Oliver Kahn: "Für mich gibt es keinen Ruhestand"

Er war der Titan, "Vul-Kahn" und für viele schlicht der beste Torhüter der Welt - am Dienstag trat Oliver Kahn endgültig von der großen Fußball-Bühne ab.

Nach 86 Länder-, 140 Europapokal- und 557 Bundesligaspielen mit acht Deutschen Meisterschaftstiteln, sechs DFB-Pokalsiegen, dem Champions-League- und Weltpokalgewinn 2001 sowie dem UEFA-Cup-Erfolg 1996 war endgültig Schluss für den dreimaligen Welttorhüter.

Im "DFB.de-Gespräch der Woche", das die Redaktion des "Bayern-Magazins" vor dem Abschiedsspiel von Oliver Kahn zwischen dem FC Bayern München und der deutschen Nationalmannschaft (1:1) im WM-Stadion München führte, durchwanderte der frühere Welttorhüter nochmal die vielen Höhepunkte und einige schmerzhaften Tiefpunkte seiner einzigartigen Laufbahn.

Frage: Oliver Kahn, was bedeutet Ihnen das Abschiedsspiel gegen die Nationalmannschaft?

Oliver Kahn: Ich freue mich natürlich darauf, noch einmal in der Arena zu spielen. Ich hoffe, dass es für mich und die Zuschauer ein schönes Fest wird.

Frage: Wird in diesem Spiel noch einmal Wehmut in Ihnen hochkommen?

Kahn: Weiß ich nicht. Ich beschäftige mich schon seit drei Monaten mit diesem Thema und habe mich schon seit längerem auf diesen Moment vorbereitet. Bestimmt wird man nachdenklich, aber es gibt nichts, was ich noch erleben müsste. Insofern habe ich das Kapitel aktiver Fußball schon abgeschlossen.

Frage: Haben Sie sich auf diese Partie noch sportlich vorbereitet?

Kahn: Ich habe viel gemacht zuletzt, das werde ich weiter so tun. Ich war oft im Kraftraum und habe viele Waldläufe gemacht. Und in den vergangenen Tagen habe ich leicht mittrainiert. Das ist auch schwierig nach drei Monaten. Ich gehe aber nicht in dieses Spiel, um sechs Unhaltbare zu halten.

Oliver Kahn: Zwischen Titan und "Vul-Kahn"

Frage: Sie müssen sogar in der Halbzeit ran. Was steckt hinter der Aktion, die da stattfindet?

Kahn: Die Aktion „Millionenkick“ läuft zu Gunsten des Deutschen Kinderschutzbundes und anderer sozialer Projekte. Dabei können zehn ausgewählte Schützen versuchen, mir den Ball ins Tor schießen. Für jeden Treffer gibt es 100.000 Euro. Wenn ich den Ball halte - oder er fliegt am Tor vorbei oder drüber -, dann erhält diese Summe der Kinderschutzbund.

Frage: Was macht der Kinderschutzbund mit dem Geld?

Kahn: Damit wollen wir an den Schulen das Motivationsprogramm „Ich schaff’s“ einführen. Außerdem erhält die Justin Rockola Soforthilfe mit ihrer Initiative inside@school Zuwendungen.

Frage: Was veranlasste Sie zu diesem sozialen Engagement?

Kahn: Schon seit Jahren fragen mich immer mehr Jugendliche nach Ratschlägen, aber nicht allein auf den Fußball bezogen. Es geht ihnen um Perspektiven für ihr Leben.

Frage: Und wie sehen Ihre Aktivitäten da aus?

Kahn: Zunächst werde ich an Schulen in Bayern versuchen, den Schülern klarzumachen, dass Talent allein nicht reicht. Ich freue mich auf diesen direkten Kontakt. Erfolg im Leben hat man vor allem mit Ausdauer, harter Arbeit und Willen zur Leistung. Um zu gewinnen, braucht es nicht den Besten, sondern den Hartnäckigsten.

Frage: Diese Einstellung haben Sie vorgelebt wie wenige.

Kahn: Ja, ich meine, dass ich für diese Eigenschaften stehe. Ich habe immer danach gelebt. Für mich gab es allein Fußball und Tennis, schon mit zwölf Jahren war für mich klar, dass ich Profi werden wollte. Und ich wollte der beste Torhüter der Welt werden, der beste.

Frage: Sie haben zusätzlich zum Fußball Abitur gemacht. Wer hat dem jungen Oliver Kahn vor allem den Weg gewiesen?

Kahn: Vor allem mein Vater Rolf. Er war ja selbst Fußballprofi beim Karlsruher SC und später auch Trainer gewesen, damit wurde er zur ersten prägenden Figur in meinem Leben. Später kamen die verschiedenen Trainer, von Winnie Schäfer bis Ottmar Hitzfeld, der ganz besonders einflussreich auf mich war.

Frage: Sie beide stehen prominent für die Erfolgsära, die der FC Bayern zur Jahrtausendwende hatte. Wie wichtig waren für Sie die zwei Titel - die Deutsche Meisterschaft und der DFB-Pokal 2008 - zum Karriereende?

Kahn: Ottmar Hitzfeld und ich wussten, dass wir einen Misserfolg zum Abschluss nicht mehr korrigieren konnten. Deshalb wollten wir unbedingt diesen Erfolg, zu dem wir gleichsam verdammt waren. Wir haben da eine Schicksalsgemeinschaft gebildet. Unsere ähnlichen Charaktere waren da sehr hilfreich, wir brauchen beide die Spannung und den Druck.

Frage: Wie haben Sie die Tage und Wochen seit dem letzten Bundesligaspiel Mitte Mai verbracht?

Kahn: Anfangs war es durchaus ein etwas seltsames Gefühl, nach zwanzig Jahren Fußball morgens ohne einen Vertrag aufzustehen, in dem Wissen, dass dieses Kapitel nun vorbei ist. Aber es ist schön, auch mal in den Tag hinein zu leben. Ich habe viele schöne Dinge unternommen, die mir Spaß gemacht haben. Ich war in den USA, jetzt vier Wochen mit meiner Familie an der Cote d’Azur und in Sardinien. In der ersten Zeit nach der Karriere muss man zunächst regenerieren.

Frage: Wie gefällt es Ihnen - mit Verlaub - im Ruhestand?

Kahn: Für mich gibt es keinen Ruhestand. Ich bin ein Mensch, der viele Aufgaben hat, die ich ab September angreifen werde. Ich gehe jetzt diese anderen Aufgaben an, weil ich mich nicht nur als Fußballer definiert habe. Die erste Hälfte meines Lebens habe ich als Fußballer verbracht, aber es gibt noch eine Hälfte, in der ich ganz andere Dinge machen möchte.

Frage: Was steht alles an?

Kahn: Nach dem Abschiedsspiel die Asien-Aktivitäten. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus sportlichen und unterhaltenden Aspekten, wir suchen den besten Torhüter in China. Dazu wurde eigens eine Internet-Plattform eingerichtet, die Torhüter können Videos einschicken. Diese Geschichte könnte sich dann auf viele Länder Asiens ausweiten. Dann kommt diese Motivationsinitiative an den bayerischen Schulen, und danach viele Dinge, die mit meinem Buch zusammenhängen, die ich aber noch sortieren muss.

Frage: Was fehlt Ihnen vor allem ohne Fußball?

Kahn: Ich vermisse eigentlich nicht viel. Es heißt ja immer, man werde nach so langer Zeit in ein Loch fallen, aber davon habe ich bislang nichts gespürt.

Frage: Was geht in Ihnen vor, wenn in der Bundesliga der Ball rollt?

Kahn: Ich spüre keinerlei Unruhe mehr. Ich verfolge den Fußball genau, aber ohne Emotionalität. Ich achte auf die Systeme, die Taktiken, die Spieler, weil das wichtig ist für meine Aufgabe als ZDF-Kommentator.

Frage: Werden Sie ein gestrenger oder mitfühlender TV-Kommentator sein?

Kahn: Weder noch. Ich werde eine neutrale Position einnehmen und versuchen, dem Zuschauer ein paar Dinge zu vermitteln, die er so am Fernsehschirm nicht sehen kann. Natürlich aus meiner Erfahrung heraus.

Frage: Wann geht es los?

Kahn: Schon am 10. September beim WM-Quualifikationsspiel der Nationalmannschaft in Finnland, da werde ich erstmals dabei sein.

Frage: Was fehlt Ihnen am meisten ohne Fußball?

Kahn: Das reine Spiel fehlt mir nicht, das Training, den Spielbetrieb und was alles dazugehört brauche ich nicht mehr. Mir fehlt nur die Mannschaft. Der Umgang, die Prozesse innerhalb einer Mannschaft, der Spaß. Weil es schon immer sehr lustig war.

Frage: Sie wurden in den 14 Jahren in München zur Symbolfigur, sie standen in dieser Zeit für den FC Bayern wie keiner sonst. Entsprechend aggressiv wurden Sie lange Zeit empfangen, ehe sich in der vergangenen Saison alles änderte. Wie kam es zu diesem Wandel?

Kahn: Die Menschen haben wahrscheinlich registriert, dass ich immer authentisch war, nie angepasst. Ich habe auch Fehler gemacht, bin mir in den zwanzig Jahren meiner Profikarriere aber stets treu geblieben. Vielleicht hat das manche beeindruckt.

Frage: Möchten Sie noch einmal am Anfang stehen und alles noch einmal erleben?

Kahn: Um Gottes Willen, nein, ganz bestimmt nicht. Ich neige nicht zur Wehmut. Die Zeit ist vorbeigerast, aber das ist typisch für den Fußball. Ist ein Ziel erreicht, wird schon vom nächsten gesprochen. Am krassesten war es 2001, nach dem Gewinn der Meisterschaft in Hamburg.

Frage: Als Patrik Andersson in letzter Sekunde den Freistoß ins Tor schoss und Ihr legendärer Ausspruch - „Immer weiter! Immer weiter!“ - zum geflügelten Wort wurde?

Kahn: Ja, diese Meisterschaft war die spektakulärste, die die Bundesliga je gesehen hat. Aber wir konnten diesen Titel gar nicht feiern, weil wir am folgenden Mittwoch schon wieder das Endspiel in der Champions League in Mailand hatten.

Frage: War der damalige Sieg nach Elfmeterschießen gegen Valencia Ihr größter Triumph?

Kahn: Es war natürlich ein ganz spezieller Erfolg. Erstens, weil es eben der Triumph in der Champions League war; zweitens, weil wir diese extreme Niederlage gegen Manchester United zwei Jahre zuvor erlitten hatten mit den beiden Treffern in der Nachspielzeit. Außerdem waren wir im Jahr 2000 im Halbfinale gegen Real Madrid ausgeschieden. Bei einer erneuten Niederlage im Finale wäre der Verein mit Sicherheit in ein Loch gefallen.

Frage: War das 1:2 gegen Manchester 1999 Ihre schlimmste Niederlage?

Kahn: Ja. Aber es ist schon so lange her, dass ich keine großen Gefühle mehr damit verbinde. Im Moment der Niederlage war es unvorstellbar, dass man wieder auf die Beine kommt. Wie hat Sammy Kuffour damals geweint in Barcelona! Aber wir sind an dieser Niederlage gewachsen. Wir hatten erfahren, dass es nie vorbei ist, bevor der Schiedsrichter abgepfiffen hat. Für mich wurde das ein Lebensmotto. Und wir hatten damals eine Mannschaft, die für den FC Bayern Unglaubliches geleistet hat. Es ist nicht normal, dass eine Mannschaft die Champions League über so viele Jahre dominiert. Diese damalige Phase war außergewöhnlich.

Frage: 2002 folgte die WM, und Sie wurden zum Titan erkoren. Wie denken Sie heute über diese Zeit?

Kahn: Ich war damals auf meinem maximalen Leistungsniveau. Die Titan-Phase war wahnsinnig anstrengend, Tag und Nacht nur noch Höchstleistung. Jede Parade sollte den Nachweis bringen, dass ich noch der Titan war.

Frage: Und vier Jahre später, bei der WM in Deutschland, saßen Sie auf der Bank. In Erinnerung bleibt von diesem Turnier ganz besonders Ihr Händedruck mit Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien im Viertelfinale. Was ging da in Ihnen vor?

Kahn: Das war überhaupt nicht geplant. Ich spürte den inneren Antrieb dazu, als ich in der Pause vor dem Elfmeterschießen zwischen den Spielern stand und plötzlich losging, hinüber zu unserem Torwart. Diese Aktion war für mich völlig normal. Es ging um alles, die Weltmeisterschaft war wichtiger als persönliche Befindlichkeiten. Deshalb war für mich auch klar, dass ich als Nummer zwei bei der WM zur Verfügung stand. Es war ein Akt der Selbstüberwindung und ein Sieg über mich selbst.

Frage: Gab es ein Ziel, das Sie nicht erreicht haben und das Ihnen fehlt?

Kahn: Es gibt im Fußball nichts mehr, was ich unbedingt noch erleben müsste. Es stellen sich neue Herausforderungen, etwa auf unternehmerischer Ebene. Ich möchte da auch erfolgreich sein, das habe ich sehr wohl im Hinterkopf. Das muss gar nichts mit Fußball zu tun habe. Ich schließe gerne Dinge ab, das dauert zwar lange, aber dann mache ich es radikal, um Neues mit großem Elan zu verfolgen.

Frage: Sie werden also nicht mit Sicherheit in den Fußball zurückkehren?

Kahn: Das ist nicht ausgeschlossen. Nach 20 Jahren habe ich aber zunächst nicht so große Lust darauf. Das muss sich erst entwickeln.

Frage: Ist eine Rückkehr zum FC Bayern vorstellbar?

Kahn: Sicher kann ich mir das vorstellen, man soll nichts ausschließen, aber erst in ferner Zukunft, momentan überhaupt nicht.

Frage: Sie haben den philosophischen Satz gesagt: "Ein Fußballer lebt immer in der Zukunft." Wie leben Sie in Zukunft als Nicht-mehr-Fußballer?

Kahn: Im Fußball stellt sich immer die Frage nach neuen Erfolgen, neuen Spielern, dem nächsten Spiel. Kaum ist die halbe Saison vorbei, wird schon von der neuen gesprochen. In einem Verein wie dem FC Bayern bleibt dir überhaupt keine Zeit zu genießen. Jetzt kann ich nachdenken, meine Zeit selbst einteilen. Jetzt kann ich genießen.

Frage: Schafft es Michael Rensing beim FC Bayern?

Kahn: Ich glaube schon. Das Torwart-technische Potenzial hat er. Man weiß aber nie, wie stark er im Kopf ist.

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Er war der Titan, "Vul-Kahn" und für viele schlicht der beste Torhüter der Welt - am Dienstag trat Oliver Kahn endgültig von der großen Fußball-Bühne ab.

Nach 86 Länder-, 140 Europapokal- und 557 Bundesligaspielen mit acht Deutschen Meisterschaftstiteln, sechs DFB-Pokalsiegen, dem Champions-League- und Weltpokalgewinn 2001 sowie dem UEFA-Cup-Erfolg 1996 war endgültig Schluss für den dreimaligen Welttorhüter.

Im "DFB.de-Gespräch der Woche", das die Redaktion des "Bayern-Magazins" vor dem Abschiedsspiel von Oliver Kahn zwischen dem FC Bayern München und der deutschen Nationalmannschaft (1:1) im WM-Stadion München führte, durchwanderte der frühere Welttorhüter nochmal die vielen Höhepunkte und einige schmerzhaften Tiefpunkte seiner einzigartigen Laufbahn.

Frage: Oliver Kahn, was bedeutet Ihnen das Abschiedsspiel gegen die Nationalmannschaft?

Oliver Kahn: Ich freue mich natürlich darauf, noch einmal in der Arena zu spielen. Ich hoffe, dass es für mich und die Zuschauer ein schönes Fest wird.

Frage: Wird in diesem Spiel noch einmal Wehmut in Ihnen hochkommen?

Kahn: Weiß ich nicht. Ich beschäftige mich schon seit drei Monaten mit diesem Thema und habe mich schon seit längerem auf diesen Moment vorbereitet. Bestimmt wird man nachdenklich, aber es gibt nichts, was ich noch erleben müsste. Insofern habe ich das Kapitel aktiver Fußball schon abgeschlossen.

Frage: Haben Sie sich auf diese Partie noch sportlich vorbereitet?

Kahn: Ich habe viel gemacht zuletzt, das werde ich weiter so tun. Ich war oft im Kraftraum und habe viele Waldläufe gemacht. Und in den vergangenen Tagen habe ich leicht mittrainiert. Das ist auch schwierig nach drei Monaten. Ich gehe aber nicht in dieses Spiel, um sechs Unhaltbare zu halten.

Oliver Kahn: Zwischen Titan und "Vul-Kahn"

Frage: Sie müssen sogar in der Halbzeit ran. Was steckt hinter der Aktion, die da stattfindet?

Kahn: Die Aktion „Millionenkick“ läuft zu Gunsten des Deutschen Kinderschutzbundes und anderer sozialer Projekte. Dabei können zehn ausgewählte Schützen versuchen, mir den Ball ins Tor schießen. Für jeden Treffer gibt es 100.000 Euro. Wenn ich den Ball halte - oder er fliegt am Tor vorbei oder drüber -, dann erhält diese Summe der Kinderschutzbund.

Frage: Was macht der Kinderschutzbund mit dem Geld?

Kahn: Damit wollen wir an den Schulen das Motivationsprogramm „Ich schaff’s“ einführen. Außerdem erhält die Justin Rockola Soforthilfe mit ihrer Initiative inside@school Zuwendungen.

Frage: Was veranlasste Sie zu diesem sozialen Engagement?

Kahn: Schon seit Jahren fragen mich immer mehr Jugendliche nach Ratschlägen, aber nicht allein auf den Fußball bezogen. Es geht ihnen um Perspektiven für ihr Leben.

Frage: Und wie sehen Ihre Aktivitäten da aus?

Kahn: Zunächst werde ich an Schulen in Bayern versuchen, den Schülern klarzumachen, dass Talent allein nicht reicht. Ich freue mich auf diesen direkten Kontakt. Erfolg im Leben hat man vor allem mit Ausdauer, harter Arbeit und Willen zur Leistung. Um zu gewinnen, braucht es nicht den Besten, sondern den Hartnäckigsten.

Frage: Diese Einstellung haben Sie vorgelebt wie wenige.

Kahn: Ja, ich meine, dass ich für diese Eigenschaften stehe. Ich habe immer danach gelebt. Für mich gab es allein Fußball und Tennis, schon mit zwölf Jahren war für mich klar, dass ich Profi werden wollte. Und ich wollte der beste Torhüter der Welt werden, der beste.

Frage: Sie haben zusätzlich zum Fußball Abitur gemacht. Wer hat dem jungen Oliver Kahn vor allem den Weg gewiesen?

Kahn: Vor allem mein Vater Rolf. Er war ja selbst Fußballprofi beim Karlsruher SC und später auch Trainer gewesen, damit wurde er zur ersten prägenden Figur in meinem Leben. Später kamen die verschiedenen Trainer, von Winnie Schäfer bis Ottmar Hitzfeld, der ganz besonders einflussreich auf mich war.

Frage: Sie beide stehen prominent für die Erfolgsära, die der FC Bayern zur Jahrtausendwende hatte. Wie wichtig waren für Sie die zwei Titel - die Deutsche Meisterschaft und der DFB-Pokal 2008 - zum Karriereende?

Kahn: Ottmar Hitzfeld und ich wussten, dass wir einen Misserfolg zum Abschluss nicht mehr korrigieren konnten. Deshalb wollten wir unbedingt diesen Erfolg, zu dem wir gleichsam verdammt waren. Wir haben da eine Schicksalsgemeinschaft gebildet. Unsere ähnlichen Charaktere waren da sehr hilfreich, wir brauchen beide die Spannung und den Druck.

Frage: Wie haben Sie die Tage und Wochen seit dem letzten Bundesligaspiel Mitte Mai verbracht?

Kahn: Anfangs war es durchaus ein etwas seltsames Gefühl, nach zwanzig Jahren Fußball morgens ohne einen Vertrag aufzustehen, in dem Wissen, dass dieses Kapitel nun vorbei ist. Aber es ist schön, auch mal in den Tag hinein zu leben. Ich habe viele schöne Dinge unternommen, die mir Spaß gemacht haben. Ich war in den USA, jetzt vier Wochen mit meiner Familie an der Cote d’Azur und in Sardinien. In der ersten Zeit nach der Karriere muss man zunächst regenerieren.

Frage: Wie gefällt es Ihnen - mit Verlaub - im Ruhestand?

Kahn: Für mich gibt es keinen Ruhestand. Ich bin ein Mensch, der viele Aufgaben hat, die ich ab September angreifen werde. Ich gehe jetzt diese anderen Aufgaben an, weil ich mich nicht nur als Fußballer definiert habe. Die erste Hälfte meines Lebens habe ich als Fußballer verbracht, aber es gibt noch eine Hälfte, in der ich ganz andere Dinge machen möchte.

Frage: Was steht alles an?

Kahn: Nach dem Abschiedsspiel die Asien-Aktivitäten. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus sportlichen und unterhaltenden Aspekten, wir suchen den besten Torhüter in China. Dazu wurde eigens eine Internet-Plattform eingerichtet, die Torhüter können Videos einschicken. Diese Geschichte könnte sich dann auf viele Länder Asiens ausweiten. Dann kommt diese Motivationsinitiative an den bayerischen Schulen, und danach viele Dinge, die mit meinem Buch zusammenhängen, die ich aber noch sortieren muss.

Frage: Was fehlt Ihnen vor allem ohne Fußball?

Kahn: Ich vermisse eigentlich nicht viel. Es heißt ja immer, man werde nach so langer Zeit in ein Loch fallen, aber davon habe ich bislang nichts gespürt.

Frage: Was geht in Ihnen vor, wenn in der Bundesliga der Ball rollt?

Kahn: Ich spüre keinerlei Unruhe mehr. Ich verfolge den Fußball genau, aber ohne Emotionalität. Ich achte auf die Systeme, die Taktiken, die Spieler, weil das wichtig ist für meine Aufgabe als ZDF-Kommentator.

Frage: Werden Sie ein gestrenger oder mitfühlender TV-Kommentator sein?

Kahn: Weder noch. Ich werde eine neutrale Position einnehmen und versuchen, dem Zuschauer ein paar Dinge zu vermitteln, die er so am Fernsehschirm nicht sehen kann. Natürlich aus meiner Erfahrung heraus.

Frage: Wann geht es los?

Kahn: Schon am 10. September beim WM-Quualifikationsspiel der Nationalmannschaft in Finnland, da werde ich erstmals dabei sein.

Frage: Was fehlt Ihnen am meisten ohne Fußball?

Kahn: Das reine Spiel fehlt mir nicht, das Training, den Spielbetrieb und was alles dazugehört brauche ich nicht mehr. Mir fehlt nur die Mannschaft. Der Umgang, die Prozesse innerhalb einer Mannschaft, der Spaß. Weil es schon immer sehr lustig war.

Frage: Sie wurden in den 14 Jahren in München zur Symbolfigur, sie standen in dieser Zeit für den FC Bayern wie keiner sonst. Entsprechend aggressiv wurden Sie lange Zeit empfangen, ehe sich in der vergangenen Saison alles änderte. Wie kam es zu diesem Wandel?

Kahn: Die Menschen haben wahrscheinlich registriert, dass ich immer authentisch war, nie angepasst. Ich habe auch Fehler gemacht, bin mir in den zwanzig Jahren meiner Profikarriere aber stets treu geblieben. Vielleicht hat das manche beeindruckt.

Frage: Möchten Sie noch einmal am Anfang stehen und alles noch einmal erleben?

Kahn: Um Gottes Willen, nein, ganz bestimmt nicht. Ich neige nicht zur Wehmut. Die Zeit ist vorbeigerast, aber das ist typisch für den Fußball. Ist ein Ziel erreicht, wird schon vom nächsten gesprochen. Am krassesten war es 2001, nach dem Gewinn der Meisterschaft in Hamburg.

Frage: Als Patrik Andersson in letzter Sekunde den Freistoß ins Tor schoss und Ihr legendärer Ausspruch - „Immer weiter! Immer weiter!“ - zum geflügelten Wort wurde?

Kahn: Ja, diese Meisterschaft war die spektakulärste, die die Bundesliga je gesehen hat. Aber wir konnten diesen Titel gar nicht feiern, weil wir am folgenden Mittwoch schon wieder das Endspiel in der Champions League in Mailand hatten.

Frage: War der damalige Sieg nach Elfmeterschießen gegen Valencia Ihr größter Triumph?

Kahn: Es war natürlich ein ganz spezieller Erfolg. Erstens, weil es eben der Triumph in der Champions League war; zweitens, weil wir diese extreme Niederlage gegen Manchester United zwei Jahre zuvor erlitten hatten mit den beiden Treffern in der Nachspielzeit. Außerdem waren wir im Jahr 2000 im Halbfinale gegen Real Madrid ausgeschieden. Bei einer erneuten Niederlage im Finale wäre der Verein mit Sicherheit in ein Loch gefallen.

Frage: War das 1:2 gegen Manchester 1999 Ihre schlimmste Niederlage?

Kahn: Ja. Aber es ist schon so lange her, dass ich keine großen Gefühle mehr damit verbinde. Im Moment der Niederlage war es unvorstellbar, dass man wieder auf die Beine kommt. Wie hat Sammy Kuffour damals geweint in Barcelona! Aber wir sind an dieser Niederlage gewachsen. Wir hatten erfahren, dass es nie vorbei ist, bevor der Schiedsrichter abgepfiffen hat. Für mich wurde das ein Lebensmotto. Und wir hatten damals eine Mannschaft, die für den FC Bayern Unglaubliches geleistet hat. Es ist nicht normal, dass eine Mannschaft die Champions League über so viele Jahre dominiert. Diese damalige Phase war außergewöhnlich.

Frage: 2002 folgte die WM, und Sie wurden zum Titan erkoren. Wie denken Sie heute über diese Zeit?

Kahn: Ich war damals auf meinem maximalen Leistungsniveau. Die Titan-Phase war wahnsinnig anstrengend, Tag und Nacht nur noch Höchstleistung. Jede Parade sollte den Nachweis bringen, dass ich noch der Titan war.

Frage: Und vier Jahre später, bei der WM in Deutschland, saßen Sie auf der Bank. In Erinnerung bleibt von diesem Turnier ganz besonders Ihr Händedruck mit Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien im Viertelfinale. Was ging da in Ihnen vor?

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Kahn: Das war überhaupt nicht geplant. Ich spürte den inneren Antrieb dazu, als ich in der Pause vor dem Elfmeterschießen zwischen den Spielern stand und plötzlich losging, hinüber zu unserem Torwart. Diese Aktion war für mich völlig normal. Es ging um alles, die Weltmeisterschaft war wichtiger als persönliche Befindlichkeiten. Deshalb war für mich auch klar, dass ich als Nummer zwei bei der WM zur Verfügung stand. Es war ein Akt der Selbstüberwindung und ein Sieg über mich selbst.

Frage: Gab es ein Ziel, das Sie nicht erreicht haben und das Ihnen fehlt?

Kahn: Es gibt im Fußball nichts mehr, was ich unbedingt noch erleben müsste. Es stellen sich neue Herausforderungen, etwa auf unternehmerischer Ebene. Ich möchte da auch erfolgreich sein, das habe ich sehr wohl im Hinterkopf. Das muss gar nichts mit Fußball zu tun habe. Ich schließe gerne Dinge ab, das dauert zwar lange, aber dann mache ich es radikal, um Neues mit großem Elan zu verfolgen.

Frage: Sie werden also nicht mit Sicherheit in den Fußball zurückkehren?

Kahn: Das ist nicht ausgeschlossen. Nach 20 Jahren habe ich aber zunächst nicht so große Lust darauf. Das muss sich erst entwickeln.

Frage: Ist eine Rückkehr zum FC Bayern vorstellbar?

Kahn: Sicher kann ich mir das vorstellen, man soll nichts ausschließen, aber erst in ferner Zukunft, momentan überhaupt nicht.

Frage: Sie haben den philosophischen Satz gesagt: "Ein Fußballer lebt immer in der Zukunft." Wie leben Sie in Zukunft als Nicht-mehr-Fußballer?

Kahn: Im Fußball stellt sich immer die Frage nach neuen Erfolgen, neuen Spielern, dem nächsten Spiel. Kaum ist die halbe Saison vorbei, wird schon von der neuen gesprochen. In einem Verein wie dem FC Bayern bleibt dir überhaupt keine Zeit zu genießen. Jetzt kann ich nachdenken, meine Zeit selbst einteilen. Jetzt kann ich genießen.

Frage: Schafft es Michael Rensing beim FC Bayern?

Kahn: Ich glaube schon. Das Torwart-technische Potenzial hat er. Man weiß aber nie, wie stark er im Kopf ist.