Straßenfeger gegen Schottland: Libuda schießt DFB-Team zur WM

Der Herbst 1969 kam früher, als es den Deutschen lieb war. Nach einem welthistorisch bedeutsamen Sommer kehrte allmählich Alltag ein. In den Schaufenstern der Buchhandlungen lagen die ersten Bücher von der Mondlandung aus, der Mond selbst war in jenen Tagen von der Erde aus aber nur schwer zu erkennen. Schon am 4. Oktober legte sich eine dichte Nebelwand über Norddeutschland und machte keinerlei Anstalten zu verschwinden. 18 unendlich lange Tage gingen die Hamburger morgens im Nebel zur Arbeit und kamen abends im Nebel zurück.

Die Vorfreude auf das sportliche Großereignis des Herbstes konnte das nur unwesentlich trüben. Das entscheidende Länderspiel in der Qualifikation zur WM 1970 in Mexiko sollte heute vor genau 50 Jahren, am 22. Oktober, in ihrer Stadt stattfinden - gegen die bis dahin von Deutschland in sechs Spielen nicht zu besiegenden Schotten.

Rund 500.000 Kartenwünsche gingen beim DFB ein, doch kein Stadion der Welt ist groß genug dafür. Am 10. September 1969 gingen die Tickets in den Vorverkauf - und am 10. September 1969 waren sie auch schon weg. Alle 70.448. Der billigste Stehplatz kostete sechs Mark, der teuerste Tribünensitz 30. Wer kein Ticket bekam, konnte sich trösten, denn das ZDF übertrug live. Keine Selbstverständlichkeit in jenen Tagen.

"Magische Anziehungskraft"

Die Menschen zählten die Tage bis zum Anpfiff, und reihenweise wurden Veranstaltungen abgesetzt, die mit diesem Termin lieber nicht konkurrieren wollten. "Man muss in der Erinnerung schon weit zurückgehen, um ein Beispiel ähnlich magischer Anziehungskraft für ein Länderspiel auf deutschem Boden zu finden", schrieb der kicker.

Noch nie hatte eine deutsche Mannschaft ein WM-Qualifikationsspiel verloren, nun gab es den 22. Anlauf. Die Ausgangslage war kompliziert: Die Deutschen hatten zwei Punkte Vorsprung, nach damaliger Wertung also einen Sieg, aber auch ein Spiel mehr. Würden sie nicht gewinnen, wären sie im letzten Gruppenspiel auf die Schützenhilfe der Österreicher angewiesen, die mit einer Heimniederlage gegen die Schotten den ungeliebten Nachbarn aus dem Rennen hätten werfen können.

Es gab nun allerlei theoretische Konstellationen, aber nur einen optimalen Lösungsweg: einen Sieg. Beim 1:1 im Hinspiel hatten nur fünf Minuten gefehlt, dann hatten die Schotten Gerd Müllers Führungstor in Glasgow noch ausgeglichen und ihr Trainer Bobby Brown posaunt: "Wir haben noch nie gegen die Deutschen verloren. Weshalb eigentlich zum ersten Mal in Hamburg?"

"Schau hin, das ist dein Mann für Hamburg"

In sein Büro hatte er sich Porträts von den deutschen Spielern an die Wand gehängt, und immer wenn einer seiner Schützlinge hineinkam, deutete er auf eines und sagte: "Schau hin, das ist dein Mann für Hamburg." Spielvorbereitung in Zeiten vor Videorekorder und DVD-Player.

Kollege Helmut Schön zog den 18er-Kader wie so oft vor wichtigen Spielen in Malente zusammen. "Dort sind wir wie zu Hause", sagte der Bundestrainer und quartierte die Stars der jungen Bundesliga in Vier-Bett-Zimmern ein. Sechs Tage lang. Eine gute Gelegenheit, angebliche Dissonanzen zu bereinigen, die zwischen Hamburgern und Münchnern aufgekommen waren. Franz Beckenbauer und Willi Schulz rivalisierten teils öffentlich um den Liberoposten, Gerd Müller und Uwe Seeler um den Platz im Sturmzentrum. Denn Schön hatte den 31 Jahre alten Seeler, der 1968 bereits zurückgetreten war, zum Comeback überredet, während Müller schon an dessen Stelle getreten war.

Und wie: Am 4. Oktober hatte der Bayern-Bomber sein 100. Bundesligator erzielt - mit 23 Jahren. Schön hatte noch ganz andere Sorgen, und die hingen mit dem Nebel zusammen. Der verhinderte, dass er seinen Italien-Legionär Helmut Haller in Turin beobachten konnte, das Flugzeug durfte nicht starten. In den Zeitungen wurden derweil unscharfe Fotos gedruckt von deutschen und schottischen Nationalspielern, die in Malente und im Volksparkstadion trainierten und weder Ball noch Mitspieler erkennen konnten. DFB und FIFA machten sich am Tag vor dem Anstoß ernste Sorgen ob der Austragung. So wurde ein Worst-Case-Szenario entworfen, und als Ausweichtermin der Donnerstagnachmittag gewählt. Um 15 Uhr, glaubte man, sei der Nebel wohl nicht so dicht wie am Abend.

Libuda überraschend aufgestellt

Doch dann ging alles planmäßig am Mittwoch ab 19.30 Uhr über die Bühne, weil sich der Nebel etwas lichtete. Vor den Bildschirmen saßen 32 Millionen Deutsche. Dennoch glaubte mancher Zuschauer, nicht richtig zu sehen. Wer stand denn dort auf Rechtsaußen? Es war weder der Dortmunder Siggi Held noch der Neu-Braunschweiger Bernd Dörfel. Nein, Schön interessierten die Prognosen der Presse wenig. Er nominierte den formstarken Schalker Reinhard Libuda, den alle nur "Stan" nannten, weil er dribbeln konnte wie der legendäre Engländer Stan Matthews - und er sollte diese Entscheidung nicht bereuen. Ebenso wenig, dass er Günter Netzer auf die Bank setzte. Er wäre in diesem Kampfspiel "voll unerbittlicher Härte" (kicker) wohl der falsche Mann gewesen.

Das Stadion platzte aus allen Nähten, und manche bekamen Sitzplätze, für die es keinen Preis gab - Hunderte kauerten dicht an der Aschenbahn. Dann ging es los, der Nebel hatte sich verzogen. Dafür kam die kalte Dusche - für die Deutschen. Schon nach drei Minuten gingen die Schotten durch James Johnstone in Führung, als Sepp Maier einen Fernschuss nicht festhalten konnte, und Schöns Elf brauchte eine halbe Stunde, um das zu verdauen. Immer wieder ging es hoch her vor dem deutschen Tor, das 0:2 lag in der Luft, und die Gästefans machten sich bemerkbar.

Dann traf der Schalker Verteidiger Klaus Fichtel zum ersten und einzigen Mal im Nationaldress. Nach einer von Haller per Kopf verlängerten Libuda-Ecke sprang Fichtel der Ball im Strafraum vor die Füße und mit etwas Glück landete dieser, noch abgefälscht, im Schotten-Tor. Das 1:1 (38.) war auch der Pausenstand. Zur zweiten Hälfte kam der Schweizer Schiedsrichter Gilbert Droz im neuen Outfit, nun ganz in Schwarz. Sein helles Oberteil war in der Kabine geblieben, die Zuschauer am Bildschirm, damals gab es nur Schwarz-Weiß-Fernsehen, dankten es ihm.

Es geht auch mit Müller und Seeler

Die Schotten kamen unverändert entschlossen aufs Feld zurück und trafen binnen vier Minuten zweimal die Latte. Dann kam nach 60 Minuten das obligatorische Müller-Tor, das 2:1 fiel ausgerechnet nach Kopfballvorlage von Uwe Seeler - und Helmut Schön sah sich bestätigt. Es ging ja doch mit den beiden...

Rund 30 Zuschauer eilten in Hut und Mantel auf den Platz, um die Deutschen zu feiern. Das bekam ihnen nicht gut, schon 110 Sekunden später glückte Alan Gilzean von Tottenham, einer von vier England-Profis, per Kopf der Ausgleich, die Abwehr hatte ihn sträflich allein gelassen.

Nun kam Hektik ins Spiel, Berti Vogts und Willi Schulz wurden böse gefoult, auch Gerd Müller teilte aus und wurde verwarnt. Lokalmatador Schulz ging plötzlich ganz gebückt und erinnerte sich noch Jahrzehnte später an seine Bekanntschaft mit 1,90-Meter-Hüne Gilzean: "Der Ball war ganz woanders, da gab es einen Faustschlag auf die Leber, dass mir die Luft wegblieb. An diesem Tag habe ich gelernt: Nie näher als einen Meter an den Mann rangehen." Im Spiegel las man: "Fußball-Germanen und Kicker-Kelten bekämpften sich wie in frühgeschichtlicher Zeit vorwiegend Mann gegen Mann mit Fäusten und Füßen."

"Eine Sache für harte Männer" - und Künstler Libuda

Zum Glück wusste Stan Libuda auch in dieser Phase mit den Füßen noch etwas Besseres anzufangen. In der 79. Minute zog er nach einem Haller-Pass von der Mittellinie auf rechts los, schüttelte seinen Gegenspieler ab und erzielte mit links das ebenso herrliche wie wichtige Tor. "Ich spürte den Atem von Gemmel im Nacken", berichtete der 1996 verstorbene Libuda über seinen größten Moment im DFB-Trikot. "'Der foult', dachte ich noch und sprang hoch. Gemmel trat ins Leere. Ich lief noch ein paar Meter. Irgendwie bekam ich den Ball an ihm vorbei."

Günter Netzer, den der Bundestrainer schon zum Warmlaufen geschickt hatte, setzte sich wieder hin. Dem Höhepunkt des Abends folgte noch ein trauriger Tiefpunkt: Tommy Gemmel machte regelrecht Jagd auf Helmut Haller, trat ihm brutal in die Beine und wurde vom Platz gestellt (85.). Dann tat Droz das, was alle ersehnten: Er pfiff ab. Wieder stürmten Dutzende das Feld, darunter ein irgendwie verloren wirkender Mann im Mantel. Links trug er eine Aktentasche, rechts einen großen Blumenstrauß, den er wacker in die Höhe reckte - bloß fand er keinen Abnehmer im allgemeinen Jubelchaos. Die kollektive Erleichterung sprang am nächsten Morgen aus der Schlagzeile von Bild: "Mexiko, wir kooommen!"

Das Hamburger Abendblatt bilanzierte sachlicher: "Schön war es nicht, gut war es auch nicht. Aber dramatisch, faszinierend. Eine Sache für harte Männer." Und einen großen Künstler namens Stan Libuda, der das Tor nach Mexiko schoss und öffnete. Zur vielleicht faszinierendsten WM aller Zeiten, bei der Deutschland gleich zwei "Jahrhundertspiele" machte und auch als Dritter wie ein Weltmeister gefeiert wurde.

[um]

Der Herbst 1969 kam früher, als es den Deutschen lieb war. Nach einem welthistorisch bedeutsamen Sommer kehrte allmählich Alltag ein. In den Schaufenstern der Buchhandlungen lagen die ersten Bücher von der Mondlandung aus, der Mond selbst war in jenen Tagen von der Erde aus aber nur schwer zu erkennen. Schon am 4. Oktober legte sich eine dichte Nebelwand über Norddeutschland und machte keinerlei Anstalten zu verschwinden. 18 unendlich lange Tage gingen die Hamburger morgens im Nebel zur Arbeit und kamen abends im Nebel zurück.

Die Vorfreude auf das sportliche Großereignis des Herbstes konnte das nur unwesentlich trüben. Das entscheidende Länderspiel in der Qualifikation zur WM 1970 in Mexiko sollte heute vor genau 50 Jahren, am 22. Oktober, in ihrer Stadt stattfinden - gegen die bis dahin von Deutschland in sechs Spielen nicht zu besiegenden Schotten.

Rund 500.000 Kartenwünsche gingen beim DFB ein, doch kein Stadion der Welt ist groß genug dafür. Am 10. September 1969 gingen die Tickets in den Vorverkauf - und am 10. September 1969 waren sie auch schon weg. Alle 70.448. Der billigste Stehplatz kostete sechs Mark, der teuerste Tribünensitz 30. Wer kein Ticket bekam, konnte sich trösten, denn das ZDF übertrug live. Keine Selbstverständlichkeit in jenen Tagen.

"Magische Anziehungskraft"

Die Menschen zählten die Tage bis zum Anpfiff, und reihenweise wurden Veranstaltungen abgesetzt, die mit diesem Termin lieber nicht konkurrieren wollten. "Man muss in der Erinnerung schon weit zurückgehen, um ein Beispiel ähnlich magischer Anziehungskraft für ein Länderspiel auf deutschem Boden zu finden", schrieb der kicker.

Noch nie hatte eine deutsche Mannschaft ein WM-Qualifikationsspiel verloren, nun gab es den 22. Anlauf. Die Ausgangslage war kompliziert: Die Deutschen hatten zwei Punkte Vorsprung, nach damaliger Wertung also einen Sieg, aber auch ein Spiel mehr. Würden sie nicht gewinnen, wären sie im letzten Gruppenspiel auf die Schützenhilfe der Österreicher angewiesen, die mit einer Heimniederlage gegen die Schotten den ungeliebten Nachbarn aus dem Rennen hätten werfen können.

Es gab nun allerlei theoretische Konstellationen, aber nur einen optimalen Lösungsweg: einen Sieg. Beim 1:1 im Hinspiel hatten nur fünf Minuten gefehlt, dann hatten die Schotten Gerd Müllers Führungstor in Glasgow noch ausgeglichen und ihr Trainer Bobby Brown posaunt: "Wir haben noch nie gegen die Deutschen verloren. Weshalb eigentlich zum ersten Mal in Hamburg?"

"Schau hin, das ist dein Mann für Hamburg"

In sein Büro hatte er sich Porträts von den deutschen Spielern an die Wand gehängt, und immer wenn einer seiner Schützlinge hineinkam, deutete er auf eines und sagte: "Schau hin, das ist dein Mann für Hamburg." Spielvorbereitung in Zeiten vor Videorekorder und DVD-Player.

Kollege Helmut Schön zog den 18er-Kader wie so oft vor wichtigen Spielen in Malente zusammen. "Dort sind wir wie zu Hause", sagte der Bundestrainer und quartierte die Stars der jungen Bundesliga in Vier-Bett-Zimmern ein. Sechs Tage lang. Eine gute Gelegenheit, angebliche Dissonanzen zu bereinigen, die zwischen Hamburgern und Münchnern aufgekommen waren. Franz Beckenbauer und Willi Schulz rivalisierten teils öffentlich um den Liberoposten, Gerd Müller und Uwe Seeler um den Platz im Sturmzentrum. Denn Schön hatte den 31 Jahre alten Seeler, der 1968 bereits zurückgetreten war, zum Comeback überredet, während Müller schon an dessen Stelle getreten war.

Und wie: Am 4. Oktober hatte der Bayern-Bomber sein 100. Bundesligator erzielt - mit 23 Jahren. Schön hatte noch ganz andere Sorgen, und die hingen mit dem Nebel zusammen. Der verhinderte, dass er seinen Italien-Legionär Helmut Haller in Turin beobachten konnte, das Flugzeug durfte nicht starten. In den Zeitungen wurden derweil unscharfe Fotos gedruckt von deutschen und schottischen Nationalspielern, die in Malente und im Volksparkstadion trainierten und weder Ball noch Mitspieler erkennen konnten. DFB und FIFA machten sich am Tag vor dem Anstoß ernste Sorgen ob der Austragung. So wurde ein Worst-Case-Szenario entworfen, und als Ausweichtermin der Donnerstagnachmittag gewählt. Um 15 Uhr, glaubte man, sei der Nebel wohl nicht so dicht wie am Abend.

Libuda überraschend aufgestellt

Doch dann ging alles planmäßig am Mittwoch ab 19.30 Uhr über die Bühne, weil sich der Nebel etwas lichtete. Vor den Bildschirmen saßen 32 Millionen Deutsche. Dennoch glaubte mancher Zuschauer, nicht richtig zu sehen. Wer stand denn dort auf Rechtsaußen? Es war weder der Dortmunder Siggi Held noch der Neu-Braunschweiger Bernd Dörfel. Nein, Schön interessierten die Prognosen der Presse wenig. Er nominierte den formstarken Schalker Reinhard Libuda, den alle nur "Stan" nannten, weil er dribbeln konnte wie der legendäre Engländer Stan Matthews - und er sollte diese Entscheidung nicht bereuen. Ebenso wenig, dass er Günter Netzer auf die Bank setzte. Er wäre in diesem Kampfspiel "voll unerbittlicher Härte" (kicker) wohl der falsche Mann gewesen.

Das Stadion platzte aus allen Nähten, und manche bekamen Sitzplätze, für die es keinen Preis gab - Hunderte kauerten dicht an der Aschenbahn. Dann ging es los, der Nebel hatte sich verzogen. Dafür kam die kalte Dusche - für die Deutschen. Schon nach drei Minuten gingen die Schotten durch James Johnstone in Führung, als Sepp Maier einen Fernschuss nicht festhalten konnte, und Schöns Elf brauchte eine halbe Stunde, um das zu verdauen. Immer wieder ging es hoch her vor dem deutschen Tor, das 0:2 lag in der Luft, und die Gästefans machten sich bemerkbar.

Dann traf der Schalker Verteidiger Klaus Fichtel zum ersten und einzigen Mal im Nationaldress. Nach einer von Haller per Kopf verlängerten Libuda-Ecke sprang Fichtel der Ball im Strafraum vor die Füße und mit etwas Glück landete dieser, noch abgefälscht, im Schotten-Tor. Das 1:1 (38.) war auch der Pausenstand. Zur zweiten Hälfte kam der Schweizer Schiedsrichter Gilbert Droz im neuen Outfit, nun ganz in Schwarz. Sein helles Oberteil war in der Kabine geblieben, die Zuschauer am Bildschirm, damals gab es nur Schwarz-Weiß-Fernsehen, dankten es ihm.

Es geht auch mit Müller und Seeler

Die Schotten kamen unverändert entschlossen aufs Feld zurück und trafen binnen vier Minuten zweimal die Latte. Dann kam nach 60 Minuten das obligatorische Müller-Tor, das 2:1 fiel ausgerechnet nach Kopfballvorlage von Uwe Seeler - und Helmut Schön sah sich bestätigt. Es ging ja doch mit den beiden...

Rund 30 Zuschauer eilten in Hut und Mantel auf den Platz, um die Deutschen zu feiern. Das bekam ihnen nicht gut, schon 110 Sekunden später glückte Alan Gilzean von Tottenham, einer von vier England-Profis, per Kopf der Ausgleich, die Abwehr hatte ihn sträflich allein gelassen.

Nun kam Hektik ins Spiel, Berti Vogts und Willi Schulz wurden böse gefoult, auch Gerd Müller teilte aus und wurde verwarnt. Lokalmatador Schulz ging plötzlich ganz gebückt und erinnerte sich noch Jahrzehnte später an seine Bekanntschaft mit 1,90-Meter-Hüne Gilzean: "Der Ball war ganz woanders, da gab es einen Faustschlag auf die Leber, dass mir die Luft wegblieb. An diesem Tag habe ich gelernt: Nie näher als einen Meter an den Mann rangehen." Im Spiegel las man: "Fußball-Germanen und Kicker-Kelten bekämpften sich wie in frühgeschichtlicher Zeit vorwiegend Mann gegen Mann mit Fäusten und Füßen."

"Eine Sache für harte Männer" - und Künstler Libuda

Zum Glück wusste Stan Libuda auch in dieser Phase mit den Füßen noch etwas Besseres anzufangen. In der 79. Minute zog er nach einem Haller-Pass von der Mittellinie auf rechts los, schüttelte seinen Gegenspieler ab und erzielte mit links das ebenso herrliche wie wichtige Tor. "Ich spürte den Atem von Gemmel im Nacken", berichtete der 1996 verstorbene Libuda über seinen größten Moment im DFB-Trikot. "'Der foult', dachte ich noch und sprang hoch. Gemmel trat ins Leere. Ich lief noch ein paar Meter. Irgendwie bekam ich den Ball an ihm vorbei."

Günter Netzer, den der Bundestrainer schon zum Warmlaufen geschickt hatte, setzte sich wieder hin. Dem Höhepunkt des Abends folgte noch ein trauriger Tiefpunkt: Tommy Gemmel machte regelrecht Jagd auf Helmut Haller, trat ihm brutal in die Beine und wurde vom Platz gestellt (85.). Dann tat Droz das, was alle ersehnten: Er pfiff ab. Wieder stürmten Dutzende das Feld, darunter ein irgendwie verloren wirkender Mann im Mantel. Links trug er eine Aktentasche, rechts einen großen Blumenstrauß, den er wacker in die Höhe reckte - bloß fand er keinen Abnehmer im allgemeinen Jubelchaos. Die kollektive Erleichterung sprang am nächsten Morgen aus der Schlagzeile von Bild: "Mexiko, wir kooommen!"

Das Hamburger Abendblatt bilanzierte sachlicher: "Schön war es nicht, gut war es auch nicht. Aber dramatisch, faszinierend. Eine Sache für harte Männer." Und einen großen Künstler namens Stan Libuda, der das Tor nach Mexiko schoss und öffnete. Zur vielleicht faszinierendsten WM aller Zeiten, bei der Deutschland gleich zwei "Jahrhundertspiele" machte und auch als Dritter wie ein Weltmeister gefeiert wurde.

###more###