Rückkehr auf die Fußball-Weltbühne

Am Montag vor genau 60 Jahren fand das erste deutsche Länderspiel nach dem Krieg statt, es war die Nummer 199 seit dem ersten Anpfiff im April 1908. Mit dem 1:0 vor weit mehr als 100.000 Zuschauern in Stuttgart gegen die Schweiz kehrte die deutsche Nationalmannschaft auf die internationale Bühne zurück, auf der sie keine vier Jahre später in Bern der Hauptdarsteller im WM-Finale werden sollte. Der Autor und Historiker Udo Muras hat für DFB.de in die Geschichtsbücher geschaut.

An einem Sonntagmorgen im August 1950 setzte sich Sepp Herberger an die Schreibmaschine und tippte sich den Kummer von der Seele. Bis zum Kriegsende war er der Reichstrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft gewesen, und mit Jahresbeginn hatte er nach seiner offiziellen Denazifizierung seinen Posten zurückbekommen - nun als Bundestrainer. Aber wessen Trainer eigentlich?

Noch immer hatte er keine Mannschaft, die offizielle Länderspiele austragen durfte. Gerade hatte er zu zwei Vorbereitungslehrgängen auf die noch utopische Premiere eingeladen, 24 Kandidaten spielten in Duisburg vor, und „Rot-Weiß“ mit den Walter-Brüdern hatte „Schwarz-Weiß“ 7:3 besiegt. Aber die Vereine taten sich schwer, die Spieler für solche „Späßchen“ abzustellen, denn wofür eigentlich? Auch Herberger sehnte sich nach „richtigen“ Gegnern, sei es „eine Regional- oder Vereinsmannschaft“.

Und so schrieb er am Morgen nach einem solchen Lehrgang: „Es sind ernste Gedanken und wachsende Sorgen, die mich mehr und mehr befallen… Ich sehe schwarz für die Zukunft der Nationalmannschaft!“ Er hat den in seinen Unterlagen erhaltenen Brief an DFB-Generalsekretär Georg Xandry nie abgeschickt – und das war auch besser so.

Länderspiel Nummer 199 seit dem Anpfiff 1908

Denn bereits dreieinhalb Monate später wurde ihm ein beeindruckender Beweis dafür geliefert, dass die deutsche Nationalmannschaft sehr wohl eine Zukunft haben würde. Heute vor genau 60 Jahren fand das erste deutsche Länderspiel nach dem Krieg statt, es war die Nummer 199 seit dem ersten Anpfiff im April 1908 – und 643 sollten bis jetzt folgen.

Drei Welt- und Europameisterschaften hat die DFB-Auswahl seitdem errungen und weltweit einen legendären Ruf – jenen, eine Turniermannschaft zu sein, die nie aufgibt. In Stuttgart wurde die Basis für all das gelegt. Die Premiere endete mit einem schmucklosen 1:0 über die Schweiz, aber das Ergebnis war das Unwichtigste an diesem neblig-trübem Buß- und Bettag 1950.

Dabeisein war alles in jenen Tagen der Demut in einem Land, das voller Menschen war, die den gebückten Gang übten. Ein Jahr zuvor erst hatten die westlichen Siegermächte die Industrie-Demontagen im Petersberger Abkommen offiziell eingestellt. Das war der erste Schritt zum Wiederaufbau. Aber auch die Moral musste wieder aufgebaut werden.

Offiziell 96.400 Zuschauer in Stuttgart

Das große Interesse am ersten Nachkriegsländerspiel dokumentiert die Sehnsucht der Menschen nach ein bisschen Abwechslung vom tristen Alltag und dem Wunsch, wieder ein respektierter Teil der Völkergemeinschaft sein zu dürfen.

Die Sehnsucht fand Ausdruck in einer gigantischen Kulisse: Obwohl es nur ein Freundschaftsspiel gewesen ist, haben bis heute nie mehr Menschen der Nationalmannschaft bei einem Heimspiel zugesehen – auch wenn keiner zu sagen vermag wie viele es denn überhaupt gewesen sind.

Der DFB meldete offiziell 96.400 Zuschauer, was schon Rekord gewesen wäre, aber die zeitgenössischen Schätzungen schwanken zwischen 103.000 und 120.000. Jedenfalls waren es viel zu viele für das Stuttgarter Neckarstadion, das offiziell 80.000 Plätze auswies, an diesem Tag aber durch eine 17-stufige Stahlrohrtribüne aus München für 16.000 Menschen verstärkt worden war.

Mit dem Bolzenschneider Zugang verschafft

Mancher verschaffte sich mit dem Bolzenschneider Zugang, der SID meldete damals, dass Menschen „durch Zerschneiden der Stadionumzäunung“ das Gelände geentert hätten. Die Menschen standen dicht gedrängt bis zum Spielfeldrand, und der Schalker Berni Klodt musste sie stets bitten zurückzuweichen, als er seine Ecken trat. Alle wollten eben dabei sein bei der historischen Stunde, lange genug hatten sie gewartet.

Schon wenige Wochen nach Kriegsende wurde zwar überall im Land wieder gegen den Ball getreten, aber der Weltverband FIFA, der Deutschland nach dem Zusammenbruch folgerichtig ausgeschlossen hatte, verbot internationale Spiele mit den Kriegsverbrechern. Das traf vorerst nur die Vereine, denn da es bis 1949 noch keinen deutschen Staat gab, konnte es sowieso keine Nationalmannschaft und daher keine Länderspiele geben.

Herberger wieder mit einem Job

Als sich die Teilung Deutschlands in Ost und West abzeichnete, wurde alles anders. Schon 1948 wurde in den westlichen Besatzungszonen ein Deutscher Meister ausgespielt, und schon bald nach Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 erstand auch der DFB Anfang 1950 wieder aus den Trümmern - und Sepp Herberger hatte wieder einen Job als Bundestrainer.

Doch gegen wen sollte eine Nationalmannschaft eigentlich spielen in einer Zeit, in der die internationale Gemeinschaft den Deutschen nicht wohlgesonnen war? Als Schweizer Städteteams schon 1948 den Boykott brachen und nach München, Stuttgart und Karlsruhe fuhren, ernteten sie international viel Kritik: „Nein, Schweizer, das war falsch von euch, das war geschmacklos. Europa blutet noch aus tausenden, durch die Deutschen geschlagenen Wunden, und in zehntausenden Familien herrscht noch Trauer“, schrieb eine niederländische Zeitung.

Als der Hamburger SV im Januar 1950 nach New York eingeladen worden war, wurden die Spieler beim Rathausempfang von Jugendlichen mit Eiern und Obst beworfen. Zwölf Jahre Hitler-Terror waren nicht in fünf Jahren vergessen und verziehen.

Mangel an Freiwilligen

Aber als die FIFA auf besonderes Drängen der Schweizer und Amerikaner am 22. September 1950 in Brüssel den Bann aufhob, durfte die Welt wieder mit Deutschland spielen. An Freiwilligen mangelte es zwar noch, aber die Schweiz, im Krieg neutral und dem DFB seit jeher verbunden – sie war 1908 der allererste Gegner –, machte den Anfang. Und so standen Ort, Zeit und Gegner schnell fest: Stuttgart, 22. November, 14.30 Uhr gegen die Schweiz. DFB-Präsident Dr. Peco Bauwens sprach von einem „großen bewegenden Ereignis“.

Die Aufregung war groß im Land, in die Vorfreude mischte sich Ärger: Viele Menschen waren enttäuscht, dass das Spiel an einem Werktag stattfand, der Buß- und Bettag war kein gesetzlicher Feiertag in der jungen Bundesrepublik, die der mit einer Stimme Mehrheit gewählte Konrad Adenauer (CDU) im Bundestag regierte.

Unterhaltungsmusik und Märchen statt erster Halbzeit

Auch der Rundfunk trug der Begeisterung nicht genügend Rechnung, die Sendeanstalten übertrugen nur die zweite Halbzeit. Unterhaltungsmusik (Süddeutscher Rundfunk), Funkmärchen (Hessischer Rundfunk), ein Reisebericht aus der Türkei (SWF) und Kammermusik (Bremen) gingen vor, ehe Herbert Zimmermann und Rainer Günzler ab 15.15 Uhr ans Mikrofon durften.

Die Fußballfans machten ihrem Unmut im Vorfeld in Leserbriefen Luft, von „Rumpf-Funk statt Rundfunk“ war da zu lesen. Fernsehen gab es noch nicht. Immerhin waren die Eintrittspreise bezahlbar: von 50 Pfennig für Studenten und Schüler bis sieben Mark für den besten Tribünenplatz. Zum Vergleich: Eine Tageszeitung kostete damals 15 Pfennig.

Nur ein Norddeutscher im Kader

Sepp Herberger zog seine 19 Kandidaten schon eine Woche vor der Partie im schwäbischen Murrhardt zusammen, nachdem er zuvor noch in Frankfurt eine legendäre Pressekonferenz abgehalten hatte. Er soll über eine Stunde ununterbrochen geredet haben und bei dem Satz „Wer in der Nationalmannschaft spielt, muss 90 Minuten brennen, ohne zu verbrennen“, bekamen auch alt gediente Reporter eine Gänsehaut.

Kritik erntete er dennoch, weil er mit dem Bremer Herbert Burdenski nur einen Norddeutschen nominiert hatte und sich sein Kader durch eine gewisse Süd-Lastigkeit auszeichnete. Der HSV war nicht vertreten, auch Hannover 96 und Preußen Münster nicht - dafür aber der kleine VfL Neckarau.

Und was bitte sollte der kleine Bruder von Fritz Walter, Ottmar, im Kader? Das sah nach Vetternwirtschaft aus: Herberger war schließlich sogar Trauzeuge von Fritz Walter. So bekam der Bundestrainer gleich zum Wiederbeginn zu spüren, dass er den schönsten und schwierigsten Beruf zugleich im Fußball hatte.

Einige Personalsorgen für Herberger

Personalsorgen plagten ihn auch: Torwart Toni Turek, Jackl Streitle, der einzige Bayern-Spieler, der Fürther Torjäger Horst Schade und vor allem sein Kapitän Fritz Walter waren angeschlagen. Dessen Lauterer Klubkamerad Werner Liebrich, auch ein kommender Weltmeister, wurde kurzfristig per Telefon gestrichen, weil er wegen angeblicher Körperverletzung zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt worden war und man Herberger das verschwiegen hatte.

Als die Mannschaften an jenem November-Mittwoch um kurz vor halb drei nach einem Vorspiel der Stuttgarter Jugendteams von VfB und Kickers einliefen, hatten viele Zuschauer schon einen stundenlangen harten Kampf hinter sich. Sie alle hörten den Stadionsprecher unentwegt schwäbeln: „Rückts no e bisse zamm.“ Leicht gesagt, es war das reinste Chaos.

Auf den überfüllten Rängen kam es zu Unfällen, da auf dem Schlammboden kaum Halt zu finden war, Wellenbrecher gab es keine. In Leserbriefen war von ruinierten Schuhen und Hosen die Rede, ein Mann aus Tübingen zog diesen Vergleich: „Wir sahen nicht anders aus wie Infanteristen nach schwierigster Geländeübung“. Man zählte hinterher, auch durch das entstehende Verkehrschaos, über 300 Verletzte, 72 schwere Unfälle und 38 Krankenhauseinlieferungen.

Schweigeminute für Kriegsopfer statt deutscher Hymne

Als die Schweizer Hymne gespielt wurde, war es auf den Stehrängen zu eng, um den Hut zu ziehen, so dass es in manchen Fällen der Hintermann für einen tat und, so ein Augenzeuge, „man sich gegenseitig aus der Verlegenheit half“.

Das neue Deutschland hatte keine Hymne, stattdessen gab es eine ergreifende Schweigeminute für die Opfer des Krieges. „Totenstille herrscht im weiten Rund der 115.000, die entblößten und gesenkten Hauptes dastanden. Die ganzen schweren Ereignisse der letzten 15 Jahre zogen wie ein Film an unseren geistigen Augen vorüber. Wir dachten voller Trauer daran, dass bei diesem Länderspiel ja nur das halbe Deutschland vertreten war“, schrieb das Sport Magazin.

Max Morlock ersetzt Fritz Walter

Das halbe Deutschland war immerhin stark genug, um zu gewinnen, was überraschte. Die Neue Zeitung schrieb noch am Spieltag: „Papiermäßig liegen, trotz des Platznachteils und gewisser psychologischer Vorteile für Deutschland die größeren Chancen zu siegen auf der Seite der Schweiz, und auch wir rechnen – mit einer leisen Hoffnung auf ein Unentschieden – mit einem Erfolg der Eidgenossen.“

Zumal der Genius Fritz Walter tatsächlich fehlte, am linken Knie verletzt und von einem kritischen Artikel in einer Stuttgarter Zeitung am Vortag schwer getroffen. Der Schreiber forderte einigermaßen gehässig, dass nur ein gesunder Walter spielen dürfe, und das setzte dem sensiblen Kaiserslauterer stark zu.

Die Frankfurter Rundschau schrieb gar von einem „Nervenzusammenbruch“, aber für Herberger gaben einzig die Trainingseindrücke am Dienstag den Ausschlag: Da quälte sich Fritz Walter sehr beim Flankenschlagen, und der Chef sagte deshalb dem Nürnberger Morlock: „Max, Sie spielen!“

Acht Debütanten, ein Tor

So schickte Herberger auf den Tag genau acht Jahre nach dem letzten Länderspiel im Krieg (5:2 in Pressburg gegen die Slowakei) acht Debütanten ins Rennen, nur Kapitän Andreas Kupfer (Schweinfurt 05), Herbert Burdenski (Werder) und Jakob Streitle (FC Bayern) hatten schon vor dem Krieg Länderspiele bestritten. Dennoch war es eine erfahrene Elf mit einem Durchschnittsalter von 28,8 Jahren.

Die Zukunft gehörte ihr nicht, aber der so ungeheuer bedeutende Moment. Das einzige Tor erzielte der Bremer Herbert Burdenski per Handelfmeter kurz vor der Pause - fast ein wenig gezwungenermaßen. Denn von Streitle wurde Burdenski beinahe zum Elfmeterpunkt getrieben, da auch die als potenzielle Schützen vorgesehenen Morlock und Ottmar Walter sich nicht aufdrängten.

Und weil die Stürmer beider Seiten nicht den besten Tag auf tiefem Schlammboden hatten, blieb es trotz zahlreicher Torschüsse beim 1:0 für die Deutschen. Ottmar Walter, mit Pfiffen empfangen, hatte mit seinem Kopfball immerhin den Elfmeter herausgeholt. Der einzige noch lebende Teilnehmer des Spiels kann sich noch gut erinnern, was Herberger ihm sagte. Viele Worte machte der Chef freilich auch gegenüber dem jüngeren Walter nicht: „Ottmar, danke!“

Ein Fest für Statistiker

Die Statistiker machten sich zur Feier des Tages viel Mühe. Man zählte Folgendes bei der Partie Deutschland gegen Schweiz:

Tore 1:0
Torschüsse 37:30
Rückgaben 8:4
Abseits 6:2
Abstöße 15:23
Einwürfe 12:21
Ecken 8:5

In der Presse gab es viel Lob für die Rückkehrer auf der Fußballweltbühne. „Deutschlands Länderelf feierte eine verheißungsvolle Auferstehung“, schrieb das Sport Magazin, und die Neue Zeitung befand: „Wir sagen nicht zu wenig, wenn wir feststellen, dass das Spiel der deutschen Mannschaft eine ganz große Überraschung ist.“

„Wir waren eine großartige Mannschaft“

Am wichtigsten aber war, dass es überhaupt stattgefunden hatte und der Ball ins Rollen gekommen war. Abends auf dem Bankett im Stuttgarter Hotel Schönblick ernannte der DFB den Schweizer Verbandspräsident Ernst Thommsen zum Ehrenmitglied, wofür der sich mit Schweizer Uhren für jeden Spieler und die DFB-Funktionäre revanchierte. Sein italienischer Kollege bewarb sich bei Herberger darum, erster Gastgeber der neuen deutschen Auswahl sein zu dürfen.

Glückliche Stunden im Leben des Bundestrainers. Und so setzte sich Sepp Herberger einige Tage später wieder an seine Schreibmaschine. Nun waren die düsteren Gedanken verschwunden: „Wir waren eine großartige Mannschaft“, schrieb er und setzte drei Ausrufezeichen dahinter. Aus der eine noch großartigere entstehen sollte, vier Jahre darauf in Bern.

Die erste deutsche Nationalmannschaft nach dem Krieg

Toni Turek – Herbert Burdenski, Jakob Streitle – Andreas Kupfer, Günther Baumann, Karl Barufka (90. Heinz Röhrig) – Bernhard Klodt, Fritz Balogh, Ottmar Walter, Max Morlock, Richard Herrmann.

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Am Montag vor genau 60 Jahren fand das erste deutsche Länderspiel nach dem Krieg statt, es war die Nummer 199 seit dem ersten Anpfiff im April 1908. Mit dem 1:0 vor weit mehr als 100.000 Zuschauern in Stuttgart gegen die Schweiz kehrte die deutsche Nationalmannschaft auf die internationale Bühne zurück, auf der sie keine vier Jahre später in Bern der Hauptdarsteller im WM-Finale werden sollte. Der Autor und Historiker Udo Muras hat für DFB.de in die Geschichtsbücher geschaut.

An einem Sonntagmorgen im August 1950 setzte sich Sepp Herberger an die Schreibmaschine und tippte sich den Kummer von der Seele. Bis zum Kriegsende war er der Reichstrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft gewesen, und mit Jahresbeginn hatte er nach seiner offiziellen Denazifizierung seinen Posten zurückbekommen - nun als Bundestrainer. Aber wessen Trainer eigentlich?

Noch immer hatte er keine Mannschaft, die offizielle Länderspiele austragen durfte. Gerade hatte er zu zwei Vorbereitungslehrgängen auf die noch utopische Premiere eingeladen, 24 Kandidaten spielten in Duisburg vor, und „Rot-Weiß“ mit den Walter-Brüdern hatte „Schwarz-Weiß“ 7:3 besiegt. Aber die Vereine taten sich schwer, die Spieler für solche „Späßchen“ abzustellen, denn wofür eigentlich? Auch Herberger sehnte sich nach „richtigen“ Gegnern, sei es „eine Regional- oder Vereinsmannschaft“.

Und so schrieb er am Morgen nach einem solchen Lehrgang: „Es sind ernste Gedanken und wachsende Sorgen, die mich mehr und mehr befallen… Ich sehe schwarz für die Zukunft der Nationalmannschaft!“ Er hat den in seinen Unterlagen erhaltenen Brief an DFB-Generalsekretär Georg Xandry nie abgeschickt – und das war auch besser so.

Länderspiel Nummer 199 seit dem Anpfiff 1908

Denn bereits dreieinhalb Monate später wurde ihm ein beeindruckender Beweis dafür geliefert, dass die deutsche Nationalmannschaft sehr wohl eine Zukunft haben würde. Heute vor genau 60 Jahren fand das erste deutsche Länderspiel nach dem Krieg statt, es war die Nummer 199 seit dem ersten Anpfiff im April 1908 – und 643 sollten bis jetzt folgen.

Drei Welt- und Europameisterschaften hat die DFB-Auswahl seitdem errungen und weltweit einen legendären Ruf – jenen, eine Turniermannschaft zu sein, die nie aufgibt. In Stuttgart wurde die Basis für all das gelegt. Die Premiere endete mit einem schmucklosen 1:0 über die Schweiz, aber das Ergebnis war das Unwichtigste an diesem neblig-trübem Buß- und Bettag 1950.

Dabeisein war alles in jenen Tagen der Demut in einem Land, das voller Menschen war, die den gebückten Gang übten. Ein Jahr zuvor erst hatten die westlichen Siegermächte die Industrie-Demontagen im Petersberger Abkommen offiziell eingestellt. Das war der erste Schritt zum Wiederaufbau. Aber auch die Moral musste wieder aufgebaut werden.

Offiziell 96.400 Zuschauer in Stuttgart

Das große Interesse am ersten Nachkriegsländerspiel dokumentiert die Sehnsucht der Menschen nach ein bisschen Abwechslung vom tristen Alltag und dem Wunsch, wieder ein respektierter Teil der Völkergemeinschaft sein zu dürfen.

Die Sehnsucht fand Ausdruck in einer gigantischen Kulisse: Obwohl es nur ein Freundschaftsspiel gewesen ist, haben bis heute nie mehr Menschen der Nationalmannschaft bei einem Heimspiel zugesehen – auch wenn keiner zu sagen vermag wie viele es denn überhaupt gewesen sind.

Der DFB meldete offiziell 96.400 Zuschauer, was schon Rekord gewesen wäre, aber die zeitgenössischen Schätzungen schwanken zwischen 103.000 und 120.000. Jedenfalls waren es viel zu viele für das Stuttgarter Neckarstadion, das offiziell 80.000 Plätze auswies, an diesem Tag aber durch eine 17-stufige Stahlrohrtribüne aus München für 16.000 Menschen verstärkt worden war.

Mit dem Bolzenschneider Zugang verschafft

Mancher verschaffte sich mit dem Bolzenschneider Zugang, der SID meldete damals, dass Menschen „durch Zerschneiden der Stadionumzäunung“ das Gelände geentert hätten. Die Menschen standen dicht gedrängt bis zum Spielfeldrand, und der Schalker Berni Klodt musste sie stets bitten zurückzuweichen, als er seine Ecken trat. Alle wollten eben dabei sein bei der historischen Stunde, lange genug hatten sie gewartet.

Schon wenige Wochen nach Kriegsende wurde zwar überall im Land wieder gegen den Ball getreten, aber der Weltverband FIFA, der Deutschland nach dem Zusammenbruch folgerichtig ausgeschlossen hatte, verbot internationale Spiele mit den Kriegsverbrechern. Das traf vorerst nur die Vereine, denn da es bis 1949 noch keinen deutschen Staat gab, konnte es sowieso keine Nationalmannschaft und daher keine Länderspiele geben.

Herberger wieder mit einem Job

Als sich die Teilung Deutschlands in Ost und West abzeichnete, wurde alles anders. Schon 1948 wurde in den westlichen Besatzungszonen ein Deutscher Meister ausgespielt, und schon bald nach Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 erstand auch der DFB Anfang 1950 wieder aus den Trümmern - und Sepp Herberger hatte wieder einen Job als Bundestrainer.

Doch gegen wen sollte eine Nationalmannschaft eigentlich spielen in einer Zeit, in der die internationale Gemeinschaft den Deutschen nicht wohlgesonnen war? Als Schweizer Städteteams schon 1948 den Boykott brachen und nach München, Stuttgart und Karlsruhe fuhren, ernteten sie international viel Kritik: „Nein, Schweizer, das war falsch von euch, das war geschmacklos. Europa blutet noch aus tausenden, durch die Deutschen geschlagenen Wunden, und in zehntausenden Familien herrscht noch Trauer“, schrieb eine niederländische Zeitung.

Als der Hamburger SV im Januar 1950 nach New York eingeladen worden war, wurden die Spieler beim Rathausempfang von Jugendlichen mit Eiern und Obst beworfen. Zwölf Jahre Hitler-Terror waren nicht in fünf Jahren vergessen und verziehen.

Mangel an Freiwilligen

Aber als die FIFA auf besonderes Drängen der Schweizer und Amerikaner am 22. September 1950 in Brüssel den Bann aufhob, durfte die Welt wieder mit Deutschland spielen. An Freiwilligen mangelte es zwar noch, aber die Schweiz, im Krieg neutral und dem DFB seit jeher verbunden – sie war 1908 der allererste Gegner –, machte den Anfang. Und so standen Ort, Zeit und Gegner schnell fest: Stuttgart, 22. November, 14.30 Uhr gegen die Schweiz. DFB-Präsident Dr. Peco Bauwens sprach von einem „großen bewegenden Ereignis“.

Die Aufregung war groß im Land, in die Vorfreude mischte sich Ärger: Viele Menschen waren enttäuscht, dass das Spiel an einem Werktag stattfand, der Buß- und Bettag war kein gesetzlicher Feiertag in der jungen Bundesrepublik, die der mit einer Stimme Mehrheit gewählte Konrad Adenauer (CDU) im Bundestag regierte.

Unterhaltungsmusik und Märchen statt erster Halbzeit

Auch der Rundfunk trug der Begeisterung nicht genügend Rechnung, die Sendeanstalten übertrugen nur die zweite Halbzeit. Unterhaltungsmusik (Süddeutscher Rundfunk), Funkmärchen (Hessischer Rundfunk), ein Reisebericht aus der Türkei (SWF) und Kammermusik (Bremen) gingen vor, ehe Herbert Zimmermann und Rainer Günzler ab 15.15 Uhr ans Mikrofon durften.

Die Fußballfans machten ihrem Unmut im Vorfeld in Leserbriefen Luft, von „Rumpf-Funk statt Rundfunk“ war da zu lesen. Fernsehen gab es noch nicht. Immerhin waren die Eintrittspreise bezahlbar: von 50 Pfennig für Studenten und Schüler bis sieben Mark für den besten Tribünenplatz. Zum Vergleich: Eine Tageszeitung kostete damals 15 Pfennig.

Nur ein Norddeutscher im Kader

Sepp Herberger zog seine 19 Kandidaten schon eine Woche vor der Partie im schwäbischen Murrhardt zusammen, nachdem er zuvor noch in Frankfurt eine legendäre Pressekonferenz abgehalten hatte. Er soll über eine Stunde ununterbrochen geredet haben und bei dem Satz „Wer in der Nationalmannschaft spielt, muss 90 Minuten brennen, ohne zu verbrennen“, bekamen auch alt gediente Reporter eine Gänsehaut.

Kritik erntete er dennoch, weil er mit dem Bremer Herbert Burdenski nur einen Norddeutschen nominiert hatte und sich sein Kader durch eine gewisse Süd-Lastigkeit auszeichnete. Der HSV war nicht vertreten, auch Hannover 96 und Preußen Münster nicht - dafür aber der kleine VfL Neckarau.

Und was bitte sollte der kleine Bruder von Fritz Walter, Ottmar, im Kader? Das sah nach Vetternwirtschaft aus: Herberger war schließlich sogar Trauzeuge von Fritz Walter. So bekam der Bundestrainer gleich zum Wiederbeginn zu spüren, dass er den schönsten und schwierigsten Beruf zugleich im Fußball hatte.

Einige Personalsorgen für Herberger

Personalsorgen plagten ihn auch: Torwart Toni Turek, Jackl Streitle, der einzige Bayern-Spieler, der Fürther Torjäger Horst Schade und vor allem sein Kapitän Fritz Walter waren angeschlagen. Dessen Lauterer Klubkamerad Werner Liebrich, auch ein kommender Weltmeister, wurde kurzfristig per Telefon gestrichen, weil er wegen angeblicher Körperverletzung zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt worden war und man Herberger das verschwiegen hatte.

Als die Mannschaften an jenem November-Mittwoch um kurz vor halb drei nach einem Vorspiel der Stuttgarter Jugendteams von VfB und Kickers einliefen, hatten viele Zuschauer schon einen stundenlangen harten Kampf hinter sich. Sie alle hörten den Stadionsprecher unentwegt schwäbeln: „Rückts no e bisse zamm.“ Leicht gesagt, es war das reinste Chaos.

Auf den überfüllten Rängen kam es zu Unfällen, da auf dem Schlammboden kaum Halt zu finden war, Wellenbrecher gab es keine. In Leserbriefen war von ruinierten Schuhen und Hosen die Rede, ein Mann aus Tübingen zog diesen Vergleich: „Wir sahen nicht anders aus wie Infanteristen nach schwierigster Geländeübung“. Man zählte hinterher, auch durch das entstehende Verkehrschaos, über 300 Verletzte, 72 schwere Unfälle und 38 Krankenhauseinlieferungen.

Schweigeminute für Kriegsopfer statt deutscher Hymne

Als die Schweizer Hymne gespielt wurde, war es auf den Stehrängen zu eng, um den Hut zu ziehen, so dass es in manchen Fällen der Hintermann für einen tat und, so ein Augenzeuge, „man sich gegenseitig aus der Verlegenheit half“.

Das neue Deutschland hatte keine Hymne, stattdessen gab es eine ergreifende Schweigeminute für die Opfer des Krieges. „Totenstille herrscht im weiten Rund der 115.000, die entblößten und gesenkten Hauptes dastanden. Die ganzen schweren Ereignisse der letzten 15 Jahre zogen wie ein Film an unseren geistigen Augen vorüber. Wir dachten voller Trauer daran, dass bei diesem Länderspiel ja nur das halbe Deutschland vertreten war“, schrieb das Sport Magazin.

Max Morlock ersetzt Fritz Walter

Das halbe Deutschland war immerhin stark genug, um zu gewinnen, was überraschte. Die Neue Zeitung schrieb noch am Spieltag: „Papiermäßig liegen, trotz des Platznachteils und gewisser psychologischer Vorteile für Deutschland die größeren Chancen zu siegen auf der Seite der Schweiz, und auch wir rechnen – mit einer leisen Hoffnung auf ein Unentschieden – mit einem Erfolg der Eidgenossen.“

Zumal der Genius Fritz Walter tatsächlich fehlte, am linken Knie verletzt und von einem kritischen Artikel in einer Stuttgarter Zeitung am Vortag schwer getroffen. Der Schreiber forderte einigermaßen gehässig, dass nur ein gesunder Walter spielen dürfe, und das setzte dem sensiblen Kaiserslauterer stark zu.

Die Frankfurter Rundschau schrieb gar von einem „Nervenzusammenbruch“, aber für Herberger gaben einzig die Trainingseindrücke am Dienstag den Ausschlag: Da quälte sich Fritz Walter sehr beim Flankenschlagen, und der Chef sagte deshalb dem Nürnberger Morlock: „Max, Sie spielen!“

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Acht Debütanten, ein Tor

So schickte Herberger auf den Tag genau acht Jahre nach dem letzten Länderspiel im Krieg (5:2 in Pressburg gegen die Slowakei) acht Debütanten ins Rennen, nur Kapitän Andreas Kupfer (Schweinfurt 05), Herbert Burdenski (Werder) und Jakob Streitle (FC Bayern) hatten schon vor dem Krieg Länderspiele bestritten. Dennoch war es eine erfahrene Elf mit einem Durchschnittsalter von 28,8 Jahren.

Die Zukunft gehörte ihr nicht, aber der so ungeheuer bedeutende Moment. Das einzige Tor erzielte der Bremer Herbert Burdenski per Handelfmeter kurz vor der Pause - fast ein wenig gezwungenermaßen. Denn von Streitle wurde Burdenski beinahe zum Elfmeterpunkt getrieben, da auch die als potenzielle Schützen vorgesehenen Morlock und Ottmar Walter sich nicht aufdrängten.

Und weil die Stürmer beider Seiten nicht den besten Tag auf tiefem Schlammboden hatten, blieb es trotz zahlreicher Torschüsse beim 1:0 für die Deutschen. Ottmar Walter, mit Pfiffen empfangen, hatte mit seinem Kopfball immerhin den Elfmeter herausgeholt. Der einzige noch lebende Teilnehmer des Spiels kann sich noch gut erinnern, was Herberger ihm sagte. Viele Worte machte der Chef freilich auch gegenüber dem jüngeren Walter nicht: „Ottmar, danke!“

Ein Fest für Statistiker

Die Statistiker machten sich zur Feier des Tages viel Mühe. Man zählte Folgendes bei der Partie Deutschland gegen Schweiz:

Tore 1:0
Torschüsse 37:30
Rückgaben 8:4
Abseits 6:2
Abstöße 15:23
Einwürfe 12:21
Ecken 8:5

In der Presse gab es viel Lob für die Rückkehrer auf der Fußballweltbühne. „Deutschlands Länderelf feierte eine verheißungsvolle Auferstehung“, schrieb das Sport Magazin, und die Neue Zeitung befand: „Wir sagen nicht zu wenig, wenn wir feststellen, dass das Spiel der deutschen Mannschaft eine ganz große Überraschung ist.“

„Wir waren eine großartige Mannschaft“

Am wichtigsten aber war, dass es überhaupt stattgefunden hatte und der Ball ins Rollen gekommen war. Abends auf dem Bankett im Stuttgarter Hotel Schönblick ernannte der DFB den Schweizer Verbandspräsident Ernst Thommsen zum Ehrenmitglied, wofür der sich mit Schweizer Uhren für jeden Spieler und die DFB-Funktionäre revanchierte. Sein italienischer Kollege bewarb sich bei Herberger darum, erster Gastgeber der neuen deutschen Auswahl sein zu dürfen.

Glückliche Stunden im Leben des Bundestrainers. Und so setzte sich Sepp Herberger einige Tage später wieder an seine Schreibmaschine. Nun waren die düsteren Gedanken verschwunden: „Wir waren eine großartige Mannschaft“, schrieb er und setzte drei Ausrufezeichen dahinter. Aus der eine noch großartigere entstehen sollte, vier Jahre darauf in Bern.

Die erste deutsche Nationalmannschaft nach dem Krieg

Toni Turek – Herbert Burdenski, Jakob Streitle – Andreas Kupfer, Günther Baumann, Karl Barufka (90. Heinz Röhrig) – Bernhard Klodt, Fritz Balogh, Ottmar Walter, Max Morlock, Richard Herrmann.