Vor 20 Jahren: "Hertha-Bubis" stürmen ins Pokalfinale

Ein Wiedersehen der Hauptdarsteller von 1992/1993 gab es 2003. Die nächste große Zusammenkunft ist erst zum 25. Jubiläum geplant. Aber gut möglich, dass Jochem Ziegert heute mit seiner Pokalprämie irgendwo in Berlin unterwegs ist. Den von Jörg Thomas in der Pizzeria versprochenen Oldtimer hat der 58-Jährige immer noch.

[fde]


[bild1]

Jochem Ziegert wird fast verrückt: Mittelfeldspieler Gerald Klews ist in bester Position im Strafraum des 1. FC Nürnberg. "Schieß doch", denkt Trainer Ziegert stellvertretend für die 14.000 Zuschauer im ausverkauften Mommsenstadion, "nun schieß doch endlich." Aber Klews schießt nicht. Er legt den Ball quer zu Daniel Lehmann, der ihn im Tor unterbringt. 2:1 für die Amateure von Hertha BSC in der 89. Minute. Sekunden später steht Hertha im Halbfinale des DFB-Pokals. Für Ziegert sind diese Minuten in der Rückschau der "größte Moment" einer unglaublichen Pokal-Saison.

Am 12. Juni 1993, heute vor 20 Jahren, standen die Amateure von Hertha BSC als erster Drittligist im Finale des DFB-Pokals. Sie verloren im Olympiastadion 0:1 gegen Bayer Leverkusen - hatten aber längst deutschlandweit Berühmtheit erlangt. Für die meisten der damals 18- bis 23-Jährigen war es schon im ganz jungen Fußballeralter der Karrierehöhepunkt.

In der Bundesliga etablierten sich später nur Andreas Schmidt und Torwart Christian Fiedler (beide bei Hertha) sowie vor allem Carsten Ramelow bei Bayer Leverkusen, der 2002 das Champions-League-Finale erreichte (1:2 gegen Real Madrid) und mit dem DFB-Team Vizeweltmeister wurde (0:2 gegen Brasilien).

Ramelow als A-Junior zu den Hertha-Amateure

Alles hatte im Sommer 1992 sehr klein angefangen. Hertha BSC (A), so die damalige Bezeichnung, bekam als Berliner Pokalsieger zunächst ein Freilos und dann den badischen Verbandsligisten SGK Heidelberg als Gegner. 487 Zuschauer sahen an der Osloer Straße ein 3:0. Eine Randnotiz im alljährlichen Pokal-Kreislauf.

Nach dem Sieg saßen Mannschaft und Trainer Ziegert zu einer kleinen Feier in einer Weddinger Pizzeria zusammen. Der Amateur-Vorsitzende Jörg Thomas und Ziegert unterhielten sich, als draußen ein Triumph TR6 vorbeifuhr. "Mein Traumauto", entfuhr es Ziegert beim Anblick des Oldtimers. Thomas sagte einen später noch wichtigen Satz: "Komm Du erst mal ins Endspiel. Dann kaufe ich Dir so ein Ding", wird er im Buch "Das Geheimnis unserer Pokal-Wunder" zitiert.

Das Endspiel war zu diesem Zeitpunkt noch weiter weg als Berlin von der Bundesliga. Hertha kickte mit seiner Profimannschaft mäßig erfolgreich in der 2. Liga vor ein paar Tausend Fans. Die Amateure spielten in der Oberliga Nordost, Staffel Mitte. Ein Team, das vor der Saison ein neues Gesicht bekommen hatte. Ziegert hatte Karsten Heine als Trainer abgelöst, der Assistent bei den Profis wurde. Sechs Stammkräfte waren gegangen, dafür rückten A-Jugendliche wie eben Ramelow, Fiedler oder die Zwillinge Andreas und Oliver Schmidt nach.

"Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin"

Für die dritte Runde hofften die Spieler auf einen großen Gegner. Zugelost wurde der VfB Leipzig. Die Amateure entzauberten den Zweitligisten mit 4:2. Da auch die Profis weiterkamen, war erstmals ein Verein mit zwei Mannschaften im Achtelfinale vertreten. Die erste Mannschaft verlor bei Bayer Leverkusen 0:1, die zweite lag gegen Titelverteidiger Hannover 96 0:2 hinten. Dann wurde es verrückt: Hertha schoss in elf Minuten drei Tore, André Sirocks glich für Hannover aus, doch Andreas Schmidt traf kurz vor Schluss zum 4:3. "Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin", hallte es durch die Kabine.

Ziegert schwärmt noch 20 Jahre später von der Mannschaft, deren Reise von Berlin nach Berlin noch lange nicht zu Ende sein sollte: "Sie haben immer richtig reagiert auf dem Platz. Bei taktischen Wechseln des Gegners musstest Du denen nichts vorblasen, die waren einfach gewitzt."

Das bekam auch Nürnberg zu spüren. Der Damalige Nationaltorhüter Andreas Köpke hatte vor dem Viertelfinale gesagt, dass er einen ruhigen Abend erwarte. Daraus wurde nichts, die "Hertha-Bubis", wie sie in den Medien längst hießen, siegten 2:1. Sensationell nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Tatsache, dass die Berliner die bessere Mannschaft waren, den Ausgleich in der 88. Minute wegsteckten und 60 Sekunden später den Siegtreffer erzielten.

[bild2]

"Hertha-Bubis, Ihr seid Riesen"

Die Hauptstadt war fußballerisch endgültig im Amateure-Ausnahmezustand. Über 56.000 Fans kamen am 31. März 1993 zum Halbfinale gegen den Chemnitzer FC ins Olympiastadion, für diese Kulisse brauchte die erste Mannschaft neun Partien. Wie selbstverständlich machte Ziegerts Team gegen den Zweitligisten das Spiel und führte nach 22 Minuten durch Tore von Ramelow und Sven Meyer 2:0. Nach dem Anschlusstreffer kurz vor der Pause schleppte sich der Außenseiter mit leerem Akku, aber den Zuschauern als 12., 13. und 14. Mann ins Finale.

Danach zeigten die Spieler erneut, dass sie nicht nur am Ball was drauf hatten. "Feiern konnten die Jungs richtig", sagt Ziegert. Und ausdauernd. "Nach der Party sind die einen direkt zum Frühstücksfernsehen von RTL, die anderen zu SAT.1 und ich bin zur Arbeit gegangen", sagt Ziegert, der in der Oberfinanzdirektion beschäftigt war. Die Schmidt-Zwillinge waren schon früher gegangen, sie schrieben am Tag nach dem Finaleinzug Abi-Klausuren.

Lange Zeit Hoffnung, dann trifft Kirsten

76.391 Zuschauer waren am 12. Juni im verregneten Olympiastadion dabei. "Lange, aus Bayer-Sicht viel zu lange, vermochten die Hertha-Amateure den Bundesligisten zu ärgern", schrieb die Fußball-Woche. Erst in der 77. Minute entschied Ulf Kirsten die Partie, bei den Verlierern flossen nach dem Schlusspfiff Tränen. War Schalke 2001 "Meister der Herzen", waren die Amateure schon lange vorher das Äquivalent im Pokal. "Weine nicht, wunderbare Hertha" oder "Hertha-Bubis, Ihr seid Riesen", hieß es in den Zeitungen.

Ein Wiedersehen der Hauptdarsteller von 1992/1993 gab es 2003. Die nächste große Zusammenkunft ist erst zum 25. Jubiläum geplant. Aber gut möglich, dass Jochem Ziegert heute mit seiner Pokalprämie irgendwo in Berlin unterwegs ist. Den von Jörg Thomas in der Pizzeria versprochenen Oldtimer hat der 58-Jährige immer noch.