuspruch der Veranstaltung des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund anlässlich der Sonderausstellung, die sich der "Thriller von Sevilla" verdient hatte. Neun Spieler aus dem deutschen WM-Kader von 1982 waren erschienen und erzählten den rund 150 geladenen Gästen sowie den zahlreich erschienenen Journalisten noch einmal, was in dieser magischen und für die Franzosen auch tragischen Nacht geschehen war. Der Schauspieler Peter Lohmeyer las Passagen aus dem wie ein Theaterstück geschriebenen Buch von Museumsdirektor Manuel Neukirchner ("Die Nacht von Sevilla") vor.

ZDF-Moderatorin Kathrin Müller-Hohenstein führte die Interviews mit den Protagonisten jenes Fußballdramas, die schon dem Journalisten Stephan Klemm für sein im vergangenen Herbst erschienenes, äußerst akribisches Buch "Die Nacht von Sevilla 82" zur Verfügung gestanden hatten. Denn von diesem Ereignis, das Pierre Littbarski "höher als den WM-Sieg 1990" einstufte, erzählen sie alle wieder gern.

Ein Abend der ganz großen Gefühle

Deutschland oder Frankreich – wer erreicht das Finale von Madrid? Es gab keinen Favoriten an jenem schwülwarmen Abend in Sevilla, als noch zur Anstoßzeit um 21 Uhr 33 Grad Celsius gemessen wurden. Eine leichte Brise ging vor dem Spiel, das einen Sturm entfachen sollte. Der Begeisterung und der Entrüstung. Denn es wurde ein Abend der ganz großen Gefühle.

Während sich die Franzosen von Spiel zu Spiel gesteigert hatten und alle Welt vom Zauber-Trio Platini/Giresse/Tigana schwärmte, hatte Europameister Deutschland bei dieser WM enttäuscht und viel Glück gehabt. Auch nach dem 2:1 über Gastgeber Spanien blieben die Sorgen Stammgast im deutschen Lager. Verteidiger Hans-Peter Briegel ging angeschlagen ins Spiel, er war beim Duschen ausgerutscht, zudem plagte ihn eine Magenverstimmung. Auf Weltklassestürmer Karl-Heinz Rummenigge musste Bundestrainer Jupp Derwall vorläufig verzichten, der Münchner saß angeschlagen auf der Bank. Der Oberschenkel war schon blau unterlaufen von den Einstichen der Spritzen. Derwall versprach ihm: "Wenn wir hinten liegen, kommst du rein."

Ein Drama mit langem Anlauf

Zunächst lief es gut für die Deutschen: Pierre Littbarski traf nach 15 Minuten die Latte, und kurz danach sorgte er für die Führung (18.), nach Klaus Fischers Vorarbeit war er im Nachschuss zur Stelle. Dann verursachte Bernd Förster einen Foulelfmeter an Dominique Rocheteau, den Michel Platini verwandelte (27.). 1:1 stand es zur Pause und auch nach 90 Minuten.

Das Drama nahm einen langen Anlauf, und kein Mensch würde heute wohl mehr über den sportlichen Unterhaltungswert des Halbfinales reden, wenn Manuel Amoros in der 90. Minute den Ball nur ein paar Zentimeter niedriger geschossen hätte. Aber er traf die Latte des deutschen Tores, das seit der 57. Spielminute der Buhmann des Abends hütete: Harald "Toni" Schumacher aus Köln. Er hatte den eingewechselten Franzosen Patrick Battiston in höchster Not über den Haufen gerannt, dessen Auswechslung bewirkt, aber ein Tor verhindert. Diese Szene ist kein Ruhmesblatt deutscher Fußballgeschichte, doch sie gehört zu diesem dramatischen Abend im Stadion Sánchez Pizjuán und zum Leben von Schumacher und Battiston, die bis heute darauf angesprochen werden.

Schumacher: Aussöhnung mit Battiston

Beim Herauslaufen war Schumacher mit dem Hüftknochen und voller Wucht ins Gesicht des Franzosen gesprungen. Battiston war zu Boden gegangen, aber der Ball neben das Tor. Battiston wurde vom Platz getragen, der Halswirbel war angeknackst, zwei Schneidezähne fehlten. Das war schlimm. Dass Schumacher Kaugummi kauend am Torpfosten stand, reglos und scheinbar auch sorglos, in Wahrheit aber aus Angst vor einer Eskalation, machte es noch schlimmer. "Der rechte Arm hängt schlaff herab, es sind Bewegungen da", meldete ZDF-Kommentator Rolf Kramer, der Verständnis für den Torwart hatte: "Toni Schumacher musste alles wagen. Das ist halt ab und zu drin, wenn beide Mannschaften in die Vollen gehen." Schumacher sagte später einem Journalisten den berühmten Satz: "Sagt ihm, dass ich ihm die Jacketkronen zahle." Das will er nett gemeint haben, wurde ihm aber als Zynismus ausgelegt. "Schumacher, Beruf Unmensch", schrieb L’Equipe damals.

Für alle Franzosen war es unfassbar: Das Spiel ging weiter mit Abstoß. Kein Elfmeter, wie nicht nur Vorstopper Karl-Heinz Förster im ersten Moment befürchtete, nicht mal eine Gelbe Karte wurde verhängt. Dabei war es eines der schwersten Fouls der WM-Geschichte. Schumacher hat sich eine Woche später mit Battiston in Metz ausgesöhnt. Er hatte eingesehen, dass seine Aktion einen Schatten geworfen hatte auf dieses wundervolle Fußballspiel. Aber auch nach 40 Jahren sagt er an diesem Abend in Dortmund: "Ich wollte ihn nicht verletzten, ich wollte den Ball haben. Ich habe Patrick aber auch gesagt, dass ich immer wieder so rauskommen würde."

Für Battiston war das Spiel zu Ende, und bis heute leidet er zuweilen an den Folgen des Zusammenstoßes, der sechs Kieferoperationen nötig machte. 2008 sagte er: "Der Rücken, der Hals, das Sehen. Ich habe gesundheitliche Folgen, die mich an Sevilla erinnern." Auch das deutsch-französische Verhältnis litt, in der deutschen Botschaft türmten sich die Protest- und Drohbriefe und es wurden geschmacklose Vergleiche zu den Kriegsverbrechen der Nazis in Frankreich gezogen. Ganz Frankreich schwankte zwischen Wut und Trauer.

Giresse: "Ich dachte, wir kommen ins Finale"

Für Schumacher und die Deutschen wurde es indes ein glücklicher Abend, obwohl die Mannschaft fortan gegen das aufgebrachte Publikum spielte. In der regulären Spielzeit waren die Franzosen, technisch brillant kombinierend, dem Sieg näher gewesen. Aber dem stand der schon mythische deutsche Kampfgeist entgegen, der diese Mannschaft auszeichnete. Von hinten trieb Libero Uli Stielike die Mannschaft an, und Paul Breitner stand ihm in seinem besten WM-Spiel in nichts nach.

Doch fehlte ihm sein kongenialer Partner Rummenigge. Der kühlte seinen gezerrten Oberschenkel mit Eiswürfeln, die er in den Handschuh von Ersatztorwart Eike Immel gepackt hatte. Dann endlich wurde er gebraucht. Drei Minuten waren in der Verlängerung gespielt, als Frankreichs Libero Marius Trésor nach einem Freistoß per Volleyschuss unbedrängt ein Traumtor erzielte. Das Signal für Rummenigge.

Als er aufsprang von der Bank, stöhnte Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand auf: "Mon Dieu, Rümmenisch." Der Respekt vor Europas Fußballer des Jahres war groß, trotz Verletzung hatte er auch in Spanien vier Tore geschossen. Kaum für Briegel auf dem Platz, fiel allerdings das 1:3 durch Alain Giresse. Der kleine Mann mit Schuhgröße 38 schoss die "L’Equipe tricolore" in den siebten Fußballhimmel. Fast 30 Jahre später sagte er dem Magazin 11 Freunde, was in ihm vorging: "Ich dachte, wir kommen ins Finale, wir fahren da wirklich hin. Das ist ein ganz schöner Lärm, der da im Kopf entsteht, das scheppert richtig im Schädel und übertönt alles andere."

Rummenigge kommt und trifft

Doch im Erfolg macht man die größten Fehler. Giresse gestand: "Uns fehlte das Berechnende, das man braucht, um ein Ergebnis zu halten. Das ist alles, was man uns vorwerfen kann." Er hat sich das, was nun kam, nicht mehr ansehen können bis zu dem Tag, als ihn der deutsche Journalist Klemm darum bat - fast 40 Jahre später. Giresse sah noch einmal, wie die Deutschen die ihnen zugeschriebenen Tugenden auspackten, die sie wohl für alle Zeit zu einer Turniermannschaft stempeln. Ein 1:3-Rückstand 20 Minuten vor Ablauf der Verlängerung, bei noch immer 30 Grad. "Normalerweise ist man da geneigt zu sagen, da ist nichts mehr drin, aber wir sollten dennoch die Daumen drücken", ermutigte Rolf Kramer die TV-Zuschauer.

Und als Klaus Fischer schon im Gegenzug per Kopf ein Abseitstor gelang, sah man dass die Moral intakt war. Für das, was nun kommen sollte, fand Derwall spät in der Nacht diese blumigen Worte: "Dass sich meine Mannschaft noch so steigerte, als alles schon verloren schien, war eine typisch deutsche Fähigkeit: eine Mentalität des Herzens, nie aufzustecken, nie die Dinge verloren zu geben." Darin wetteiferten sie geradezu.

Kaum einer hielt noch seine Position. Libero Uli Stielike stürmte ohne Unterlass. Sein Pass auf Linksaußen Littbarski leitete die Wende ein, denn Rummenigge sprang artistisch in die Flugbahn des Balles - und dieser vom Pfosten ins Netz. Zehn Minuten war er erst auf dem Platz, und schon hatte er Mitterands Befürchtungen bestätigt. Für Breitner, so erzählte er es gerade in Dortmund, war klar: "Wenn die das 2:3 kriegen, dann sind sie weg. Als Kalle kam, haben sie Panik gekriegt."

Schön und wichtig: Fischers Fallrückzieher zum 3:3

Die Franzosen standen in der Tat sichtlich unter Schock und nutzten die Pause in der Verlängerung voll aus, während die Deutschen schon am Anstoßkreis tänzelten. Drei Minuten später lagen sie sich in den Armen. Klaus Fischer hatte per Fallrückzieher ausgeglichen, das vielleicht schönste Tor der WM war auch "das wichtigste meiner Karriere", wie er jetzt noch einmal betonte. Frankreich, im Vorgefühl des sicheren Sieges, taumelte regelrecht ins erste Elfmeterschießen der WM-Geschichte.

Derwall suchte händeringend Schützen: Kaltz, Breitner und Rummenigge waren gesetzt, der junge Littbarski unbekümmert genug. Horst Hrubesch aber weigerte sich zunächst, er verabredete sich mit Derwall auf einen späteren Zeitpunkt. Unter den ersten Fünf wollte er partout nicht sein. So musste Stielike überredet werden, doch der Legionär von Real Madrid zauderte: "Ich wollte nicht schießen, das ist nicht meine Stärke."

Seine Ahnung trog den Libero nicht. Nachdem die ersten fünf Schützen getroffen hatten, scheiterte er als Erster, weil er während des Anlaufs versuchte, die Ecke zu wechseln. Denn ihn befiel die Furcht, dass Torwart Jean-Luc Ettori während der 28 Sekunden, die er vom Verlassen des Mittelkreises bis zum Anlauf brauchte, plötzlich "wusste, wo ich hinschießen will." Sich kreuzende Gedanken führten zu weichen Knien, zappeligen Trippelschritten und schließlich "einer Rückgabe" (Stielike). Wie ein Häufchen Elend kauerte er am Boden, vom herbeigeeilten Littbarski sogleich getröstet. Dann hauchte ihm Toni Schumacher zu: "Den nächsten halte ich."

Hrubesch: "Ich glaube, jetzt kann nichts mehr schiefgehen"

Er hatte von Reservist Hansi Müller noch einen Tipp bekommen, wohin Didier Six schießen würde, man kannte sich ja vom VfB Stuttgart. Und Schumacher hielt Ball und Wort. Selbst nach dem zehnten Schuss von Rummenigge, der leichenblass zum Punkt ging und bei sich dachte, "mir schwimmt jeden Moment das Herz weg", stand kein Sieger fest. Auch das Elfmeterschießen ging beim Stand von 4:4 in die Verlängerung. Neue Schützen mussten bestimmt werden. Die Förster-Brüder, die sonst keinen Zweikampf scheuten, winkten ab, während die Franzosen Maxime Bossis nominierten.

Der Verteidiger war schon auf Freizeit eingestellt und schoss mit heruntergerollten Stutzen. Und er schoss schlecht, Schumacher hielt fast mühelos. Nun kam Horst Hrubesch an die Reihe. Der Hamburger ließ als einziger Spieler den Ball auf dem Punkt liegen, alle anderen hatten ihn sich zurechtgerückt. Er hatte so etwas wie Gottvertrauen in diesem Moment. Vor dem Spiel fand sich ausgerechnet in seinem Spind ein aufgeklebtes Jesus-Bild, und er ahnte: "Ich glaube, jetzt kann nichts mehr schiefgehen." So traf er zum 8:7-Endstand.

Platini: "Sevilla ist meine schönste Erinnerung"

Punkt 23.40 Uhr stand Deutschland im Finale gegen Italien, das dann in Madrid 1:3 verloren wurde. Da war dann auch Bundeskanzler Helmut Schmidt vor Ort. Das Halbfinale hatte er noch am Bildschirm verfolgt, die Spannung beim Elfmeterschießen aber nicht mehr ertragen und das Zimmer verlassen. "Gucken Sie für mich weiter", befahl er Regierungssprecher Rühl. Es war kein Spiel für schwache Nerven, und es hatte eigentlich keinen Verlierer verdient. Entsprechend war der Inhalt des Telegramms, das der Kanzler seinem Amtskollegen Mitterand schickte: "Das Gottesurteil, das jedem Zweikampf getreu den klassischen Mythen eigen ist, hat gewollt, daß das Glück im Spiel auf die deutsche Seite fiel. Wir fühlen mit den Franzosen, die den Sieg ebenso verdient hatten."

Während in der deutschen Kabine Lieder gesungen wurden, vergossen die Franzosen viele Tränen. "Aber nicht, weil wir verloren hatten. Sondern weil die Spannung abfiel und weil wir so überwältigt waren von unseren Gefühlen. Ich habe nie mehr so viele Männer zugleich weinen sehen", gestand Platini, der noch Jahrzehnte später bilanzierte: "Sevilla ist meine schönste Erinnerung. Ich scherze nicht, wenn ich das sage. Weil wir an diesem Tag außergewöhnliche Emotionen aller Art durchlebten. Von Hass bis Freude, von Verzweiflung bis Glück. Alle Gefühlszustände, die es gibt, wechselten sich ab. Leider haben wir verloren. Aber ich glaube, das war nicht das Wichtigste angesichts dessen, was wir erleben durften."

Giresse sah es etwas weniger gelassen und sagte noch Jahrzehnte später: "Man kann nicht etwas auf diese Art und Weise verlieren und dann seinen Frieden damit machen. Man lebt damit, aber es ist so, als würde man einen Angehörigen verlieren und sagen: 'Ich habe ihn vergessen.' Das ist unmöglich." Auch nach 40 Jahren gilt das. Zwei aktuelle Bücher und eine Ausstellung liefern die neuesten Belege dafür, dass am 8. Juli 1982 in Sevilla große Geschichte geschrieben wurde. Eine zum Weitererzählen.

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Es gibt tausende Fußballbücher, aber nur wenige über ein Spiel. Wenn es ein Buch über ein Spiel gibt, dann muss es etwas Besonderes gehabt haben, das die Menschen bewegt hat und an das sie immer wieder gern erinnert werden wollen. Wenn es über ein Spiel zwei Bücher gibt, dann hat es Grenzen verschoben, dann muss es auch die Neugier derjenigen wecken, die es nie gesehen haben. Das WM-Halbfinale Deutschland gegen Frankreich heute vor genau 40 Jahren hat die Zeitgenossen fasziniert und scheint niemals zu enden.

Das bewies auch der Zuspruch der Veranstaltung des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund anlässlich der Sonderausstellung, die sich der "Thriller von Sevilla" verdient hatte. Neun Spieler aus dem deutschen WM-Kader von 1982 waren erschienen und erzählten den rund 150 geladenen Gästen sowie den zahlreich erschienenen Journalisten noch einmal, was in dieser magischen und für die Franzosen auch tragischen Nacht geschehen war. Der Schauspieler Peter Lohmeyer las Passagen aus dem wie ein Theaterstück geschriebenen Buch von Museumsdirektor Manuel Neukirchner ("Die Nacht von Sevilla") vor.

ZDF-Moderatorin Kathrin Müller-Hohenstein führte die Interviews mit den Protagonisten jenes Fußballdramas, die schon dem Journalisten Stephan Klemm für sein im vergangenen Herbst erschienenes, äußerst akribisches Buch "Die Nacht von Sevilla 82" zur Verfügung gestanden hatten. Denn von diesem Ereignis, das Pierre Littbarski "höher als den WM-Sieg 1990" einstufte, erzählen sie alle wieder gern.

Ein Abend der ganz großen Gefühle

Deutschland oder Frankreich – wer erreicht das Finale von Madrid? Es gab keinen Favoriten an jenem schwülwarmen Abend in Sevilla, als noch zur Anstoßzeit um 21 Uhr 33 Grad Celsius gemessen wurden. Eine leichte Brise ging vor dem Spiel, das einen Sturm entfachen sollte. Der Begeisterung und der Entrüstung. Denn es wurde ein Abend der ganz großen Gefühle.

Während sich die Franzosen von Spiel zu Spiel gesteigert hatten und alle Welt vom Zauber-Trio Platini/Giresse/Tigana schwärmte, hatte Europameister Deutschland bei dieser WM enttäuscht und viel Glück gehabt. Auch nach dem 2:1 über Gastgeber Spanien blieben die Sorgen Stammgast im deutschen Lager. Verteidiger Hans-Peter Briegel ging angeschlagen ins Spiel, er war beim Duschen ausgerutscht, zudem plagte ihn eine Magenverstimmung. Auf Weltklassestürmer Karl-Heinz Rummenigge musste Bundestrainer Jupp Derwall vorläufig verzichten, der Münchner saß angeschlagen auf der Bank. Der Oberschenkel war schon blau unterlaufen von den Einstichen der Spritzen. Derwall versprach ihm: "Wenn wir hinten liegen, kommst du rein."

Ein Drama mit langem Anlauf

Zunächst lief es gut für die Deutschen: Pierre Littbarski traf nach 15 Minuten die Latte, und kurz danach sorgte er für die Führung (18.), nach Klaus Fischers Vorarbeit war er im Nachschuss zur Stelle. Dann verursachte Bernd Förster einen Foulelfmeter an Dominique Rocheteau, den Michel Platini verwandelte (27.). 1:1 stand es zur Pause und auch nach 90 Minuten.

Das Drama nahm einen langen Anlauf, und kein Mensch würde heute wohl mehr über den sportlichen Unterhaltungswert des Halbfinales reden, wenn Manuel Amoros in der 90. Minute den Ball nur ein paar Zentimeter niedriger geschossen hätte. Aber er traf die Latte des deutschen Tores, das seit der 57. Spielminute der Buhmann des Abends hütete: Harald "Toni" Schumacher aus Köln. Er hatte den eingewechselten Franzosen Patrick Battiston in höchster Not über den Haufen gerannt, dessen Auswechslung bewirkt, aber ein Tor verhindert. Diese Szene ist kein Ruhmesblatt deutscher Fußballgeschichte, doch sie gehört zu diesem dramatischen Abend im Stadion Sánchez Pizjuán und zum Leben von Schumacher und Battiston, die bis heute darauf angesprochen werden.

Schumacher: Aussöhnung mit Battiston

Beim Herauslaufen war Schumacher mit dem Hüftknochen und voller Wucht ins Gesicht des Franzosen gesprungen. Battiston war zu Boden gegangen, aber der Ball neben das Tor. Battiston wurde vom Platz getragen, der Halswirbel war angeknackst, zwei Schneidezähne fehlten. Das war schlimm. Dass Schumacher Kaugummi kauend am Torpfosten stand, reglos und scheinbar auch sorglos, in Wahrheit aber aus Angst vor einer Eskalation, machte es noch schlimmer. "Der rechte Arm hängt schlaff herab, es sind Bewegungen da", meldete ZDF-Kommentator Rolf Kramer, der Verständnis für den Torwart hatte: "Toni Schumacher musste alles wagen. Das ist halt ab und zu drin, wenn beide Mannschaften in die Vollen gehen." Schumacher sagte später einem Journalisten den berühmten Satz: "Sagt ihm, dass ich ihm die Jacketkronen zahle." Das will er nett gemeint haben, wurde ihm aber als Zynismus ausgelegt. "Schumacher, Beruf Unmensch", schrieb L’Equipe damals.

Für alle Franzosen war es unfassbar: Das Spiel ging weiter mit Abstoß. Kein Elfmeter, wie nicht nur Vorstopper Karl-Heinz Förster im ersten Moment befürchtete, nicht mal eine Gelbe Karte wurde verhängt. Dabei war es eines der schwersten Fouls der WM-Geschichte. Schumacher hat sich eine Woche später mit Battiston in Metz ausgesöhnt. Er hatte eingesehen, dass seine Aktion einen Schatten geworfen hatte auf dieses wundervolle Fußballspiel. Aber auch nach 40 Jahren sagt er an diesem Abend in Dortmund: "Ich wollte ihn nicht verletzten, ich wollte den Ball haben. Ich habe Patrick aber auch gesagt, dass ich immer wieder so rauskommen würde."

Für Battiston war das Spiel zu Ende, und bis heute leidet er zuweilen an den Folgen des Zusammenstoßes, der sechs Kieferoperationen nötig machte. 2008 sagte er: "Der Rücken, der Hals, das Sehen. Ich habe gesundheitliche Folgen, die mich an Sevilla erinnern." Auch das deutsch-französische Verhältnis litt, in der deutschen Botschaft türmten sich die Protest- und Drohbriefe und es wurden geschmacklose Vergleiche zu den Kriegsverbrechen der Nazis in Frankreich gezogen. Ganz Frankreich schwankte zwischen Wut und Trauer.

Giresse: "Ich dachte, wir kommen ins Finale"

Für Schumacher und die Deutschen wurde es indes ein glücklicher Abend, obwohl die Mannschaft fortan gegen das aufgebrachte Publikum spielte. In der regulären Spielzeit waren die Franzosen, technisch brillant kombinierend, dem Sieg näher gewesen. Aber dem stand der schon mythische deutsche Kampfgeist entgegen, der diese Mannschaft auszeichnete. Von hinten trieb Libero Uli Stielike die Mannschaft an, und Paul Breitner stand ihm in seinem besten WM-Spiel in nichts nach.

Doch fehlte ihm sein kongenialer Partner Rummenigge. Der kühlte seinen gezerrten Oberschenkel mit Eiswürfeln, die er in den Handschuh von Ersatztorwart Eike Immel gepackt hatte. Dann endlich wurde er gebraucht. Drei Minuten waren in der Verlängerung gespielt, als Frankreichs Libero Marius Trésor nach einem Freistoß per Volleyschuss unbedrängt ein Traumtor erzielte. Das Signal für Rummenigge.

Als er aufsprang von der Bank, stöhnte Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand auf: "Mon Dieu, Rümmenisch." Der Respekt vor Europas Fußballer des Jahres war groß, trotz Verletzung hatte er auch in Spanien vier Tore geschossen. Kaum für Briegel auf dem Platz, fiel allerdings das 1:3 durch Alain Giresse. Der kleine Mann mit Schuhgröße 38 schoss die "L’Equipe tricolore" in den siebten Fußballhimmel. Fast 30 Jahre später sagte er dem Magazin 11 Freunde, was in ihm vorging: "Ich dachte, wir kommen ins Finale, wir fahren da wirklich hin. Das ist ein ganz schöner Lärm, der da im Kopf entsteht, das scheppert richtig im Schädel und übertönt alles andere."

Rummenigge kommt und trifft

Doch im Erfolg macht man die größten Fehler. Giresse gestand: "Uns fehlte das Berechnende, das man braucht, um ein Ergebnis zu halten. Das ist alles, was man uns vorwerfen kann." Er hat sich das, was nun kam, nicht mehr ansehen können bis zu dem Tag, als ihn der deutsche Journalist Klemm darum bat - fast 40 Jahre später. Giresse sah noch einmal, wie die Deutschen die ihnen zugeschriebenen Tugenden auspackten, die sie wohl für alle Zeit zu einer Turniermannschaft stempeln. Ein 1:3-Rückstand 20 Minuten vor Ablauf der Verlängerung, bei noch immer 30 Grad. "Normalerweise ist man da geneigt zu sagen, da ist nichts mehr drin, aber wir sollten dennoch die Daumen drücken", ermutigte Rolf Kramer die TV-Zuschauer.

Und als Klaus Fischer schon im Gegenzug per Kopf ein Abseitstor gelang, sah man dass die Moral intakt war. Für das, was nun kommen sollte, fand Derwall spät in der Nacht diese blumigen Worte: "Dass sich meine Mannschaft noch so steigerte, als alles schon verloren schien, war eine typisch deutsche Fähigkeit: eine Mentalität des Herzens, nie aufzustecken, nie die Dinge verloren zu geben." Darin wetteiferten sie geradezu.

Kaum einer hielt noch seine Position. Libero Uli Stielike stürmte ohne Unterlass. Sein Pass auf Linksaußen Littbarski leitete die Wende ein, denn Rummenigge sprang artistisch in die Flugbahn des Balles - und dieser vom Pfosten ins Netz. Zehn Minuten war er erst auf dem Platz, und schon hatte er Mitterands Befürchtungen bestätigt. Für Breitner, so erzählte er es gerade in Dortmund, war klar: "Wenn die das 2:3 kriegen, dann sind sie weg. Als Kalle kam, haben sie Panik gekriegt."

Schön und wichtig: Fischers Fallrückzieher zum 3:3

Die Franzosen standen in der Tat sichtlich unter Schock und nutzten die Pause in der Verlängerung voll aus, während die Deutschen schon am Anstoßkreis tänzelten. Drei Minuten später lagen sie sich in den Armen. Klaus Fischer hatte per Fallrückzieher ausgeglichen, das vielleicht schönste Tor der WM war auch "das wichtigste meiner Karriere", wie er jetzt noch einmal betonte. Frankreich, im Vorgefühl des sicheren Sieges, taumelte regelrecht ins erste Elfmeterschießen der WM-Geschichte.

Derwall suchte händeringend Schützen: Kaltz, Breitner und Rummenigge waren gesetzt, der junge Littbarski unbekümmert genug. Horst Hrubesch aber weigerte sich zunächst, er verabredete sich mit Derwall auf einen späteren Zeitpunkt. Unter den ersten Fünf wollte er partout nicht sein. So musste Stielike überredet werden, doch der Legionär von Real Madrid zauderte: "Ich wollte nicht schießen, das ist nicht meine Stärke."

Seine Ahnung trog den Libero nicht. Nachdem die ersten fünf Schützen getroffen hatten, scheiterte er als Erster, weil er während des Anlaufs versuchte, die Ecke zu wechseln. Denn ihn befiel die Furcht, dass Torwart Jean-Luc Ettori während der 28 Sekunden, die er vom Verlassen des Mittelkreises bis zum Anlauf brauchte, plötzlich "wusste, wo ich hinschießen will." Sich kreuzende Gedanken führten zu weichen Knien, zappeligen Trippelschritten und schließlich "einer Rückgabe" (Stielike). Wie ein Häufchen Elend kauerte er am Boden, vom herbeigeeilten Littbarski sogleich getröstet. Dann hauchte ihm Toni Schumacher zu: "Den nächsten halte ich."

Hrubesch: "Ich glaube, jetzt kann nichts mehr schiefgehen"

Er hatte von Reservist Hansi Müller noch einen Tipp bekommen, wohin Didier Six schießen würde, man kannte sich ja vom VfB Stuttgart. Und Schumacher hielt Ball und Wort. Selbst nach dem zehnten Schuss von Rummenigge, der leichenblass zum Punkt ging und bei sich dachte, "mir schwimmt jeden Moment das Herz weg", stand kein Sieger fest. Auch das Elfmeterschießen ging beim Stand von 4:4 in die Verlängerung. Neue Schützen mussten bestimmt werden. Die Förster-Brüder, die sonst keinen Zweikampf scheuten, winkten ab, während die Franzosen Maxime Bossis nominierten.

Der Verteidiger war schon auf Freizeit eingestellt und schoss mit heruntergerollten Stutzen. Und er schoss schlecht, Schumacher hielt fast mühelos. Nun kam Horst Hrubesch an die Reihe. Der Hamburger ließ als einziger Spieler den Ball auf dem Punkt liegen, alle anderen hatten ihn sich zurechtgerückt. Er hatte so etwas wie Gottvertrauen in diesem Moment. Vor dem Spiel fand sich ausgerechnet in seinem Spind ein aufgeklebtes Jesus-Bild, und er ahnte: "Ich glaube, jetzt kann nichts mehr schiefgehen." So traf er zum 8:7-Endstand.

Platini: "Sevilla ist meine schönste Erinnerung"

Punkt 23.40 Uhr stand Deutschland im Finale gegen Italien, das dann in Madrid 1:3 verloren wurde. Da war dann auch Bundeskanzler Helmut Schmidt vor Ort. Das Halbfinale hatte er noch am Bildschirm verfolgt, die Spannung beim Elfmeterschießen aber nicht mehr ertragen und das Zimmer verlassen. "Gucken Sie für mich weiter", befahl er Regierungssprecher Rühl. Es war kein Spiel für schwache Nerven, und es hatte eigentlich keinen Verlierer verdient. Entsprechend war der Inhalt des Telegramms, das der Kanzler seinem Amtskollegen Mitterand schickte: "Das Gottesurteil, das jedem Zweikampf getreu den klassischen Mythen eigen ist, hat gewollt, daß das Glück im Spiel auf die deutsche Seite fiel. Wir fühlen mit den Franzosen, die den Sieg ebenso verdient hatten."

Während in der deutschen Kabine Lieder gesungen wurden, vergossen die Franzosen viele Tränen. "Aber nicht, weil wir verloren hatten. Sondern weil die Spannung abfiel und weil wir so überwältigt waren von unseren Gefühlen. Ich habe nie mehr so viele Männer zugleich weinen sehen", gestand Platini, der noch Jahrzehnte später bilanzierte: "Sevilla ist meine schönste Erinnerung. Ich scherze nicht, wenn ich das sage. Weil wir an diesem Tag außergewöhnliche Emotionen aller Art durchlebten. Von Hass bis Freude, von Verzweiflung bis Glück. Alle Gefühlszustände, die es gibt, wechselten sich ab. Leider haben wir verloren. Aber ich glaube, das war nicht das Wichtigste angesichts dessen, was wir erleben durften."

Giresse sah es etwas weniger gelassen und sagte noch Jahrzehnte später: "Man kann nicht etwas auf diese Art und Weise verlieren und dann seinen Frieden damit machen. Man lebt damit, aber es ist so, als würde man einen Angehörigen verlieren und sagen: 'Ich habe ihn vergessen.' Das ist unmöglich." Auch nach 40 Jahren gilt das. Zwei aktuelle Bücher und eine Ausstellung liefern die neuesten Belege dafür, dass am 8. Juli 1982 in Sevilla große Geschichte geschrieben wurde. Eine zum Weitererzählen.

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