"Schickeria"-Fan: "Wir sind nicht die Stimmungsclowns der Logen"

Vor dem EM-Qualifikationsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Irland in Gelsenkirchen am Dienstag (ab 20.45 Uhr, live bei RTL) wird Bayern Münchens Ultragruppe "Schickeria" vom DFB mit dem Julius Hirsch Preis 2014 ausgezeichnet. DFB.de spricht zuvor mit "Schickeria"-Fan Simon Müller.

DFB.de: Herr Müller, erst mal herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Julius Hirsch Preis, den die "Schickeria" für ihre Erinnerungsarbeit an einen ehemaligen Präsidenten des FC Bayern bekommt. Wer war denn Kurt Landauer?

Simon Müller: Da müsste ich sehr weit ausholen, ich probiere es mal. Landauer war Präsident des FC Bayern München, für zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dann wieder von 1919 bis 1933, schließlich zwischen 1947 und 1951. Landauer war der erste Architekt des FC Bayern, er hat den Grundstein unserer vielen späteren Erfolge gelegt. Trotzdem geriet er in Vergessenheit.

DFB.de: Die Ultragruppe "Schickeria" hat an Landauers Leben erinnert, mittels beachteter Choreographien und weiterer Aktionen außerhalb des Stadions. Was hat Ihnen persönlich an dem Mann imponiert?

Müller: Dass er die Vereinspolitik sehr offen und kosmopolitisch ausgerichtet hat. Die Herkunft der Fußballer spielte auch vor ihm beim FC Bayern keine Rolle, doch er hat diese Haltung weiter fokussiert. Als viele andere Vereine in dumpfer Deutschtümelei stagnierten, organisierte Landauer etliche internationale Freundschaftsspiele. Wir kassierten gegen Europas Topteams ein paar Niederlagen, aber die Mannschaft wuchs spielerisch, dank des Präsidenten. Er hat internationale Trainer nach München geholt, die Mannschaft lernte neue Spielweisen. Landauers Maßnahmen gipfelten 1932 im Gewinn der ersten Deutschen Meisterschaft.

DFB.de: Was verbindet die Bayern-Ultras mit einem Mann, der vor 100 Jahren als Präsident den Klub leitete?

Müller: Er hat eine Identität des FC Bayern geschaffen, auf die wir stolz sind. Er war der Architekt der ersten Jahre. Darüber hinaus hat er diese Hingabe zu Bayern München gelebt. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet, vier seiner fünf Geschwister, trotzdem kehrte er in das Land der Täter zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er den Verein neu aufgebaut.

DFB.de: Sie haben die Meisterschaft von 1932 angesprochen – es war eine besondere Konstellation.

Müller: Bayern München traf auf Eintracht Frankfurt, beide Vereine wurden als "Judenklubs" verunglimpft, die Machtergreifung der NSDAP war in vollem Gange. Bei den Bayern standen mit dem Präsidenten Kurt Landauer, dem Trainer Richard Kohn und dem Nachwuchsleiter Otto Beer drei Menschen jüdischen Glaubens an verantwortlicher Stelle. Das Finale im Sommer 1932, das Bayern 2:0 gewann, ist ein Symbol dafür, dass der jüdische Fußball kurz vor der Schreckensherrschaft der Nazis noch einmal aufblühte.

DFB.de: Ein Jahr später war Landauer bereits zurückgetreten.

Müller: Im Wissen, dass er das Beste für den Verein tun würde, trat er als Bayern-Präsident im März 1933 zurück, rund zwei Monate nach der Machtergreifung der Nazis. Mit Siegfried Hermann übernahm ein Vertrauter seine Nachfolge. Später flüchtete Landauer in die Schweiz.

DFB.de: Schärft die Leidensgeschichte des Bayern-Ehrenpräsidenten die Sensibilität unter Münchens Fans?

Müller: Für uns als Schickeria stand früh fest, dass Kurt Landauer eine Identifikationsfigur darstellt, dass sich über sein Leben Wissen vermitteln lässt. Leuten, die sich mit dieser Zeit noch nicht beschäftigt hatten, sehr jungen Fans etwa, würde man Probleme sichtbar machen können, das war schon unsere Überlegung. Die Schickeria hat eine klare anti-rassistische Ausrichtung. Kurt Landauers Geschichte ist für uns von großer Bedeutung.

DFB.de: Für Bayern stehen unzählige Weltklassespieler auf dem Platz, einer ist der Nationalspieler und Weltmeister Jérôme Boateng, der in Berlin geboren wurde, dessen Vater aus Ghana stammt. Haben Sie schon Anfeindungen gegen Boateng in der Allianz Arena erlebt?

Müller: Nein, das habe ich nicht. Der Bundesliga-Fußball steht sehr im Scheinwerferlicht, die Spiele der Bayern ganz besonders. Und eigentlich ist es doch völlig absurd, Fan einer Topmannschaft zu sein und gleichzeitig rassistischen Überzeugungen nachzuhängen. Nur reflektieren das manche Fans nicht. Und dann läuft so ein Denken auch unterschwellig. Die Wenigsten sagen doch: "Ich bin Rassist." Das größere Problem im Fußball und in der Gesellschaft ist sicher ein latenter Rassismus.

DFB.de: Zu Landauers 125. Geburtstag inszenierte die Schickeria eine Choreographie.

Müller: Das war 2009, die Choreographie zeigte Landauers Konterfei mit dem Spruch: "Der FC Bayern war sein Leben und Nichts und Niemand konnte das ändern". Das war unsere erste große Aktion mit Kurt Landauer. Zum Erinnerungstag im deutschen Fußball in diesem Frühjahr haben wir das Thema erneut aufgegriffen.

DFB.de: Das Magazin 11Freunde zeichnete diese Choreo beim Bayern-Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt als Fanaktion des Jahres aus. Wie groß ist der Aufwand bei solch einer Choreo?

Müller: Da steckt einiges an Aufwand dahinter. Leute bereiten so eine Choreo wochenlang vor, in irgendwelchen Hallen, da wird mit Overhead-Projektoren gearbeitet und es werden riesige Stoffbahnen bemalt.

DFB.de: Ganz umsonst wird das nicht sein.

Müller: Sicher nicht, und es ist ein wichtiger Grundsatz, dass wir solche Aktionen selbst finanzieren. Das sind schon vierstellige Beträge.

DFB.de: Wie war das Feedback im Stadion?

Müller: Inzwischen schauen doch viele Leute, was in der Bayern-Kurve so los ist, darüber wird dann auch in den sozialen Medien gesprochen. Für uns ist der Höhepunkt immer die Aktion selbst. Du stehst da und hoffst, dass es klappt, und wenn es klappt, ist man von dem Bild beeindruckt, und auch stolz auf die Bayern-Fans, die so etwas geschafft haben.

DFB.de: Was geschah mit Landauer nach dem ersten Titel?

Müller: Kurt Landauer, der Macher der Meisterschaft 1932, wurde im Rahmen der Novemberpogrome verschleppt und in Dachau inhaftiert. Aufgrund seiner Verdienste als Offizier im 1. Weltkrieg, wurde er nach einiger Zeit entlassen. Er ging direkt ins Exil in die Schweiz, wo er bei einer befreundeten Familie unterkam und den Krieg überlebte. Nach der Befreiung reiste er nach München und stellte fest, dass ihn der Verein braucht. Durch seine guten Kontakte zur Stadt ermöglichte er den finanzierbaren Erwerb des Vereinsgeländes an der Säbener Straße. Ein zweites Mal also gab Kurt Landauer seinem Verein etwas mit, das in die späteren großen Erfolge mündete.

DFB.de: Bevor die Schickeria aktiv wurde, war nur wenig geschehen, um an Landauers große Verdienste zu erinnern. Hat Sie das geärgert?

Müller: Als wir vor zehn Jahren auf Landauers Geschichte stießen, dachten wir im ersten Moment schon "Hoppla, das ist unbegreifbar, dass man dem Mann nicht den Stellenwert gibt, den er verdient". Aber dann wurden wir schnell aktiv. Also veranstalteten wir jährlich das Kurt-Landauer-Fußballturnier. Wir haben wenig Zeit damit verschwendet, auf andere zu schauen.

DFB.de: Was muss man sich unter dem Turnier vorstellen?

Müller: Auf dem Turnier kommen Mitglieder unserer Gruppen, andere Bayern-Fans, Fans befreundeter Vereine, Geflüchtete und Interessierte zusammen und erleben ein Wochenende mit Fußballspielen und kulturellem Rahmenprogramm. Oft führt ein roter Faden durch das Turnier: der Münchner Widerstand gegen das Nazi-Regime, die kosmopolitische Identität Münchens, Sexismus und Homophobie, die Kommerzialisierung des Fußballs und die Kritik an dieser Entwicklung. Manche Vorträge gehören inzwischen zum Repertoire und finden in aktualisierter Form fast jährlich statt, etwa Infos über Nazis in München oder die Situation der Geflüchteten. Wichtig ist uns, dass wir alles selbst auf die Beine stellen – Essen und Trinken genauso wie das Rahmenprogramm. Das Turnier fand dieses Jahr zum neunten Mal statt, es ist ein fester Termin im Kalender unserer Gruppe.

DFB.de: Seit 2003 ist viel passiert.

Müller: Stimmt. Wir sitzen hier in der Erlebniswelt des FC Bayern, mehrere Ausstellungsstücke würdigen die Verdienste des Ehrenpräsidenten. Das glänzend geschriebene Geschichtsbuch "Der FC Bayern und seine Juden: Aufstieg und Zerschlagung einer liberalen Fußballkultur" des Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling ist neu aufgelegt erschienen. Und die ARD hat Landauers Leben verfilmt, der Film wird am Mittwoch (15. Oktober 2014) um 20.15 Uhr in der ARD laufen. Ich lege mich nicht auf eine Prozentzahl fest, aber heute wissen bei einem Heimspiel sicher viele Bayern-Fans, wer Kurt Landauer war.

DFB.de: Wer an den Holocaust erinnert, dem begegnet oft der Ruf nach dem "Wie lange noch?" Haben Sie das auch hören müssen?

Müller: Kurt Landauer als Thema bot wenig Angriffsfläche, Landauer hat da etwas Unantastbares. Unser anti-rassistisches Engagement per se wurde aber sehr wohl angegriffen, vor allem in der Anfangszeit. Uns wurde vorgeworfen, wir würden die Politik ins Stadion tragen. Dabei ist unsere Position zu Anti-Rassismus eine Antwort auf Probleme, die wir im Stadion erleben. Wir tragen hier nichts rein. Heute sind die Fankurven in der Bundesliga ein kontrollierter, überwachter Raum, hier wird nur in absoluten Ausnahmefällen rechtsextremes Gedankengut zur Schau getragen. Das heißt aber nicht, dass latenter Rassismus, Homophobie oder andere Diskriminierungen und Ausgrenzungen kein Problem mehr wären. Unser Engagement gegen Rassismus jedenfalls gehört mittlerweile wie selbstverständlich zum Klima in der Bayern-Kurve. Einen Schlussstrich darf es nicht geben.

DFB.de: Mit Blick auf Rassismus und Diskriminierung, ist die Stimmung in der Bayern-Kurve heute besser als vor zehn Jahren?

Müller: Wir hatten in München mit unserem anti-rassistischen Engagement schon einen schweren Stand, und wir mussten unsere Konflikte austragen. Unsere Ausgangslage in München war dennoch viel besser als in anderen Städten. Der Fußball existiert ja nicht losgelöst von der Gesellschaft. Wenn es in einer Stadt eine organisierte Neonazi-Szene gibt, wird sie sich auch im Stadion sichtbar machen.

DFB.de: Und sonst, wie ist die Stimmung im Stadion?

Müller: Wir sind auf einem guten Weg. Gemeinsam mit dem Klub schaffen wir Grundlagen, damit die Stimmung zukünftig noch besser wird. Wir hatten lange den kleinsten Stehplatzblock der Liga. Jetzt wurden in den Nachbarblöcken die Sitzschalen rausgenommen, endlich haben wir eine Stehplatzkurve von Eckfahne zu Eckfahne. Ich bin schon lange dabei und weiß, dass wir große Fortschritte gemacht haben.

DFB.de: Die Münchner Ultragruppe Schickeria gründete sich 2002. Wie schaut der Dialog mit dem Verein heute aus?

Müller: Recht gut, im Moment gibt es einen regen Austausch, man geht respektvoll miteinander um, das Gespräch scheint mir offen und ehrlich geführt. Das war nicht immer so.

DFB.de: Nur fünf Prozent der Ultras in München sind Frauen.

Müller: Das spiegelt einfach den Anteil an Frauen an den Besuchern in unserer Kurve wider. Für uns ist es wichtig, dass neue Mitglieder über das Interesse am Fußball, am FC Bayern und an unserer Gruppe den Weg zu uns finden – egal welchen Geschlechts sie sind. Fankultur hat immer auch mit Überhöhung und Ritualen großer Ernsthaftigkeit zu tun, da spielt die Frage der Identifikation eine große Rolle. Es dauert etwas, bis man komplett akzeptiert wird. Wir von der Schickeria wissen aber auch, dass Sexismus und Homophobie im Stadion existieren, dass hier auch ausgegrenzt und diskriminiert wird. Wir engagieren uns auch bei diesen Themen, sind uns aber auch bewusst darüber, dass wir aufgrund gesellschaftlicher Prägung auch selbst nicht komplett frei sind von Vorurteilen. Es wäre auch ziemlich vermessen, dass von sich zu behaupten. Wir sind auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel.

DFB.de: Woher kommt der Name?

Müller: Das hat lokalen Bezug, unser Name stammt aus dem Lied "Schickeria" der Band "Spider Murphy Gang". Wir meinen das schon selbstironisch, wir sind ja gerade keine Schickeria, sondern eine unangepasste, rebellische Jugendbewegung, die nicht ganz so g'schleckt daherkommt.

DFB.de: Schickeria, da denken die meisten bis heute an eine furchtbare Schlägerei mit Nürnberger Fans auf einem Autobahnrastplatz bei Würzburg. Fünf Club-Fans wurden damals im Jahr 2007 lebensbedrohlich verletzt, eine Frau ist seither auf einem Auge blind. Wegen der brutalen Gewalt haftet der Schickeria die Geschichte bis heute an.

Müller: In Würzburg wurden Grenzen überschritten. Dafür haben Leute schon viel bezahlt, aber das steht dennoch in keiner Relation zu dem, was Frau Steiner widerfahren ist. Viele junge Schickeria-Mitglieder von heute waren damals nicht dabei. Dennoch stimmt: Dieser Vorfall ist bis heute ein Teil unserer Identität.

DFB.de: Ultra-Gruppen sagen von sich, sie seien die einzig echten Fans. Ist das nicht ein Irrglaube?

Müller: Ich weiß gar nicht, ob man sagen kann, das sei eine typische Sichtweise der Ultra-Bewegung. Manche Gruppen mögen das so sehen. Für uns ist es so, dass der Respekt unter den Fans im Stadion eminent wichtig ist.

DFB.de: Kann ein echter Bayern-Fan in der VIP-Loge sitzen?

Müller: Ja natürlich, es gibt Leute, die seit Jahren mit dem Team unterwegs sind, bei allen Europacup-Auswärtsspielen. Klar sind das echte Fans. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Respekt ist keine Einbahnstraße. Wir sind nicht der Dienstleister, der im Stadion die Stimmung liefern muss. Und wir sind sicher nicht die Stimmungsclowns der Logen und Business-Seats.

DFB.de: Ultras sagen Sätze wie "Wir sind nicht der ungeliebte Teil des Events. Wir sind die Hauptsache." Klingt überheblich.

Müller: Ich bin mir nicht sicher, wo Sie das gelesen oder gehört haben. Der Mittelpunkt von allem ist natürlich das Fußballspiel. Aber richtig ist auch: Wir verstehen uns als Teil der Südkurve München und die Identität dieser Kurve ist etwas Besonderes. Der Wettstreit mit den Kurven ist ein wichtiger Teil des Spiels. Dennoch, das Zentrum ist das Spiel auf dem Platz.

DFB.de: Wenn man von 11Freunde und vom DFB ausgezeichnet wird, ist man als Jugend- und Protestbewegung dann zu sehr angekommen?

Müller: Darüber haben wir nachgedacht, da besteht definitiv ein Spannungsfeld. Wir wollten Kurt Landauer den Stellenwert geben, den er verdient hat. Da wäre es inkonsequent, in dem Moment, in dem sein Leben auf großer Bühne geehrt wird, sich diesen Preisen zu verweigern. Das ist ein Aspekt. Daneben denke ich, es ist wichtig, die Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen, dass es unterschiedliche Seiten der Ultra-Bewegung gibt. Wenn man sich nur zurückzieht und versteckt, wird man nie für die eigenen Rechte eintreten können. Wir haben Ecken und Kanten. Nicht alles, was uns ausmacht, gefällt allen im Fußball. Aber unsere akzeptierten Aktionen, wie etwa beim Anti-Rassismus, machen wir auch deshalb gut, weil wir authentisch geblieben sind.

DFB.de: Was begeistert Sie am Fußball?

Müller: Als kleiner Junge hat mich mein Vater mit ins Stadion genommen. Von Anfang an hat mich beides fasziniert, der Fußball auf dem Platz und die Fankurve. Damals von der Gegengerade aus habe ich immer auf die Südkurve geschaut. Ich wollte damals schon ein Teil davon werden.

DFB.de: In Rio beim WM-Finale standen insgesamt sieben Bayern auf dem Platz. Darf man als Schickeria-Mitglied auch Fan der deutschen Nationalmannschaft sein?

Müller: Es gibt jedenfalls keine Verbote. Ich glaube aber, das ist übersichtlich. Für uns jedenfalls steht Bayern München im Vordergrund.

"Landauer - der Präsident" am Mittwoch (ab 20.15 Uhr) in der ARD: Im Fokus des Spielfilms steht die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Kurt Landauer aus dem Exil nach München zurückkehrt und "seinen" FC Bayern wieder aufbaut. Im Anschluss sendet das BR-Fernsehen eine Dokumentation und eine Talkrunde zum Thema Kurt Landauer.

[th]

Vor dem EM-Qualifikationsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Irland in Gelsenkirchen am Dienstag (ab 20.45 Uhr, live bei RTL) wird Bayern Münchens Ultragruppe "Schickeria" vom DFB mit dem Julius Hirsch Preis 2014 ausgezeichnet. DFB.de spricht zuvor mit "Schickeria"-Fan Simon Müller.

DFB.de: Herr Müller, erst mal herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Julius Hirsch Preis, den die "Schickeria" für ihre Erinnerungsarbeit an einen ehemaligen Präsidenten des FC Bayern bekommt. Wer war denn Kurt Landauer?

Simon Müller: Da müsste ich sehr weit ausholen, ich probiere es mal. Landauer war Präsident des FC Bayern München, für zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dann wieder von 1919 bis 1933, schließlich zwischen 1947 und 1951. Landauer war der erste Architekt des FC Bayern, er hat den Grundstein unserer vielen späteren Erfolge gelegt. Trotzdem geriet er in Vergessenheit.

DFB.de: Die Ultragruppe "Schickeria" hat an Landauers Leben erinnert, mittels beachteter Choreographien und weiterer Aktionen außerhalb des Stadions. Was hat Ihnen persönlich an dem Mann imponiert?

Müller: Dass er die Vereinspolitik sehr offen und kosmopolitisch ausgerichtet hat. Die Herkunft der Fußballer spielte auch vor ihm beim FC Bayern keine Rolle, doch er hat diese Haltung weiter fokussiert. Als viele andere Vereine in dumpfer Deutschtümelei stagnierten, organisierte Landauer etliche internationale Freundschaftsspiele. Wir kassierten gegen Europas Topteams ein paar Niederlagen, aber die Mannschaft wuchs spielerisch, dank des Präsidenten. Er hat internationale Trainer nach München geholt, die Mannschaft lernte neue Spielweisen. Landauers Maßnahmen gipfelten 1932 im Gewinn der ersten Deutschen Meisterschaft.

DFB.de: Was verbindet die Bayern-Ultras mit einem Mann, der vor 100 Jahren als Präsident den Klub leitete?

Müller: Er hat eine Identität des FC Bayern geschaffen, auf die wir stolz sind. Er war der Architekt der ersten Jahre. Darüber hinaus hat er diese Hingabe zu Bayern München gelebt. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet, vier seiner fünf Geschwister, trotzdem kehrte er in das Land der Täter zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er den Verein neu aufgebaut.

DFB.de: Sie haben die Meisterschaft von 1932 angesprochen – es war eine besondere Konstellation.

Müller: Bayern München traf auf Eintracht Frankfurt, beide Vereine wurden als "Judenklubs" verunglimpft, die Machtergreifung der NSDAP war in vollem Gange. Bei den Bayern standen mit dem Präsidenten Kurt Landauer, dem Trainer Richard Kohn und dem Nachwuchsleiter Otto Beer drei Menschen jüdischen Glaubens an verantwortlicher Stelle. Das Finale im Sommer 1932, das Bayern 2:0 gewann, ist ein Symbol dafür, dass der jüdische Fußball kurz vor der Schreckensherrschaft der Nazis noch einmal aufblühte.

DFB.de: Ein Jahr später war Landauer bereits zurückgetreten.

Müller: Im Wissen, dass er das Beste für den Verein tun würde, trat er als Bayern-Präsident im März 1933 zurück, rund zwei Monate nach der Machtergreifung der Nazis. Mit Siegfried Hermann übernahm ein Vertrauter seine Nachfolge. Später flüchtete Landauer in die Schweiz.

DFB.de: Schärft die Leidensgeschichte des Bayern-Ehrenpräsidenten die Sensibilität unter Münchens Fans?

Müller: Für uns als Schickeria stand früh fest, dass Kurt Landauer eine Identifikationsfigur darstellt, dass sich über sein Leben Wissen vermitteln lässt. Leuten, die sich mit dieser Zeit noch nicht beschäftigt hatten, sehr jungen Fans etwa, würde man Probleme sichtbar machen können, das war schon unsere Überlegung. Die Schickeria hat eine klare anti-rassistische Ausrichtung. Kurt Landauers Geschichte ist für uns von großer Bedeutung.

DFB.de: Für Bayern stehen unzählige Weltklassespieler auf dem Platz, einer ist der Nationalspieler und Weltmeister Jérôme Boateng, der in Berlin geboren wurde, dessen Vater aus Ghana stammt. Haben Sie schon Anfeindungen gegen Boateng in der Allianz Arena erlebt?

Müller: Nein, das habe ich nicht. Der Bundesliga-Fußball steht sehr im Scheinwerferlicht, die Spiele der Bayern ganz besonders. Und eigentlich ist es doch völlig absurd, Fan einer Topmannschaft zu sein und gleichzeitig rassistischen Überzeugungen nachzuhängen. Nur reflektieren das manche Fans nicht. Und dann läuft so ein Denken auch unterschwellig. Die Wenigsten sagen doch: "Ich bin Rassist." Das größere Problem im Fußball und in der Gesellschaft ist sicher ein latenter Rassismus.

DFB.de: Zu Landauers 125. Geburtstag inszenierte die Schickeria eine Choreographie.

Müller: Das war 2009, die Choreographie zeigte Landauers Konterfei mit dem Spruch: "Der FC Bayern war sein Leben und Nichts und Niemand konnte das ändern". Das war unsere erste große Aktion mit Kurt Landauer. Zum Erinnerungstag im deutschen Fußball in diesem Frühjahr haben wir das Thema erneut aufgegriffen.

DFB.de: Das Magazin 11Freunde zeichnete diese Choreo beim Bayern-Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt als Fanaktion des Jahres aus. Wie groß ist der Aufwand bei solch einer Choreo?

Müller: Da steckt einiges an Aufwand dahinter. Leute bereiten so eine Choreo wochenlang vor, in irgendwelchen Hallen, da wird mit Overhead-Projektoren gearbeitet und es werden riesige Stoffbahnen bemalt.

DFB.de: Ganz umsonst wird das nicht sein.

Müller: Sicher nicht, und es ist ein wichtiger Grundsatz, dass wir solche Aktionen selbst finanzieren. Das sind schon vierstellige Beträge.

DFB.de: Wie war das Feedback im Stadion?

Müller: Inzwischen schauen doch viele Leute, was in der Bayern-Kurve so los ist, darüber wird dann auch in den sozialen Medien gesprochen. Für uns ist der Höhepunkt immer die Aktion selbst. Du stehst da und hoffst, dass es klappt, und wenn es klappt, ist man von dem Bild beeindruckt, und auch stolz auf die Bayern-Fans, die so etwas geschafft haben.

DFB.de: Was geschah mit Landauer nach dem ersten Titel?

Müller: Kurt Landauer, der Macher der Meisterschaft 1932, wurde im Rahmen der Novemberpogrome verschleppt und in Dachau inhaftiert. Aufgrund seiner Verdienste als Offizier im 1. Weltkrieg, wurde er nach einiger Zeit entlassen. Er ging direkt ins Exil in die Schweiz, wo er bei einer befreundeten Familie unterkam und den Krieg überlebte. Nach der Befreiung reiste er nach München und stellte fest, dass ihn der Verein braucht. Durch seine guten Kontakte zur Stadt ermöglichte er den finanzierbaren Erwerb des Vereinsgeländes an der Säbener Straße. Ein zweites Mal also gab Kurt Landauer seinem Verein etwas mit, das in die späteren großen Erfolge mündete.

DFB.de: Bevor die Schickeria aktiv wurde, war nur wenig geschehen, um an Landauers große Verdienste zu erinnern. Hat Sie das geärgert?

Müller: Als wir vor zehn Jahren auf Landauers Geschichte stießen, dachten wir im ersten Moment schon "Hoppla, das ist unbegreifbar, dass man dem Mann nicht den Stellenwert gibt, den er verdient". Aber dann wurden wir schnell aktiv. Also veranstalteten wir jährlich das Kurt-Landauer-Fußballturnier. Wir haben wenig Zeit damit verschwendet, auf andere zu schauen.

DFB.de: Was muss man sich unter dem Turnier vorstellen?

Müller: Auf dem Turnier kommen Mitglieder unserer Gruppen, andere Bayern-Fans, Fans befreundeter Vereine, Geflüchtete und Interessierte zusammen und erleben ein Wochenende mit Fußballspielen und kulturellem Rahmenprogramm. Oft führt ein roter Faden durch das Turnier: der Münchner Widerstand gegen das Nazi-Regime, die kosmopolitische Identität Münchens, Sexismus und Homophobie, die Kommerzialisierung des Fußballs und die Kritik an dieser Entwicklung. Manche Vorträge gehören inzwischen zum Repertoire und finden in aktualisierter Form fast jährlich statt, etwa Infos über Nazis in München oder die Situation der Geflüchteten. Wichtig ist uns, dass wir alles selbst auf die Beine stellen – Essen und Trinken genauso wie das Rahmenprogramm. Das Turnier fand dieses Jahr zum neunten Mal statt, es ist ein fester Termin im Kalender unserer Gruppe.

DFB.de: Seit 2003 ist viel passiert.

Müller: Stimmt. Wir sitzen hier in der Erlebniswelt des FC Bayern, mehrere Ausstellungsstücke würdigen die Verdienste des Ehrenpräsidenten. Das glänzend geschriebene Geschichtsbuch "Der FC Bayern und seine Juden: Aufstieg und Zerschlagung einer liberalen Fußballkultur" des Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling ist neu aufgelegt erschienen. Und die ARD hat Landauers Leben verfilmt, der Film wird am Mittwoch (15. Oktober 2014) um 20.15 Uhr in der ARD laufen. Ich lege mich nicht auf eine Prozentzahl fest, aber heute wissen bei einem Heimspiel sicher viele Bayern-Fans, wer Kurt Landauer war.

DFB.de: Wer an den Holocaust erinnert, dem begegnet oft der Ruf nach dem "Wie lange noch?" Haben Sie das auch hören müssen?

Müller: Kurt Landauer als Thema bot wenig Angriffsfläche, Landauer hat da etwas Unantastbares. Unser anti-rassistisches Engagement per se wurde aber sehr wohl angegriffen, vor allem in der Anfangszeit. Uns wurde vorgeworfen, wir würden die Politik ins Stadion tragen. Dabei ist unsere Position zu Anti-Rassismus eine Antwort auf Probleme, die wir im Stadion erleben. Wir tragen hier nichts rein. Heute sind die Fankurven in der Bundesliga ein kontrollierter, überwachter Raum, hier wird nur in absoluten Ausnahmefällen rechtsextremes Gedankengut zur Schau getragen. Das heißt aber nicht, dass latenter Rassismus, Homophobie oder andere Diskriminierungen und Ausgrenzungen kein Problem mehr wären. Unser Engagement gegen Rassismus jedenfalls gehört mittlerweile wie selbstverständlich zum Klima in der Bayern-Kurve. Einen Schlussstrich darf es nicht geben.

DFB.de: Mit Blick auf Rassismus und Diskriminierung, ist die Stimmung in der Bayern-Kurve heute besser als vor zehn Jahren?

Müller: Wir hatten in München mit unserem anti-rassistischen Engagement schon einen schweren Stand, und wir mussten unsere Konflikte austragen. Unsere Ausgangslage in München war dennoch viel besser als in anderen Städten. Der Fußball existiert ja nicht losgelöst von der Gesellschaft. Wenn es in einer Stadt eine organisierte Neonazi-Szene gibt, wird sie sich auch im Stadion sichtbar machen.

DFB.de: Und sonst, wie ist die Stimmung im Stadion?

Müller: Wir sind auf einem guten Weg. Gemeinsam mit dem Klub schaffen wir Grundlagen, damit die Stimmung zukünftig noch besser wird. Wir hatten lange den kleinsten Stehplatzblock der Liga. Jetzt wurden in den Nachbarblöcken die Sitzschalen rausgenommen, endlich haben wir eine Stehplatzkurve von Eckfahne zu Eckfahne. Ich bin schon lange dabei und weiß, dass wir große Fortschritte gemacht haben.

DFB.de: Die Münchner Ultragruppe Schickeria gründete sich 2002. Wie schaut der Dialog mit dem Verein heute aus?

Müller: Recht gut, im Moment gibt es einen regen Austausch, man geht respektvoll miteinander um, das Gespräch scheint mir offen und ehrlich geführt. Das war nicht immer so.

DFB.de: Nur fünf Prozent der Ultras in München sind Frauen.

Müller: Das spiegelt einfach den Anteil an Frauen an den Besuchern in unserer Kurve wider. Für uns ist es wichtig, dass neue Mitglieder über das Interesse am Fußball, am FC Bayern und an unserer Gruppe den Weg zu uns finden – egal welchen Geschlechts sie sind. Fankultur hat immer auch mit Überhöhung und Ritualen großer Ernsthaftigkeit zu tun, da spielt die Frage der Identifikation eine große Rolle. Es dauert etwas, bis man komplett akzeptiert wird. Wir von der Schickeria wissen aber auch, dass Sexismus und Homophobie im Stadion existieren, dass hier auch ausgegrenzt und diskriminiert wird. Wir engagieren uns auch bei diesen Themen, sind uns aber auch bewusst darüber, dass wir aufgrund gesellschaftlicher Prägung auch selbst nicht komplett frei sind von Vorurteilen. Es wäre auch ziemlich vermessen, dass von sich zu behaupten. Wir sind auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel.

DFB.de: Woher kommt der Name?

Müller: Das hat lokalen Bezug, unser Name stammt aus dem Lied "Schickeria" der Band "Spider Murphy Gang". Wir meinen das schon selbstironisch, wir sind ja gerade keine Schickeria, sondern eine unangepasste, rebellische Jugendbewegung, die nicht ganz so g'schleckt daherkommt.

DFB.de: Schickeria, da denken die meisten bis heute an eine furchtbare Schlägerei mit Nürnberger Fans auf einem Autobahnrastplatz bei Würzburg. Fünf Club-Fans wurden damals im Jahr 2007 lebensbedrohlich verletzt, eine Frau ist seither auf einem Auge blind. Wegen der brutalen Gewalt haftet der Schickeria die Geschichte bis heute an.

Müller: In Würzburg wurden Grenzen überschritten. Dafür haben Leute schon viel bezahlt, aber das steht dennoch in keiner Relation zu dem, was Frau Steiner widerfahren ist. Viele junge Schickeria-Mitglieder von heute waren damals nicht dabei. Dennoch stimmt: Dieser Vorfall ist bis heute ein Teil unserer Identität.

DFB.de: Ultra-Gruppen sagen von sich, sie seien die einzig echten Fans. Ist das nicht ein Irrglaube?

Müller: Ich weiß gar nicht, ob man sagen kann, das sei eine typische Sichtweise der Ultra-Bewegung. Manche Gruppen mögen das so sehen. Für uns ist es so, dass der Respekt unter den Fans im Stadion eminent wichtig ist.

DFB.de: Kann ein echter Bayern-Fan in der VIP-Loge sitzen?

Müller: Ja natürlich, es gibt Leute, die seit Jahren mit dem Team unterwegs sind, bei allen Europacup-Auswärtsspielen. Klar sind das echte Fans. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Respekt ist keine Einbahnstraße. Wir sind nicht der Dienstleister, der im Stadion die Stimmung liefern muss. Und wir sind sicher nicht die Stimmungsclowns der Logen und Business-Seats.

DFB.de: Ultras sagen Sätze wie "Wir sind nicht der ungeliebte Teil des Events. Wir sind die Hauptsache." Klingt überheblich.

Müller: Ich bin mir nicht sicher, wo Sie das gelesen oder gehört haben. Der Mittelpunkt von allem ist natürlich das Fußballspiel. Aber richtig ist auch: Wir verstehen uns als Teil der Südkurve München und die Identität dieser Kurve ist etwas Besonderes. Der Wettstreit mit den Kurven ist ein wichtiger Teil des Spiels. Dennoch, das Zentrum ist das Spiel auf dem Platz.

DFB.de: Wenn man von 11Freunde und vom DFB ausgezeichnet wird, ist man als Jugend- und Protestbewegung dann zu sehr angekommen?

Müller: Darüber haben wir nachgedacht, da besteht definitiv ein Spannungsfeld. Wir wollten Kurt Landauer den Stellenwert geben, den er verdient hat. Da wäre es inkonsequent, in dem Moment, in dem sein Leben auf großer Bühne geehrt wird, sich diesen Preisen zu verweigern. Das ist ein Aspekt. Daneben denke ich, es ist wichtig, die Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen, dass es unterschiedliche Seiten der Ultra-Bewegung gibt. Wenn man sich nur zurückzieht und versteckt, wird man nie für die eigenen Rechte eintreten können. Wir haben Ecken und Kanten. Nicht alles, was uns ausmacht, gefällt allen im Fußball. Aber unsere akzeptierten Aktionen, wie etwa beim Anti-Rassismus, machen wir auch deshalb gut, weil wir authentisch geblieben sind.

DFB.de: Was begeistert Sie am Fußball?

Müller: Als kleiner Junge hat mich mein Vater mit ins Stadion genommen. Von Anfang an hat mich beides fasziniert, der Fußball auf dem Platz und die Fankurve. Damals von der Gegengerade aus habe ich immer auf die Südkurve geschaut. Ich wollte damals schon ein Teil davon werden.

DFB.de: In Rio beim WM-Finale standen insgesamt sieben Bayern auf dem Platz. Darf man als Schickeria-Mitglied auch Fan der deutschen Nationalmannschaft sein?

Müller: Es gibt jedenfalls keine Verbote. Ich glaube aber, das ist übersichtlich. Für uns jedenfalls steht Bayern München im Vordergrund.

"Landauer - der Präsident" am Mittwoch (ab 20.15 Uhr) in der ARD: Im Fokus des Spielfilms steht die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Kurt Landauer aus dem Exil nach München zurückkehrt und "seinen" FC Bayern wieder aufbaut. Im Anschluss sendet das BR-Fernsehen eine Dokumentation und eine Talkrunde zum Thema Kurt Landauer.