Matthias Sammer blickt zurück auf den Titelgewinn 1996

68 Tage vor dem Auftaktspiel zur Fußball-Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz blickt DFB-Sportdirektor Matthias Sammer zurück auf den letzten großen Titelgewinn der deutschen Nationalmannschaft. Angetrieben von Sammer und einem unbändigen Willen, stürmte das Nationalteam im Sommer 1996 bis ins EURO-Finale von Wembley, in dem die Mannschaft dank einer weiteren Energieleistung die Tschechische Republik mit 2:1 schlug.

„Wir hatte herausragende Techniker im Team, aber unsere Trumpfkarte war der Zusammenhalt und der kollektive Willen, dieses Turnier nur als Sieger zu beenden. Spielerisch und taktisch gab es Bessere, aber in der Summe konnte uns keiner schlagen“, resümiert Matthias Sammer ein Turnier, bei dem Deutschland trotz der katastrophalen Verletzungsserie am Ende triumphierte.

Der DFB-Sportdirektor erklärt im ersten Teil des aktuellen „DFB.de-Gesprächs der Woche“ mit den DFB-Internetredakteuren Christian Müller und Thomas Hackbarth, warum er im Halbfinale gegen England keinen Elfmeter schoss und was er Sekunden nach Oliver Bierhoffs „Golden Goal“ mit dem heutigen DFB-Generalsekretär Wolfgang Niersbach zu besprechen hatte. Und Sammer, der vor der EM 1996 an Verletzungen laborierte, macht Torsten Frings und Christoph Metzelder Mut: "Es ist noch ausreichend Zeit, wieder fit zu werden und in Form zu kommen."

Im zweiten Teil des Gesprächs zieht Sammer eine Bilanz seines nun zweijährigen Wirkens als DFB-Sportdirektor.

Frage: Die deutsche Mannschaft wird als ein Titelfavorit für die in 68 Tagen beginnende EURO 2008 gehandelt. Herr Sammer, haben Sie selbst im Frühjahr 1996 an den Titelgewinn bei der Europameisterschaft in England geglaubt?

Matthias Sammer: Spieler sehen die Vorlaufzeit vor einem großen Turnier gelassener als viele Fans. Es ist ja völlig okay, in Titeldimensionen zu denken. Doch man muss aufpassen, denn wenn der Blick allzu sehr auf das Fernziel gerichtet wird, leidet schnell die Tagesarbeit. Über die Träume vom Titel darf der Spieler nicht den harten Alltag vergessen, der zum Erreichen des Ziels unabdingbar bewältigt werden muss, sowohl auf als auch außerhalb des Platzes. Fußball ist nun mal eine Mannschaftssportart. Die Gruppe muss an einem Strang ziehen, die Individualisten ihre Stärken in das Gesamtwerk einbringen. Das alles ist uns bei der Europameisterschaft 1996 ganz gut gelungen.

Frage: 1992 unterlag die Nationalmannschaft im Finale der Europameisterschaft gegen den Außenseiter Dänemark. Bei der WM 1994 schied das DFB-Team bereits im Viertelfinale aus. Lastete 1996 aufgrund der Enttäuschungen bei den beiden vergangenen Turnieren ein besonderer Druck auf der Mannschaft?

Sammer: Wir hätten 1992 Europameister werden müssen, da gibt es gar keine Diskussionen. Schon in der Vorrunde hatten wir Probleme. Erst musste uns "Icke" Häßler, der bekanntlich kurz vor dem Abpfiff den Ausgleich erzielte, gegen die GUS retten, dann haben wir gegen die Holländer verloren. Die Schweden haben wir im Halbfinale verdient geschlagen. Dann kam das Endspiel gegen die Dänen. Nachdem wir die ersten beiden Torchancen nicht genutzt hatten, scheiterten wir mehr an uns selbst als an einem Gegner, der völlig losgelöst aufspielte. Auch 1994 hatten wir eine hervorragende Mannschaft. Wenn Rudi Völlers vermeintliches Abseitstor zählt, führen wir doch gegen Bulgarien 2:0, dann ist das Spiel entschieden. Beide Teams, 1992 und 1994, hatten aber eben nicht diesen bedingungslosen Zusammenhalt wie die Europameister von 1996.

Frage: Sie wurden 1996 zu "Europas Fußballer des Jahres" gewählt und waren während des Turniers der Garant für den Erfolg. War Ihnen klar, dass Sie mit einer Bombenform ins Turnier gehen?

DFB-Sportdirektor Matthias Sammer: Bilder eine Laufbahn

Sammer: Das hat sich nicht unbedingt angedeutet. Borussia Dortmund wurde zwar Meister, aber ich kam aufgrund einiger kleiner Blessuren nicht in meinen Rhythmus. Kurz vor der EURO bekam ich dann Rückenschmerzen, die in die Oberschenkel ausstrahlten. Ich konnte kaum trainieren. Aber Physiotherapeut Klaus Eder und Nationalmannschaftsarzt Dr. Müller-Wohlfahrt haben praktisch rund um die Uhr mit mir gearbeitet. Mit bemerkenswerten Resultat: Ich konnte alle Spiele von der ersten bis zur letzten Sekunde einschließlich Verlängerung spielen. Holprig bei der Vorbereitung, danach lief es prima. Das sollte uns auch Optimismus für einen Torsten Frings und einen Christoph Metzelder geben. Es ist noch ausreichend Zeit, wieder fit zu werden und in Form zu kommen.

Frage: 1993 kam es am Rande des US-Cups zu einem Gespräch zwischen Ihnen und dem damaligen Bundestrainer Berti Vogts. Beobachter sagen, damals wurde die Grundlage für den Turniersieg in England gelegt. Wie kam es zu dieser Aussprache?

Sammer: Als wir Spieler aus der ehemaligen DDR 1990 dazukamen, zum ersten Länderspiel nach der Wiedervereinigung, haben wir unsere eigene Geschichte mitgebracht. Ulf Kirsten, Andreas Thom, Perry Bräutigam und ich waren damals beim Spiel gegen die Schweiz im Dezember 1990 in Stuttgart dabei, Thomas Doll kam später noch dazu. Wir waren als Typen geprägt von unserer Herkunft. Berti Vogts hat uns und speziell mir vorgeworfen, dass wir zu verschlossen seien. Vogts hat diese Zurückhaltung wohl als Misstrauen empfunden, als Zeichen dafür, dass wir uns in der Nationalmannschaft nicht richtig wohl fühlen würden. Dieser Zustand dauerte zweieinhalb Jahre an. Beim US-Cup kam dann der Wendepunkt. Aus einer großen Unzufriedenheit heraus habe ich ihn um ein Gespräch gebeten. Während wir am Strand von Miami spazieren gingen, erzählte ich ihm von unserer Vergangenheit, und warum wir uns nicht so offen geben konnten, wie er sich das wünschte. Es war ein Gespräch von Mensch zu Mensch. Diese sehr persönliche Unterhaltung war für meine Laufbahn in der Nationalmannschaft der absolute Wendepunkt. Ich habe Berti Vogts seine menschlichen Qualitäten immer sehr hoch angerechnet.

Frage: Wie frisch ist bei Ihnen noch die Erinnerung an den Sommer 1996? Erinnern Sie sich etwa noch genau an ihr 2:1 im Viertelfinale gegen die Kroaten?

Sammer: Ganz klar, natürlich. Mir ist ohnehin die gesamte Europameisterschaft noch immer sehr präsent. Wir als Mannschaft hatten viele Rückschläge wegzustecken. Jürgen Kohler schied schon nach ein paar Minuten im ersten Spiel gegen die Tschechen mit Innenbandriss aus. Jürgen Klinsmann erlitt einen Muskelfaserriss in der Wade. Thomas Helmer musste nach jedem Spiel von Kopf bis Fuß bandagiert werden (lacht). Wir mussten für den Erfolg einen unheimlichen Aufwand betreiben.

Frage: Aufgrund von Verletzungen und Gelbsperren waren zur Halbzeit des Endspiels nur noch zwölf von ursprünglich 19 Feldspielern einsatzbereit.

Sammer: So war das. Wir haben Jens Todt extra noch nachnominiert. Das waren insgesamt schon erschwerte Bedingungen.

Frage: War die "Toughness", die körperliche und mentale Härte, das herausragende Attribut des Europameisters 1996, vielleicht mehr noch als die spielerische Klasse der Mannschaft?

Sammer: Die Italiener waren die taktische beste Mannschaft, auch wenn sie bereits in der Vorrunde ausgeschieden sind. Bei unserem 0:0 gegen Italien hatten wir etwas Glück und dürfen uns bei Andreas Köpke bedanken, der den Elfmeter von Gianfranco Zola gehalten hat. Alles zusammen genommen, waren wir aber die beste Mannschaft des Turniers. Körperlich waren wir topfit. Wir haben Halbfinale und Finale mit Verlängerung gespielt und eine Top-Physis bewiesen. Wir beherrschten unser 3-5-2-System und verfügten über eine gewisse Unberechenbarkeit. Wir hatte einige herausragende Techniker, aber unsere Trumpfkarte war der Zusammenhalt und der kollektive Willen, dieses Turnier nur als Sieger zu beenden. Spielerisch und taktisch gab es Bessere, aber in der Summe konnte uns keiner schlagen. Für einen Sieg im Elfmeterschießen über die Engländer brauchte es dazu auch ein Quäntchen Glück.

Frage: Zweimal Kuntz, Häßler, Strunz, Reuter, Ziege und schließlich Möller haben gegen die Engländer ihre Elfmeter verwandelt. Hätten Sie auch gewollt, oder war die Reihenfolge festgelegt?

Sammer: Um Gottes Willen, ich habe mich immer gescheut. Ich bin für diese Sache viel zu überlegt. Beim Anlauf habe ich an die rechte Ecke gedacht, dann wuchs die Angst, dass hierhin doch der Torwart springt, also doch lieber in die Mitte - und wenn gar nichts hilft, dann eben doch ins linke Eck. Weil ich wusste, wie unsicher ich vom Punkt aus bin, habe ich es immer abgelehnt, Elfmeter zu schießen, sowohl beim Turnier als auch in der Bundesliga.

Frage: Ein Schuss von Oliver Bierhoff in der fünften Minute der Verlängerung des Finales gegen die Tschechische Republik brachte Deutschland den dritten Titelgewinn bei einer Europameisterschaft. Was machte Matthias Sammer direkt nach Bierhoffs "Golden Goal"?

Sammer: Es war ein sensationelles Gefühl, gerade aufgrund der Rückschläge, die wir hatten überwinden müssen. Das setzte sich ja im Finale mit der Fehlentscheidung und dem unberechtigten Elfmeter fort. Zudem hielten die meisten Fans im Wembley-Stadion zu den Tschechen, weil wir im Halbfinale die Engländer eliminiert hatten. Ich weiß noch die Sekunden nach Olivers Golden Goal: Wir lagen uns in den Armen. Wolfgang Niersbach stand schon neben mir auf dem Platz. Und dann sagte ich: "Wolfgang, Wolfgang, schau´ bloß nicht raus zum Linienrichter, der hat die Fahne oben". Irgendein Spieler, ich meine es war Stefan Kuntz, stand wohl in der Sichtlinie des Linienrichters, und den hatte er Abseits gesehen. Also, ich sag’ immer wieder „Schau´ da nicht hin.“ Völlig blöd im Nachhinein, weil die Entscheidung gefällt wurde, unabhängig davon, ob wir rüberschauen oder nicht (lacht). Dann schritt der Schiedsrichter Pierluigi Pairetto zu seinem Linienrichter, aber überstimmte dessen Entscheidung. Dann brachen natürlich alle Dämme. Die andere Geschichte ist schon oft erzählt worden, aber ich werde sie nie vergessen: Bundeskanzler Helmut Kohl gratulierte uns noch in der Kabine. Anschließend wurde Mehmet Scholl gefragt: "Wie war es denn, als Helmut Kohl in der Kabine war?". Und Mehmet antwortete: "Eng".

Den zweiten Teil des Gesprächs der Woche mit Matthias Sammer finden Sie hier.

[th/cm]

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68 Tage vor dem Auftaktspiel zur Fußball-Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz blickt DFB-Sportdirektor Matthias Sammer zurück auf den letzten großen Titelgewinn der deutschen Nationalmannschaft. Angetrieben von Sammer und einem unbändigen Willen, stürmte das Nationalteam im Sommer 1996 bis ins EURO-Finale von Wembley, in dem die Mannschaft dank einer weiteren Energieleistung die Tschechische Republik mit 2:1 schlug.

„Wir hatte herausragende Techniker im Team, aber unsere Trumpfkarte war der Zusammenhalt und der kollektive Willen, dieses Turnier nur als Sieger zu beenden. Spielerisch und taktisch gab es Bessere, aber in der Summe konnte uns keiner schlagen“, resümiert Matthias Sammer ein Turnier, bei dem Deutschland trotz der katastrophalen Verletzungsserie am Ende triumphierte.

Der DFB-Sportdirektor erklärt im ersten Teil des aktuellen „DFB.de-Gesprächs der Woche“ mit den DFB-Internetredakteuren Christian Müller und Thomas Hackbarth, warum er im Halbfinale gegen England keinen Elfmeter schoss und was er Sekunden nach Oliver Bierhoffs „Golden Goal“ mit dem heutigen DFB-Generalsekretär Wolfgang Niersbach zu besprechen hatte. Und Sammer, der vor der EM 1996 an Verletzungen laborierte, macht Torsten Frings und Christoph Metzelder Mut: "Es ist noch ausreichend Zeit, wieder fit zu werden und in Form zu kommen."

Im zweiten Teil des Gesprächs zieht Sammer eine Bilanz seines nun zweijährigen Wirkens als DFB-Sportdirektor.

Frage: Die deutsche Mannschaft wird als ein Titelfavorit für die in 68 Tagen beginnende EURO 2008 gehandelt. Herr Sammer, haben Sie selbst im Frühjahr 1996 an den Titelgewinn bei der Europameisterschaft in England geglaubt?

Matthias Sammer: Spieler sehen die Vorlaufzeit vor einem großen Turnier gelassener als viele Fans. Es ist ja völlig okay, in Titeldimensionen zu denken. Doch man muss aufpassen, denn wenn der Blick allzu sehr auf das Fernziel gerichtet wird, leidet schnell die Tagesarbeit. Über die Träume vom Titel darf der Spieler nicht den harten Alltag vergessen, der zum Erreichen des Ziels unabdingbar bewältigt werden muss, sowohl auf als auch außerhalb des Platzes. Fußball ist nun mal eine Mannschaftssportart. Die Gruppe muss an einem Strang ziehen, die Individualisten ihre Stärken in das Gesamtwerk einbringen. Das alles ist uns bei der Europameisterschaft 1996 ganz gut gelungen.

Frage: 1992 unterlag die Nationalmannschaft im Finale der Europameisterschaft gegen den Außenseiter Dänemark. Bei der WM 1994 schied das DFB-Team bereits im Viertelfinale aus. Lastete 1996 aufgrund der Enttäuschungen bei den beiden vergangenen Turnieren ein besonderer Druck auf der Mannschaft?

Sammer: Wir hätten 1992 Europameister werden müssen, da gibt es gar keine Diskussionen. Schon in der Vorrunde hatten wir Probleme. Erst musste uns "Icke" Häßler, der bekanntlich kurz vor dem Abpfiff den Ausgleich erzielte, gegen die GUS retten, dann haben wir gegen die Holländer verloren. Die Schweden haben wir im Halbfinale verdient geschlagen. Dann kam das Endspiel gegen die Dänen. Nachdem wir die ersten beiden Torchancen nicht genutzt hatten, scheiterten wir mehr an uns selbst als an einem Gegner, der völlig losgelöst aufspielte. Auch 1994 hatten wir eine hervorragende Mannschaft. Wenn Rudi Völlers vermeintliches Abseitstor zählt, führen wir doch gegen Bulgarien 2:0, dann ist das Spiel entschieden. Beide Teams, 1992 und 1994, hatten aber eben nicht diesen bedingungslosen Zusammenhalt wie die Europameister von 1996.

Frage: Sie wurden 1996 zu "Europas Fußballer des Jahres" gewählt und waren während des Turniers der Garant für den Erfolg. War Ihnen klar, dass Sie mit einer Bombenform ins Turnier gehen?

DFB-Sportdirektor Matthias Sammer: Bilder eine Laufbahn

Sammer: Das hat sich nicht unbedingt angedeutet. Borussia Dortmund wurde zwar Meister, aber ich kam aufgrund einiger kleiner Blessuren nicht in meinen Rhythmus. Kurz vor der EURO bekam ich dann Rückenschmerzen, die in die Oberschenkel ausstrahlten. Ich konnte kaum trainieren. Aber Physiotherapeut Klaus Eder und Nationalmannschaftsarzt Dr. Müller-Wohlfahrt haben praktisch rund um die Uhr mit mir gearbeitet. Mit bemerkenswerten Resultat: Ich konnte alle Spiele von der ersten bis zur letzten Sekunde einschließlich Verlängerung spielen. Holprig bei der Vorbereitung, danach lief es prima. Das sollte uns auch Optimismus für einen Torsten Frings und einen Christoph Metzelder geben. Es ist noch ausreichend Zeit, wieder fit zu werden und in Form zu kommen.

Frage: 1993 kam es am Rande des US-Cups zu einem Gespräch zwischen Ihnen und dem damaligen Bundestrainer Berti Vogts. Beobachter sagen, damals wurde die Grundlage für den Turniersieg in England gelegt. Wie kam es zu dieser Aussprache?

Sammer: Als wir Spieler aus der ehemaligen DDR 1990 dazukamen, zum ersten Länderspiel nach der Wiedervereinigung, haben wir unsere eigene Geschichte mitgebracht. Ulf Kirsten, Andreas Thom, Perry Bräutigam und ich waren damals beim Spiel gegen die Schweiz im Dezember 1990 in Stuttgart dabei, Thomas Doll kam später noch dazu. Wir waren als Typen geprägt von unserer Herkunft. Berti Vogts hat uns und speziell mir vorgeworfen, dass wir zu verschlossen seien. Vogts hat diese Zurückhaltung wohl als Misstrauen empfunden, als Zeichen dafür, dass wir uns in der Nationalmannschaft nicht richtig wohl fühlen würden. Dieser Zustand dauerte zweieinhalb Jahre an. Beim US-Cup kam dann der Wendepunkt. Aus einer großen Unzufriedenheit heraus habe ich ihn um ein Gespräch gebeten. Während wir am Strand von Miami spazieren gingen, erzählte ich ihm von unserer Vergangenheit, und warum wir uns nicht so offen geben konnten, wie er sich das wünschte. Es war ein Gespräch von Mensch zu Mensch. Diese sehr persönliche Unterhaltung war für meine Laufbahn in der Nationalmannschaft der absolute Wendepunkt. Ich habe Berti Vogts seine menschlichen Qualitäten immer sehr hoch angerechnet.

Frage: Wie frisch ist bei Ihnen noch die Erinnerung an den Sommer 1996? Erinnern Sie sich etwa noch genau an ihr 2:1 im Viertelfinale gegen die Kroaten?

[bild2] Sammer: Ganz klar, natürlich. Mir ist ohnehin die gesamte Europameisterschaft noch immer sehr präsent. Wir als Mannschaft hatten viele Rückschläge wegzustecken. Jürgen Kohler schied schon nach ein paar Minuten im ersten Spiel gegen die Tschechen mit Innenbandriss aus. Jürgen Klinsmann erlitt einen Muskelfaserriss in der Wade. Thomas Helmer musste nach jedem Spiel von Kopf bis Fuß bandagiert werden (lacht). Wir mussten für den Erfolg einen unheimlichen Aufwand betreiben.

Frage: Aufgrund von Verletzungen und Gelbsperren waren zur Halbzeit des Endspiels nur noch zwölf von ursprünglich 19 Feldspielern einsatzbereit.

Sammer: So war das. Wir haben Jens Todt extra noch nachnominiert. Das waren insgesamt schon erschwerte Bedingungen.

Frage: War die "Toughness", die körperliche und mentale Härte, das herausragende Attribut des Europameisters 1996, vielleicht mehr noch als die spielerische Klasse der Mannschaft?

Sammer: Die Italiener waren die taktische beste Mannschaft, auch wenn sie bereits in der Vorrunde ausgeschieden sind. Bei unserem 0:0 gegen Italien hatten wir etwas Glück und dürfen uns bei Andreas Köpke bedanken, der den Elfmeter von Gianfranco Zola gehalten hat. Alles zusammen genommen, waren wir aber die beste Mannschaft des Turniers. Körperlich waren wir topfit. Wir haben Halbfinale und Finale mit Verlängerung gespielt und eine Top-Physis bewiesen. Wir beherrschten unser 3-5-2-System und verfügten über eine gewisse Unberechenbarkeit. Wir hatte einige herausragende Techniker, aber unsere Trumpfkarte war der Zusammenhalt und der kollektive Willen, dieses Turnier nur als Sieger zu beenden. Spielerisch und taktisch gab es Bessere, aber in der Summe konnte uns keiner schlagen. Für einen Sieg im Elfmeterschießen über die Engländer brauchte es dazu auch ein Quäntchen Glück.

Frage: Zweimal Kuntz, Häßler, Strunz, Reuter, Ziege und schließlich Möller haben gegen die Engländer ihre Elfmeter verwandelt. Hätten Sie auch gewollt, oder war die Reihenfolge festgelegt?

Sammer: Um Gottes Willen, ich habe mich immer gescheut. Ich bin für diese Sache viel zu überlegt. Beim Anlauf habe ich an die rechte Ecke gedacht, dann wuchs die Angst, dass hierhin doch der Torwart springt, also doch lieber in die Mitte - und wenn gar nichts hilft, dann eben doch ins linke Eck. Weil ich wusste, wie unsicher ich vom Punkt aus bin, habe ich es immer abgelehnt, Elfmeter zu schießen, sowohl beim Turnier als auch in der Bundesliga.

Frage: Ein Schuss von Oliver Bierhoff in der fünften Minute der Verlängerung des Finales gegen die Tschechische Republik brachte Deutschland den dritten Titelgewinn bei einer Europameisterschaft. Was machte Matthias Sammer direkt nach Bierhoffs "Golden Goal"?

Sammer: Es war ein sensationelles Gefühl, gerade aufgrund der Rückschläge, die wir hatten überwinden müssen. Das setzte sich ja im Finale mit der Fehlentscheidung und dem unberechtigten Elfmeter fort. Zudem hielten die meisten Fans im Wembley-Stadion zu den Tschechen, weil wir im Halbfinale die Engländer eliminiert hatten. Ich weiß noch die Sekunden nach Olivers Golden Goal: Wir lagen uns in den Armen. Wolfgang Niersbach stand schon neben mir auf dem Platz. Und dann sagte ich: "Wolfgang, Wolfgang, schau´ bloß nicht raus zum Linienrichter, der hat die Fahne oben". Irgendein Spieler, ich meine es war Stefan Kuntz, stand wohl in der Sichtlinie des Linienrichters, und den hatte er Abseits gesehen. Also, ich sag’ immer wieder „Schau´ da nicht hin.“ Völlig blöd im Nachhinein, weil die Entscheidung gefällt wurde, unabhängig davon, ob wir rüberschauen oder nicht (lacht). Dann schritt der Schiedsrichter Pierluigi Pairetto zu seinem Linienrichter, aber überstimmte dessen Entscheidung. Dann brachen natürlich alle Dämme. Die andere Geschichte ist schon oft erzählt worden, aber ich werde sie nie vergessen: Bundeskanzler Helmut Kohl gratulierte uns noch in der Kabine. Anschließend wurde Mehmet Scholl gefragt: "Wie war es denn, als Helmut Kohl in der Kabine war?". Und Mehmet antwortete: "Eng".

Den zweiten Teil des Gesprächs der Woche mit Matthias Sammer finden Sie hier.