Schnee und "Jule": Das Wunder von Cottbus

Wer das Spiel gesehen hat, das da heute vor 25 Jahren die Menschen in den Bann zog, wird sich vor allem an eines erinnern: an den Schneesturm im April. Das Wintermärchen im Frühling gehört zu den größten Sensationen in der Geschichte des DFB-Pokals – als ein Drittligist ins Finale einzog.

Noch heute schwärmen sie in der Lausitz von jener Saison, als der FC Energie Cottbus nicht mehr aus den Schlagzeilen herauskam. Nicht nur wegen des Siegeszugs im Pokal, der zum zweiten Mal überhaupt nach den Hertha-Bubis (1993) einen Drittligisten ins Finale führte. Die Lausitzer blieben damals in 53 Pflichtspielen ungeschlagen, sicherten sich 1997 die Meisterschaft in der Regionalliga Nordost und in zwei dramatischen Entscheidungsspielen gegen Hannover 96 den Aufstieg in die 2. Liga. Und sie lieferten rührende Geschichten, für die der gestrenge Trainer Eduard Geyer freilich weniger zuständig war. Er war für die Pokalwunder, die 1996/97 in Serie gingen, verantwortlich. Die Stuttgarter Kickers, der VfL Wolfsburg, der MSV Duisburg und der FC St. Pauli – alle fuhren sie als Favorit in die Lausitz und kehrten geschlagen zurück. Zwei Zweitligisten und zwei Bundesligisten hatten sie also schon aus dem Weg geräumt. Jeweils zuhause – wie es die Regeln vorsehen.

Am 15. April 1997 machte sich mit dem Karlsruher SC der dritte Bundesligist auf den Weg in die Lausitz und Libero Thomas Hengen wusste schon vorher: "Wenn wir da rausfliegen, dann lachen sich alle kaputt." Aber so kam es heute vor 25 Jahren, an diesem Dienstagabend wurde sie geschrieben, die ganz große Pokalgeschichte inklusive eines rührenden Kapitels. Letzteres von einem bis dato unbekannten Fußballer – mit einem Edding – und sie war reichlich kurz: Er kam mit vier Buchstaben aus. Auch nach seinem großen Tag wusste man noch nicht viel von Willi Kronhardt – nur wie seine Freundin hieß. Das konnten die ARD-Zuschauer*innen an jenem Frühlingsabend, als der Schnee unentwegt vom Himmel fiel, ebenso sehen wie die 21.000 im erstmals ausverkauften Stadion der Freundschaft. "Jule" stand auf seinem Unterhemd, das er nach seinem Tor zum 1:0 (64.) einem Millionenpublikum präsentierte. Der unerschrockene Drittligist gewann durch weitere Tore von Detlef Irrgang (68.) und Toralf Konetzke (82.) sogar mit 3:0 - und das verdient angesichts eines Chancenverhältnisses von 10:4. Der Finaleinzug war natürlich begünstigt durch den frühen Platzverweis für KSC-Nationalspieler Dirk Schuster (33.), der nach einem rüden Foul an Sven Benken von Alfons Berg zum Duschen geschickt wurde. Dann nahm die Sensation ihren Lauf.

"Die richtigen Männer zur rechten Zeit am Werk"

Es war ein Tag für die Ewigkeit und einer, an dem der Pokal seine eigenen Gesetze feierte. Und ein junger Mann an die große Liebe glaubte, die doch nicht hielt. Was blieb, war ein großer Sieg. An sein Tor kann sich Kronhardt noch immer erinnern: "Melle (Jens Melzig, d. Red.) legt mir den Ball auf, ich trampel voll gegen die Kugel und der Ball geht genau in den Knick", sagte er schon 2011. Das Jule-T-Shirt fertigte er erst in der Halbzeit an, auch weil ihn schon den ganzen Tag das Gefühl beschlich "heute mache ich ein Tor". Nun war das Paar in aller Munde, Kronhardt hatte die private Grußbotschaft im Fußball erfunden und alle Boulevard-Zeitungen forschten nach, wer eigentlich Jule ist. Die Studentin aus Braunschweig, eigentlich Juliane, war etwas irritiert ob der ungewollten Popularität und kurz nach dem gegen Jogi Löws VfB Stuttgart äußerst achtbar mit 0:2 verlorenen Finale trennten sich die Wege des über Nacht berühmten Paars. Nicht jede schöne Geschichte hat eben ein happy end. Aber die Erinnerung an den großen Tag lebt in Cottbus fort – auch dank "Jule".

Natürlich erinnern sie sich noch an viel mehr dort. Es war auch der stolze Tag der Flutlichteinweihung und der Tag, als Brustsponsor "Super Illu" nur für dieses eine Spiel 150.000 DM bezahlte. Geyer knurrte nur: "Im Endspiel sind wir teurer"! Vor dem Spiel sagte er das, wohlgemerkt. Aber in jenen Tagen hielten sich die Lausitzer aus guten Gründen für unverwundbar. Sie schwebten auf einer einmaligen Erfolgswelle, die aus der heutigen Perspektive eines Viertligisten immer unfassbarer erscheint. Damals waren eben die richtigen Männer zur rechten Zeit am Werk. Präsident Dieter Krein, Manager Klaus Stabach, Trainer Eduard Geyer waren das Dreigestirn der Macht. Kurze Dienstwege, Vertrauen und Loyalität – so werden Fußballwunder gemacht. Cottbus war plötzlich der Stolz des Ostens und in aller Munde. Sportlich war es vor allem "Ede" Geyers Werk: Der frühere Verteidiger von Dynamo Dresden und letzte Auswahltrainer der DDR regierte seine Namenlosen mit harter Hand, erlaubte zwar eine Siegesfeier "aber im nächsten Training müssen sie wie Soldaten stehen!"

Das Pokalfinale war das Signal für den Aufbruch in eine stolze Ära. In Cottbus begann nun die große Zeit, mit Geyer zog man 2000 in die Bundesliga ein, wo Energie mit Unterbrechung sechs Jahre spielte. Das interessierte auch die hohe Politik. Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Nachfolgerin Angela Merkel ließen sich mal im Stadion der Freundschaft blicken. Merkel wurde im dritten Jahr ihrer Kanzlerschaft (2008) sogar Ehrenmitglied, ihr Vorgänger Schröder war "nur" einfaches Mitglied. Ein Herz für die Kleinen hatten sie offenbar beide. Alle Prominenz auf der Tribüne half nichts: 2009 begann der sukzessive Abstieg und heute, da sie viertklassig sind, denken die Fans wehmütig an die "glory days", die 1997 begannen, zurück. Ist das wirklich passiert? Ja, ist es.

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Wer das Spiel gesehen hat, das da heute vor 25 Jahren die Menschen in den Bann zog, wird sich vor allem an eines erinnern: an den Schneesturm im April. Das Wintermärchen im Frühling gehört zu den größten Sensationen in der Geschichte des DFB-Pokals – als ein Drittligist ins Finale einzog.

Noch heute schwärmen sie in der Lausitz von jener Saison, als der FC Energie Cottbus nicht mehr aus den Schlagzeilen herauskam. Nicht nur wegen des Siegeszugs im Pokal, der zum zweiten Mal überhaupt nach den Hertha-Bubis (1993) einen Drittligisten ins Finale führte. Die Lausitzer blieben damals in 53 Pflichtspielen ungeschlagen, sicherten sich 1997 die Meisterschaft in der Regionalliga Nordost und in zwei dramatischen Entscheidungsspielen gegen Hannover 96 den Aufstieg in die 2. Liga. Und sie lieferten rührende Geschichten, für die der gestrenge Trainer Eduard Geyer freilich weniger zuständig war. Er war für die Pokalwunder, die 1996/97 in Serie gingen, verantwortlich. Die Stuttgarter Kickers, der VfL Wolfsburg, der MSV Duisburg und der FC St. Pauli – alle fuhren sie als Favorit in die Lausitz und kehrten geschlagen zurück. Zwei Zweitligisten und zwei Bundesligisten hatten sie also schon aus dem Weg geräumt. Jeweils zuhause – wie es die Regeln vorsehen.

Am 15. April 1997 machte sich mit dem Karlsruher SC der dritte Bundesligist auf den Weg in die Lausitz und Libero Thomas Hengen wusste schon vorher: "Wenn wir da rausfliegen, dann lachen sich alle kaputt." Aber so kam es heute vor 25 Jahren, an diesem Dienstagabend wurde sie geschrieben, die ganz große Pokalgeschichte inklusive eines rührenden Kapitels. Letzteres von einem bis dato unbekannten Fußballer – mit einem Edding – und sie war reichlich kurz: Er kam mit vier Buchstaben aus. Auch nach seinem großen Tag wusste man noch nicht viel von Willi Kronhardt – nur wie seine Freundin hieß. Das konnten die ARD-Zuschauer*innen an jenem Frühlingsabend, als der Schnee unentwegt vom Himmel fiel, ebenso sehen wie die 21.000 im erstmals ausverkauften Stadion der Freundschaft. "Jule" stand auf seinem Unterhemd, das er nach seinem Tor zum 1:0 (64.) einem Millionenpublikum präsentierte. Der unerschrockene Drittligist gewann durch weitere Tore von Detlef Irrgang (68.) und Toralf Konetzke (82.) sogar mit 3:0 - und das verdient angesichts eines Chancenverhältnisses von 10:4. Der Finaleinzug war natürlich begünstigt durch den frühen Platzverweis für KSC-Nationalspieler Dirk Schuster (33.), der nach einem rüden Foul an Sven Benken von Alfons Berg zum Duschen geschickt wurde. Dann nahm die Sensation ihren Lauf.

"Die richtigen Männer zur rechten Zeit am Werk"

Es war ein Tag für die Ewigkeit und einer, an dem der Pokal seine eigenen Gesetze feierte. Und ein junger Mann an die große Liebe glaubte, die doch nicht hielt. Was blieb, war ein großer Sieg. An sein Tor kann sich Kronhardt noch immer erinnern: "Melle (Jens Melzig, d. Red.) legt mir den Ball auf, ich trampel voll gegen die Kugel und der Ball geht genau in den Knick", sagte er schon 2011. Das Jule-T-Shirt fertigte er erst in der Halbzeit an, auch weil ihn schon den ganzen Tag das Gefühl beschlich "heute mache ich ein Tor". Nun war das Paar in aller Munde, Kronhardt hatte die private Grußbotschaft im Fußball erfunden und alle Boulevard-Zeitungen forschten nach, wer eigentlich Jule ist. Die Studentin aus Braunschweig, eigentlich Juliane, war etwas irritiert ob der ungewollten Popularität und kurz nach dem gegen Jogi Löws VfB Stuttgart äußerst achtbar mit 0:2 verlorenen Finale trennten sich die Wege des über Nacht berühmten Paars. Nicht jede schöne Geschichte hat eben ein happy end. Aber die Erinnerung an den großen Tag lebt in Cottbus fort – auch dank "Jule".

Natürlich erinnern sie sich noch an viel mehr dort. Es war auch der stolze Tag der Flutlichteinweihung und der Tag, als Brustsponsor "Super Illu" nur für dieses eine Spiel 150.000 DM bezahlte. Geyer knurrte nur: "Im Endspiel sind wir teurer"! Vor dem Spiel sagte er das, wohlgemerkt. Aber in jenen Tagen hielten sich die Lausitzer aus guten Gründen für unverwundbar. Sie schwebten auf einer einmaligen Erfolgswelle, die aus der heutigen Perspektive eines Viertligisten immer unfassbarer erscheint. Damals waren eben die richtigen Männer zur rechten Zeit am Werk. Präsident Dieter Krein, Manager Klaus Stabach, Trainer Eduard Geyer waren das Dreigestirn der Macht. Kurze Dienstwege, Vertrauen und Loyalität – so werden Fußballwunder gemacht. Cottbus war plötzlich der Stolz des Ostens und in aller Munde. Sportlich war es vor allem "Ede" Geyers Werk: Der frühere Verteidiger von Dynamo Dresden und letzte Auswahltrainer der DDR regierte seine Namenlosen mit harter Hand, erlaubte zwar eine Siegesfeier "aber im nächsten Training müssen sie wie Soldaten stehen!"

Das Pokalfinale war das Signal für den Aufbruch in eine stolze Ära. In Cottbus begann nun die große Zeit, mit Geyer zog man 2000 in die Bundesliga ein, wo Energie mit Unterbrechung sechs Jahre spielte. Das interessierte auch die hohe Politik. Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Nachfolgerin Angela Merkel ließen sich mal im Stadion der Freundschaft blicken. Merkel wurde im dritten Jahr ihrer Kanzlerschaft (2008) sogar Ehrenmitglied, ihr Vorgänger Schröder war "nur" einfaches Mitglied. Ein Herz für die Kleinen hatten sie offenbar beide. Alle Prominenz auf der Tribüne half nichts: 2009 begann der sukzessive Abstieg und heute, da sie viertklassig sind, denken die Fans wehmütig an die "glory days", die 1997 begannen, zurück. Ist das wirklich passiert? Ja, ist es.