Saison 1971/1972: Der Bundesliga-Skandal und die Folgen

Die Bundesliga wird 60. Eine der erfolgreichsten Ligen Europas steht kurz vor einem runden Jubiläum. Pünktlich dazu startet DFB.de eine neue Serie. In "60 Jahre Bundesliga" blickt der Autor und Historiker Udo Muras noch einmal auf zehn besondere Spielzeiten der deutschen Eliteklasse zurück. Heute: die Saison 1971/1972.

In die Saison, an deren Ende der strahlende EM-Triumph der vielleicht besten deutschen Nationalmannschaft stehen sollte, gingen Fans und Aktive mit gemischten Gefühlen. Schon in der Sommerpause hatte der Manipulationsskandal die Schlagzeilen beherrscht und auch als der Ball wieder rollte, nahm er seinen unheilvollen Einfluss auf das Geschehen. Das sinkende Vertrauen der Fußball-Interessierten in die Redlichkeit der fußballspielenden Profis sorgte für einen Rückgang von über 800.000 Zuschauern. Gleich an zwei Spieltagen kamen weniger als 100.000 Zuschauer in die neun Stadien, am vorletzten, als die Meisterfrage noch offen war, wurden nur 89.000 gezählt. Der Tiefpunkt: Die Partie zwischen dem VfB Stuttgart und Fortuna Düsseldorf wollten Ende Juni nur 1600 Menschen sehen. Insgesamt 17 Partien hatten maximal nur 5000 Zuschauer – und das oft in Stadien, die wegen der nahenden WM mehr als das Zehnfache fassten.

Die Ermittlungen von DFB-Chefankläger Hans Kindermann brachten immer neue Ungeheuerlichkeiten zutage und führten dazu, dass Arminia Bielefeld nach dem Geständnis des Vorstands als zweiter Zwangsabsteiger in die Bundesliga-Annalen einging. Das stand aber erst am 15. April 1972 fest, bis dahin firmierten die Ostwestfalen noch als Bundesligist. Auch Schalke 04 steckte ab Oktober 1971 tief im Sumpf, als sich die Indizien häuften, dass das Heimspiel gegen Arminia am 3. April 1971 (0:1) verkauft worden war. Es traf die Mannschaft von Trainer Ivica Horvat zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.

Heimstärke lässt Schalke vom Titel träumen

Denn die Schalker, deren Protagonisten nun häufiger vor Gericht als andere Spieler beim Arzt waren, spielten ihre beste Saison überhaupt. Mit drei Punkten Vorsprung vor den Bayern wurden sie Herbstmeister, ein 30-Meter-Schuss von Heinz van Haaren im Spitzenspiel ließ die Fans unterm Weihnachtsbaum von der Schale träumen. 22-mal waren die Königsblauen Tabellenführer, besonders dank ihrer Heimstärke. 16 Heimsiege waren ebenso Bundesligarekord wie die 555 Minuten, die Norbert Nigbur in der Vorrunde ohne Gegentor überstand.

Aber am Ende zählten die Rekorde der Bayern noch ein bisschen mehr. 55 Punkte waren ein Rekord für die Ewigkeit, in Zeiten der Zwei-Punkte-Regel (bis 1995) wurde er nicht gebrochen. Erstmals knackte ein Bundesligist die 100 Tore-Marke (101), womit der FC Bayern einen großen Anteil daran hatte, dass erstmals mehr als 1000 Saisontreffer fielen. Gerd Müller schoss davon alleine 40, mehr als Absteiger Borussia Dortmund, RW Oberhausen oder der MSV Duisburg.

Franz Beckenbauer sagte noch 2003, diese Elf sei die beste überhaupt gewesen: "Mit sechs Europameistern, mit Bulle Roth, Rainer Zobel, Johnny Hansen und ein paar anderen." Und mit Trainer Udo Lattek, der in jener Saison den Grundstein für seine Rekordsammlung an Meisterschaften (acht) legte.

Finale um die Meisterschaft im Olympiastadion

Trotz der Superlative, die die neue Fußballmacht aus dem Süden produzierte, wurde es eng mit der Meisterschaft. Der Zufall wollte es, dass am 28. Juni 1972 im ersten Bundesligaspiel im neu erbauten Münchner Olympiastadion ein klassisches Finale um die Meisterschaft stieg. Dem FC Bayern reichte ein Punkt, aber die Gastgeber wollten den 80.000 etwas bieten und gewannen gegen die am Schluss resignierenden Schalker mit 5:1. Da fehlte bereits mit Jürgen Sobieray der erste überführte Skandal-Sünder. Viele noch namhaftere Spieler wie Klaus Fischer, Rolf Rüssmann oder Klaus Fichtel sollten folgen.

Für sechs Bayern-Stars waren es dagegen glanzvolle Tage im Juni 1972, eineinhalb Wochen zuvor hatten Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Hans-Georg "Katsche" Schwarzenbeck, Paul Breitner, Uli Hoeneß und Gerd Müller in Brüssel mit der DFB-Auswahl die Europameisterschaft gewonnen. Es war schon eine bizarre Situation in jenen Tagen zwischen Glanz und Elend, zwischen einmaligen Rekorden und beschämenden Tiefpunkten. Die wenigsten Zuschauer verfolgten die meisten Tore, und während Europas Presse Deutschlands "Fußball 2000" feierte, saß die halbe Mannschaft des Vizemeisters und strahlenden Pokalsiegers (5:0 gegen Kaiserslautern) vor Gericht, das Karriereende dicht vor Augen. Hartnäckig leugneten die Schalker Bestechungsgeld (2300 Mark pro Kopf) angenommen zu haben und schworen sogar Meineide, aber der DFB-Chefankläger glaubte ihnen nicht - und der Verband verbannte alle Angeklagten aus seinen Auswahlteams.

Lange Gesichter gab es auch bei Schalkes Rivalen Borussia Dortmund, das Gründungsmitglied der Bundesliga musste nach einer indiskutablen Saison mit 83 Gegentoren, darunter elf bei den Bayern (1:11), absteigen. Dagegen prozessierte der BVB vergeblich, man hielt den Abstiegskampf wegen der Causa Bielefeld für verzerrt. Rot-Weiss Essen, 1971 abgestiegen, argumentierte genauso und wollte zurück in die Bundesliga. Das wurde abgelehnt. Was würde da noch kommen? Der Skandal schien ein Fass ohne Boden zu sein. Die Bundesliga stand 1972 am Scheideweg.

Fakten zur neunten Saison

Tore: 1006 (3,29 pro Spiel)
Torschützenkönig: Gerd Müller (Bayern München/40) Rekord
Zuschauer: 5.487.286 (17.932 pro Spiel) Minusrekord
Meister: Bayern München
Absteiger: Arminia Bielefeld, Borussia Dortmund
Aufsteiger: Wuppertaler SV, Kickers Offenbach
Trainerentlassungen: 6

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Die Bundesliga wird 60. Eine der erfolgreichsten Ligen Europas steht kurz vor einem runden Jubiläum. Pünktlich dazu startet DFB.de eine neue Serie. In "60 Jahre Bundesliga" blickt der Autor und Historiker Udo Muras noch einmal auf zehn besondere Spielzeiten der deutschen Eliteklasse zurück. Heute: die Saison 1971/1972.

In die Saison, an deren Ende der strahlende EM-Triumph der vielleicht besten deutschen Nationalmannschaft stehen sollte, gingen Fans und Aktive mit gemischten Gefühlen. Schon in der Sommerpause hatte der Manipulationsskandal die Schlagzeilen beherrscht und auch als der Ball wieder rollte, nahm er seinen unheilvollen Einfluss auf das Geschehen. Das sinkende Vertrauen der Fußball-Interessierten in die Redlichkeit der fußballspielenden Profis sorgte für einen Rückgang von über 800.000 Zuschauern. Gleich an zwei Spieltagen kamen weniger als 100.000 Zuschauer in die neun Stadien, am vorletzten, als die Meisterfrage noch offen war, wurden nur 89.000 gezählt. Der Tiefpunkt: Die Partie zwischen dem VfB Stuttgart und Fortuna Düsseldorf wollten Ende Juni nur 1600 Menschen sehen. Insgesamt 17 Partien hatten maximal nur 5000 Zuschauer – und das oft in Stadien, die wegen der nahenden WM mehr als das Zehnfache fassten.

Die Ermittlungen von DFB-Chefankläger Hans Kindermann brachten immer neue Ungeheuerlichkeiten zutage und führten dazu, dass Arminia Bielefeld nach dem Geständnis des Vorstands als zweiter Zwangsabsteiger in die Bundesliga-Annalen einging. Das stand aber erst am 15. April 1972 fest, bis dahin firmierten die Ostwestfalen noch als Bundesligist. Auch Schalke 04 steckte ab Oktober 1971 tief im Sumpf, als sich die Indizien häuften, dass das Heimspiel gegen Arminia am 3. April 1971 (0:1) verkauft worden war. Es traf die Mannschaft von Trainer Ivica Horvat zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.

Heimstärke lässt Schalke vom Titel träumen

Denn die Schalker, deren Protagonisten nun häufiger vor Gericht als andere Spieler beim Arzt waren, spielten ihre beste Saison überhaupt. Mit drei Punkten Vorsprung vor den Bayern wurden sie Herbstmeister, ein 30-Meter-Schuss von Heinz van Haaren im Spitzenspiel ließ die Fans unterm Weihnachtsbaum von der Schale träumen. 22-mal waren die Königsblauen Tabellenführer, besonders dank ihrer Heimstärke. 16 Heimsiege waren ebenso Bundesligarekord wie die 555 Minuten, die Norbert Nigbur in der Vorrunde ohne Gegentor überstand.

Aber am Ende zählten die Rekorde der Bayern noch ein bisschen mehr. 55 Punkte waren ein Rekord für die Ewigkeit, in Zeiten der Zwei-Punkte-Regel (bis 1995) wurde er nicht gebrochen. Erstmals knackte ein Bundesligist die 100 Tore-Marke (101), womit der FC Bayern einen großen Anteil daran hatte, dass erstmals mehr als 1000 Saisontreffer fielen. Gerd Müller schoss davon alleine 40, mehr als Absteiger Borussia Dortmund, RW Oberhausen oder der MSV Duisburg.

Franz Beckenbauer sagte noch 2003, diese Elf sei die beste überhaupt gewesen: "Mit sechs Europameistern, mit Bulle Roth, Rainer Zobel, Johnny Hansen und ein paar anderen." Und mit Trainer Udo Lattek, der in jener Saison den Grundstein für seine Rekordsammlung an Meisterschaften (acht) legte.

Finale um die Meisterschaft im Olympiastadion

Trotz der Superlative, die die neue Fußballmacht aus dem Süden produzierte, wurde es eng mit der Meisterschaft. Der Zufall wollte es, dass am 28. Juni 1972 im ersten Bundesligaspiel im neu erbauten Münchner Olympiastadion ein klassisches Finale um die Meisterschaft stieg. Dem FC Bayern reichte ein Punkt, aber die Gastgeber wollten den 80.000 etwas bieten und gewannen gegen die am Schluss resignierenden Schalker mit 5:1. Da fehlte bereits mit Jürgen Sobieray der erste überführte Skandal-Sünder. Viele noch namhaftere Spieler wie Klaus Fischer, Rolf Rüssmann oder Klaus Fichtel sollten folgen.

Für sechs Bayern-Stars waren es dagegen glanzvolle Tage im Juni 1972, eineinhalb Wochen zuvor hatten Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Hans-Georg "Katsche" Schwarzenbeck, Paul Breitner, Uli Hoeneß und Gerd Müller in Brüssel mit der DFB-Auswahl die Europameisterschaft gewonnen. Es war schon eine bizarre Situation in jenen Tagen zwischen Glanz und Elend, zwischen einmaligen Rekorden und beschämenden Tiefpunkten. Die wenigsten Zuschauer verfolgten die meisten Tore, und während Europas Presse Deutschlands "Fußball 2000" feierte, saß die halbe Mannschaft des Vizemeisters und strahlenden Pokalsiegers (5:0 gegen Kaiserslautern) vor Gericht, das Karriereende dicht vor Augen. Hartnäckig leugneten die Schalker Bestechungsgeld (2300 Mark pro Kopf) angenommen zu haben und schworen sogar Meineide, aber der DFB-Chefankläger glaubte ihnen nicht - und der Verband verbannte alle Angeklagten aus seinen Auswahlteams.

Lange Gesichter gab es auch bei Schalkes Rivalen Borussia Dortmund, das Gründungsmitglied der Bundesliga musste nach einer indiskutablen Saison mit 83 Gegentoren, darunter elf bei den Bayern (1:11), absteigen. Dagegen prozessierte der BVB vergeblich, man hielt den Abstiegskampf wegen der Causa Bielefeld für verzerrt. Rot-Weiss Essen, 1971 abgestiegen, argumentierte genauso und wollte zurück in die Bundesliga. Das wurde abgelehnt. Was würde da noch kommen? Der Skandal schien ein Fass ohne Boden zu sein. Die Bundesliga stand 1972 am Scheideweg.

Fakten zur neunten Saison

Tore: 1006 (3,29 pro Spiel)
Torschützenkönig: Gerd Müller (Bayern München/40) Rekord
Zuschauer: 5.487.286 (17.932 pro Spiel) Minusrekord
Meister: Bayern München
Absteiger: Arminia Bielefeld, Borussia Dortmund
Aufsteiger: Wuppertaler SV, Kickers Offenbach
Trainerentlassungen: 6

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