Matthäus wird 60: "Für mich ändert sich dadurch nichts"

20 Jahre in der Nationalmannschaft, Europameister 1980, Weltmeister 1990, siebenmaliger deutscher Meister, zweimaliger DFB-Pokalsieger. Die Liste der Erfolge des Lothar Matthäus ist lang. Mit DFB.de spricht der - inzwischen als Fußballexperte tätige - Weltmeister über seine großartige Spielerkarriere, seine Schritte als Trainer und was er in seiner Karriere besonders bereut. Anlass ist sein 60. Geburtstag am heutigen Sonntag - eine Zahl, die ihn nur wenig beeindruckt.

DFB.de: Herr Matthäus, Sie werden 60 Jahre alt. Wie wichtig sind Ihnen Geburtstage?

Lothar Matthäus: Der größte Wert der Geburtstage bestand für mich in den vergangenen Jahren darin, dass sie für mich ein willkommener Anlass sind, meine Freunde zu treffen. Ich lebe ja in Ungarn, da sieht man sich seltener. Umso schöner ist es dann, wenn man Zeit miteinander verbringt. Ich erinnere mich gerne an viele gemütliche Abende und Nächte, die im Kreis der Familie begonnen und in einer Männerrunde geendet haben. Schon im vergangenen Jahr war eine solche Zusammenkunft an meinem Geburtstag coronabedingt nicht möglich, wir haben sie dann im Sommer nachgeholt. Ich hoffe, dass dies auch in diesem Jahr möglich sein wird.

DFB.de: Beim Blick auf die Geburtstage der vergangenen sechs Jahrzehnte – gibt es ein Geschenk, das Ihnen besonders viel bedeutet?

Matthäus: Auf Geschenke lege ich keinen großen Wert. Ich freue mich immer, wenn das Geschenk eine Wertschätzung zum Ausdruck bringt, wenn ich merke, dass sich jemand Gedanken gemacht hat, um mir eine Freude zu bereiten. Spontan fällt mir ein Geschenk von Franz Beckenbauer ein. Zu meinem 40. Geburtstag hat er mir Jahrgangswein von 1961, meinem Geburtsjahr, geschenkt. Eine Kollektion Rotwein. Das hat mir damals imponiert, drei Flaschen davon habe ich immer noch zu Hause im Weinregal und halte sie in Ehren.  

DFB.de: Hat die Zahl 60 eine Bedeutung für Sie? Sind Sie erschrocken, wenn Sie an diese Zahl denken?

Matthäus: Null. Nein. Gar nicht. Ich bin schon deswegen nicht erschrocken, weil ich mich nicht wie 60 fühle. Ich bin gesund, mir geht’s gut, ich bin vergleichsweise fit. Das biologische Alter kann man nicht beeinflussen, jetzt steht bei mir eben eine Sechs davor, aber für mich ändert sich dadurch nichts. Ich lebe mein Leben nicht anders, nur weil aus der 59 eine 60 wird. Ich habe für mich eine gute Mischung gefunden, ich achte auf die Gesundheit, gehe jeden Tag laufen, aber ich übertreibe es nicht und weiß das Leben durchaus zu genießen.

DFB.de: Lothar Matthäus wird Sechziger, diese Schlagzeile war früher undenkbar…

Matthäus: Weiß ich gar nicht, diese Antipathie habe ich nie geteilt. 1860 München war mir immer sympathisch, ich freue mich sehr, wenn der Verein Erfolg hat und bin der Überzeugung, dass München als Stadt zwei Vereine in der Bundesliga vertragen kann. Die Löwen haben eine große Geschichte, für mich gehören sie zu den großen Traditionsvereinen in Deutschland. Leider haben sie in den vergangenen zehn, 15 Jahren einige Fehler gemacht. Ich wünsche ihnen sehr, dass sie sich davon nachhaltig erholen.  

DFB.de: Joachim Löw hat angekündigt, nach der EURO als Bundestrainer aufzuhören. Bei den Kandidaten für die Nachfolge fällt oft auch Ihr Name. Vor ein paar Jahren wäre dies noch schwer vorstellbar gewesen, Ihr Image in der Öffentlichkeit war… ausbaufähig. Wie sehr sich dies gewandelt hat, wird durch die Bundestrainer-Spekulationen unterstrichen. Wie nehmen Sie dies wahr? Streichelt sowas Ihre Seele?

Matthäus: Ich will gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Mir ist bewusst, dass ich Fehler gemacht und damit dazu beigetragen habe, dass mein Ruf gelitten hat. Bei mir wurden aus kleineren Fehltritten große Fehler und aus jedem Fehler ein großer Skandal, damit musste ich umgehen lernen.

DFB.de: Warum ist das so?

Matthäus: Als ich zwanzig Jahre alt war, habe ich eine große Bühne betreten und zwei, zweieinhalb Jahrzehnte lang war meine Karriere eine große Erfolgsgeschichte mit nur kleineren Abstrichen. Ich habe erfahren müssen, dass in dieser Konstellation einige nur darauf warten, dass etwas Negatives passiert. Angenehm war es nicht. Es ist allerdings nicht so, dass meine Seele gestreichelt werden müsste. Ich räume aber ein, dass es mich auch nicht furchtbar unglücklich macht, wenn ich lese, dass mir viele Menschen diesen Posten zutrauen.

DFB.de: Sind Ihnen dabei die Stimmen aus dem Fußball besonders wichtig?

Matthäus: Mich hat zum Beispiel der Ritterschlag gefreut, den mir Pal Dardai erteil hat. Er hat gesagt, dass er gerne mein Co-Trainer wird, wenn ich irgendwo als Cheftrainer anfangen sollte. Pal war mein Spieler, insofern bedeutet mir seine Einschätzung etwas. Noch mehr, weil ich in meiner Zeit als ungarischer Nationaltrainer auf die Jugend gesetzt und Pal irgendwann aussortiert habe. Er hätte also Grund, nachtragend zu sein, und es spricht für ihn, dass er das nicht ist. Grundsätzlich ist es so, dass die Menschen, die mich als Trainer erlebt haben, am besten einschätzen können, welche Fähigkeiten ich habe.

DFB.de: Sie waren Vereinstrainer bei Rapid Wien, Partizan Belgrad, Atlético Paranaense, Red Bull Salzburg und Maccabi Netanya sowie Nationaltrainer Ungarns und Bulgariens. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Trainerkarriere?

Matthäus: Ich habe nicht Paris Saint-Germain trainiert, nicht den FC Barcelona, nicht den FC Bayern München. Aber ich habe auf meinen Stationen fast immer viel aus den vorhandenen Möglichkeiten gemacht. Manchmal erheblich mehr, als uns zugetraut wurde, wobei bei mir der Maßstab aufgrund meiner Erfolge als Spieler stets sehr hoch angesetzt wurde. Es hat Menschen gegeben, die sich durch mein Engagement erhofft haben, dass wir mit Partizan Belgrad die Champions League gewinnen oder mit der ungarischen Nationalmannschaft sofort an einer Weltmeisterschaft teilnehmen. Diese Hoffnungen habe ich nicht erfüllt, sie waren aber auch nicht realistisch und es war auch nichts, das ich im Vorfeld versprochen hatte. 

DFB.de: Auf welcher Trainerstation haben Sie am meisten bewirkt?

Matthäus: Überall. (lacht) Mit Belgrad zum Beispiel wurden wir Meister in Serbien, das war keine Überraschung, aber dass wir uns in den Playoffs zur Champions League gegen ein damals großes Newcastle United durchgesetzt haben und in die Gruppenphase eingezogen sind - das war dann eine große Überraschung. Selbst die Verantwortlichen in Belgrad waren überrascht, für diesen Fall hatten sie mir einen exorbitanten Bonus in den Vertrag geschrieben, der ihnen dann richtig wehgetan hat. (lacht) Es mag vermessen klingen, aber ich bin der Meinung, dass alle meine Stationen von meiner Arbeit profitiert haben. Rapid Wien beispielsweise wurde zwei Jahre nach meinem Abschied Meister, und dabei hatten viele Spieler entscheidenden Anteil, die ich im Nachwuchs oder in der zweiten Liga entdeckt hatte und die dann von mir geformt wurden. Auf allen meinen Stationen habe ich viel mit jungen Spielern gearbeitet, mit sehr vielen bin ich heute noch im Austausch. Sie rufen an, wenn sie einen Tipp haben wollen, manchmal auch einfach nur so, um zu hören, wie es geht. Für mich ist das eine Form von Anerkennung, die mir viel bedeutet. Mir ist das jedenfalls viel wichtiger, als die eine oder andere negative Schlagzeile, die es auch gegeben hat.

DFB.de: Warum glauben Sie, dass die deutsche Öffentlichkeit mehr von den Misserfolgen als von den Erfolgen Notiz genommen hat? Ist diese Lust, einen Star fallen zu sehen, ein deutsches Phänomen?

Matthäus: Ich weiß nicht, ob es ein ausschließlich deutsches Phänomen ist, aber es ist ein Phänomen, das es leider auch in Deutschland gibt. Ich bin dafür ja nur ein Beispiel. Wenn ich an Boris Becker denke, dann ist es bei ihm extremer. Wir sind nachts aufgestanden seinetwegen, haben uns um vier Uhr morgens Tennisspiele angeschaut, haben ihn bewundert. Ein anderes Beispiel ist Franz Beckenbauer, der unserem Land so viel gegeben hat wie kaum einer sonst. Niemand hat Narrenfreiheit, weil er ein guter Sportler war. Aber hier und da wünschte ich mir mehr Augenmaß und weniger Lust, sich daran zu weiden, wenn ein Star Probleme hat.

DFB.de: Gibt es Entscheidungen im Rahmen Ihrer Trainerkarriere, die Sie bereuen?

Matthäus: Nur ganz wenige. Ich bereue es nicht, nach Belgrad gegangen zu sein. Ich bereue es nicht, in Ungarn die Nationalmannschaft übernommen zu haben. Ich hatte eine tolle Zeit in Israel.

DFB.de: Bei Maccabi Netanya haben Sie Ihren Vertrag nach nur einer Saison aufgelöst.

Matthäus: Trotzdem bereue ich es nicht, dort gewesen zu sein. Ich plädiere immer dafür, genauer hinzuschauen. Es ist leicht, aus meinem Jahr dort einen Misserfolg zu machen. Es gab damals eine Finanzkrise in deren Folge der Besitzer den Verein verkauft hat. Dann wurde der Geldhahn zugedreht - und dann hat man eben nur ein Jahr. Im Rückblick habe ich im Laufe meiner Zeit als Trainer nur einen richtig großen Fehler gemacht.

DFB.de: Und zwar?

Matthäus: Brasilien. Ich war der erste europäische Trainer, der dort in der höchsten Liga arbeiten durfte, für mich war das eine Ehre. Dennoch habe ich nach nur zwei Monaten bei Atlético Paranaense die Zelte wieder abgebrochen und dass, obwohl wir in diesen acht Wochen kein einziges Pflichtspiel verloren hatten. Das bereue ich bis heute. Es gab dafür damals persönliche Gründe – und der Präsident des Vereins hat mich auch verstehen können – aber es bleibt ein Fehler. Dieser Fehler beschäftigt mich immer noch und ich bin umso dankbarer, wie wohlgesonnen mir die Menschen in Brasilien unverändert sind.

DFB.de: Die Karriere des Spielers Lothar Matthäus ist größer als die des Trainers. Sie gehört zu den größten Fußballerkarrieren in Deutschland und weltweit. Sie haben viele große Spiele gespielt, viele gute. Welches Ihrer 150 Länderspiele war das zweitbeste?

Matthäus: Warum fragen Sie nach dem zweitbesten?

DFB.de: Weil die Antwort auf das beste Spiel klar ist und schon häufig gegeben wurde: Das 4:1 gegen Jugoslawien beim ersten Gruppenspiel der WM 1990 in Italien.

Matthäus: Korrekt. Das zweitbeste also? Schwer zu sagen. Spontan fällt mir ein Spiel bei der WM 1986 ein. Im Viertelfinale haben wir gegen Gastgeber Mexiko gespielt, wir sind nach Elfmeterschießen weitergekommen, nach 90 Minuten stand es noch torlos. Es war kein spektakuläres Ergebnis, es gab keine Traumtore, aber es war sehr intensiv. In diesem Spiel ist mir sehr viel gelungen, ich hatte viele gute Aktionen, hatte die ganze Zeit ein gutes Gefühl und unglaublich viel Spaß auf dem Rasen. Auch habe ich im Elfmeterschießen meinen Elfmeter verwandelt. Dieses Spiel liegt auf jeden Fall weit oben in meiner persönlichen Bestenliste.

DFB.de: Welche Länderspiele waren im Rahmen Ihrer Entwicklung als Nationalspieler besonders wichtig?

Matthäus: Kein Länderspiel war unwichtig. Besonders prägend war die Südamerikareise 1982 mit Spielen gegen Brasilien und Argentinien. Wir haben damals am 21. März, an meinem 21. Geburtstag, vor 170.000 Zuschauern im Maracana gegen die Selecao gespielt, für mich war es die größte Kulisse überhaupt. Diese Partie und das Spiel kurz darauf gegen Argentinien waren meine ersten internationalen Ausrufezeichen. Es waren kleine Meilensteine und auch die ersten Länderspiele, bei denen ich in der Startelf stand.

DFB.de: Im Verein waren Sie immer torgefährlich, in der Nationalmannschaft hat es gedauert, bis Sie als Torschütze in Erscheinung traten. Ihr erstes Länderspieltor haben Sie erst im 33. Länderspiel erzielt.

Matthäus: Richtig, im April 1985 gegen die Tschechoslowakei. Es wurde auch langsam Zeit, natürlich wollte ich unbedingt auch in der Nationalmannschaft mein erstes Tor erzielen. In Prag war es dann soweit, es war ein Volley, ein schönes Tor nach einer Flanke von Thomas Berthold. Mitunter wird dieses Spiel als Wendepunkt in meiner Nationalmannschaftskarriere bezeichnet. So weit würde ich nicht gehen, aber natürlich steigt die Anerkennung in der Mannschaft mit dem Beitrag, den man zum Erfolg leistet. Entscheidender war in dieser Phase aber, dass ich von dem Vertrauen und der Wertschätzung profitiert habe, die mir von Franz Beckenbauer entgegengebracht wurden. Für mein Standing innerhalb des Teams war es auch förderlich, dass ich nun Spieler von Bayern München war. Wenn wir über Meilensteine reden, darf das Spiel 1987 gegen Israel nicht vergessen werden.

DFB.de: Weil?

Matthäus: Ich war damals zum ersten Mal Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Für mich war des eine Adelung, eine ganz besondere Ehre, auf die ich unglaublich stolz bin und schon damals war. Spielführer der Nationalmannschaft - mir war damals sehr bewusst, in welche Fußstapfen ich trete. Die Spielführerbinde um den Arm zu spüren, hat mich noch einmal beflügelt.

DFB.de: Ihr bestes Spiel war das 4:1 gegen Jugoslawien. War dieses Spiel auch das insgesamt beste Spiel, bei dem Sie mitgespielt haben?

Matthäus: Nein, da gab es andere, die ich höher einschätzen würde. Bei der WM 1990 waren die Partien gegen die Niederlande und England die Spiele, die auf dem höchsten Niveau abgelaufen sind. Es waren K.o.-Spiele, Spiele mit hoher Brisanz. Und eben Spiele, die dennoch fußballerisch auf einem hohen Niveau stattfanden, sowohl von der spielerischen als auch von der kämpferischen Seite her.

DFB.de: Was war die beste Entscheidung Ihrer Karriere als Nationalspieler?

Matthäus: Ganz klar: Die Entscheidung, den Elfmeter im WM-Finale 1990 nicht zu schießen. Ich hatte damals aus dem Pokalfinale 1984 gelernt, wo ich einen Elfmeter verschossen hatte, den ich nicht schießen wollte. 1990 war ich stärker und konnte deswegen Verantwortung übernehmen, in dem ich Verantwortung abgegeben habe. Mir wird häufig unterstellt, dass ich Angst hatte und deswegen gekniffen hätte. Das ist aus zwei Gründen falsch.

DFB.de: Nämlich?

Matthäus: Erstens hatte ich keine Angst. Und zweitens bin ich der Meinung, dass es ein Zeichen von Stärke gewesen wäre, sich diese Angst einzugestehen und die richtigen Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Verantwortungslos wäre es, sich die Angst nicht einzugestehen und einen Elfmeter zu schießen, den man nicht schießen will. Bei mir war es keine Angst, ich war ein guter Elfmeterschütze, ich hatte im Viertelfinale und im Halbfinale jeweils sicher verwandelt. Für mich hätte es unter normalen Umständen keinen Grund gegeben, nicht zu schießen. Aber dann musste ich im Finale die Schuhe wechseln und fühlte mich in den neuen Schuhen nicht zu 100 Prozent sicher. Es wäre Wahnsinn und wahnsinnig egoistisch gewesen, hätte ich dennoch geschossen. Für mich war es außerdem so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Andi Brehme den Strafstoß verwandelt.  Nicht nur er, es gab auch noch zwei, drei andere Spieler, bei denen ich ganz sicher war, dass sie dem Druck standhalten würden.

DFB.de: Zu den Superlativen gehört auch die größte Enttäuschung. Stimmt die Vermutung, dass Sie jetzt das verlorene WM-Finale 1986 gegen Argentinien nennen?

Matthäus: Wenn man ein WM-Finale verliert, ist das natürlich enttäuschend.

DFB.de: Franz Beckenbauer sagt heute, dass es womöglich ein Fehler war, Sie mit der Beschattung von Maradona zu beauftragen. Wären Sie heute zweimaliger Weltmeister ohne diese Entscheidung?

Matthäus: Das lässt sich hinterher leicht sagen. Ich finde, dass die Überlegungen damals richtig waren. Franz hatte mich ja mit eingebunden, so wie er es bei allen wichtigen Entscheidungen gemacht hat. Zu welchen Leistungen Maradona fähig war, muss man niemanden erzählen. Bis zum Finale hat er ein sensationelles Turnier gespielt. Für uns lag der Schlüssel zum Erfolg darin, Maradona aus dem Spiel zu nehmen. Und dieser Plan ging auf. Außerdem muss bedacht werden: 1986 war ich nicht der Unterschiedsspieler, ich war nicht Kapitän der Mannschaft. 1990 wäre es falsch gewesen, mich für Maradona zu opfern, 1986 nicht. Es waren andere Dinge, die nicht funktioniert haben. Toni Schumacher hat uns mit seinen Paraden ins Finale gebracht, aber er weiß selbst, dass dieses Endspiel nicht das beste Spiel seines Lebens war. Wenn man ein WM-Finale gewinnen will, müssen viele Details eines Plans aufgehen. 1986 war das nicht der Fall, an meiner Rolle im Finale lag es nicht.

DFB.de: Sie haben 150 Mal für Deutschland gespielt und sind damit Rekordnationalspieler – was bedeutet Ihnen dies?

Matthäus: Das hat sich halt so ergeben. (lacht) Ich hatte das Privileg, lange Fußballspielen zu können und auch als älterer Spieler noch genug Qualität zu haben. Ein Stück weit empfinde ich Genugtuung, weil mir nach meinen Verletzungen viele nicht mehr zugetraut haben, noch einmal zurückzukommen. Für mich war das Fußballspielen das größte Glück und ich bin froh, dass ich dies so lange tun konnte. Fußball war für mich Leidenschaft und Liebe. Die Auftritte für Deutschland waren für mich die größten Highlights - für dieses Land, für diesen Verband, mit diesem Trikot aufzulaufen - etwas Schöneres konnte es für mich nicht geben.

DFB.de: Wie gut erinnern Sie sich noch an den Schritt auf dem Weg zum Rekordnationalspieler?

Matthäus: Sehr gut. Mein erstes Spiel war die Partie gegen die Niederlande in Neapel bei der EM 1980. Wir haben 3:2 gewonnen, als ich eingewechselt wurde, stand es 3:0. Für mich ging es eigentlich gut los, ich hatte ziemlich schnell eine gute Aktion mit einem guten Abschluss. Was danach kam, war weniger gut.

DFB.de: Sie haben einen Elfmeter verschuldet, das Spiel wurde noch einmal knapp.

Matthäus: Man kann es so erzählen. Oder ausführlicher und richtiger. Uli Stielike hat im Mittelfeld einen Ball verloren, wir standen schlecht gestaffelt, Bennie Wijnstekers lief ziemlich frei auf unser Tor zu. Aufgrund meiner Schnelligkeit habe ich ihn noch eingeholt, kurz vor dem Strafraum, konnte aber nur noch Foul spielen. Das habe ich getan. Dann gab es Elfmeter, weil Wijnstekers bis weit in den Strafraum geflogen ist. Es war eine klare Fehlentscheidung. Und sie hat dazu geführt, dass ich bei Jupp Derwall nicht sonderlich wohlgelitten war, um es freundlich zu formulieren. Ich hätte mir gewünscht, dass er mehr zu mir steht, dass er richtig einschätzt, dass es ein Fehler des Schiedsrichters war und meinen Mut anerkennt, in dieser Situation mit dem Foul Verantwortung übernommen zu haben.  

DFB.de: Stimmt es, dass Sie nicht ausschließlich glücklich waren, für die EM 1980 nominiert worden zu sein?

Matthäus: Das wird immer mal wieder behauptet, ist aber völliger Unsinn. Ich hatte damals einen Urlaub gebucht, ja, ich war 19 Jahre alt und habe mich nach einer langen Saison auch auf den Urlaub gefreut. Aber noch mehr habe ich mich gefreut, als ich für die Europameisterschaft nominiert wurde. Für mich war es damals das Größte überhaupt, dass ich in so jungen Jahren in diesem Elitekreis dabei sein konnte.

DFB.de: Auf das erste Länderspiel folgten 149 weitere Einsätze für Deutschland. Sehen Sie einen Spieler, der Ihre Marke eines Tages überbieten und Sie als deutschen Rekordnationalspieler ablösen kann?

Matthäus: Die wenigste Rekorde sind für die Ewigkeit. Robert Lewandowski schickt sich gerade an, Gerd Müllers Rekord von 40 Toren in einer Bundesligasaison zu überbieten. Insofern bin ich mir sicher, dass mein Rekord eines Tages fallen wird, es sieht aber nicht so aus, als sei dieser Tag nah. Ich sehe ein paar Spieler die "gefährlich" sind. Manuel Neuer zum Beispiel. Für mich ist er klar der Beste der Welt und wenn er sein Niveau noch vier, fünf Jahre halten kann, wenn er Gianluigi Buffon nacheifert, dann könnte er mich überholen. 

DFB.de: Mit 25 WM-Einsätzen sind Sie weltweit WM-Rekordspieler. Möglich ist, dass Lionel Messi bei der WM 2022 vorbeizieht. Fürchten Sie dieses Szenario?

Matthäus: Ich würde es ihm gönnen, wobei er noch einen weiten Weg vor sich hat. Er steht jetzt bei 19 Spielen, Argentinien müsste bei der WM in Katar also weit kommen, wenn er mich ein- und überholen will. Aber das ist natürlich alles andere als ausgeschlossen. Er hat die Qualität und Argentinien hat die Qualität. Für mich wäre es alles andere als eine Schande, von einem Spieler wie Messi überholt zu werden. Ich wäre dann der Erste, der ihm gratuliert.

DFB.de: Sie werden 60 Jahre alt. Als Sie im 30. Lebensjahr waren, wurden Sie Weltmeister. Eine Hälfte Ihres Lebens laufen Sie als Weltmeister rum, die andere nicht.

Matthäus: Der Titel kam in der Mitte meines Lebens, aber auch in der Mitte meiner Karriere. Vereinfacht gesagt habe ich zehn Jahre gespielt, bis ich Weltmeister wurde und zehn Jahre, nachdem ich Weltmeister geworden war. Ich finde, an die Spitze zu kommen war schwierig, an der Spitze zu bleiben, war genauso schwierig. Die zweite Hälfte meiner Karriere, also die Zeit nach der WM 1990 war zugleich turbulenter und angenehmer als die zehn Jahre davor. Turbulenter, weil ich häufiger verletzt war, weil es zwar weitere große Erfolge, aber auch sehr bittere Niederlagen wie das Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United gab. Wenn man meine Karriere in diese zwei Hälften teilen will, dann hat jede ihre Vorzüge. In der zweiten Hälfte habe ich erheblich mehr verdient, auch wenn ich natürlich sagen muss, dass das nicht so wichtig ist. (lacht)

DFB.de: Sie waren 29, als Sie Weltmeister wurden. War dieser Zeitpunkt, dieses Alter, im Rückblick genau richtig, um einen solchen Erfolg zu haben?

Matthäus: Von meiner Person weg: Wir hatten eine Mannschaft, die insgesamt im richtigen Alter war. Mit Guido BuchwaldRudi VöllerPierre Littbarski, Brehme und mir standen im Finale fünf Spieler auf dem Rasen, die zehn Jahre zuvor gemeinsam in der U 21 gespielt haben. Man kann das vergleichen mit Neuer, Mats HummelsJérome BoatengBenedikt HöwedesSami Khedira und Mesut Özil, die 2009 U21-Europameister und fünf Jahre später in Brasilien Weltmeister wurden. Für den Zusammenhalt, für die Harmonie in der Mannschaft, ist ein solch gemeinsamer Weg wirklich wertvoll. Aus diesem Gefüge heraus kann dann Großes entstehen. Neben der Qualität der Spieler ist der Charakter der Mannschaft entscheidend für den Erfolg. Der gesamten Mannschaft - und nicht nur der Spieler, die auf dem Platz stehen. Wenn ich an 1990 denke, dann muss ich Paul Steiner erwähnen, er war der Kapitän der Bank. Olaf Thon hat sich sensationell verhalten, er hat akzeptiert, dass er trotz guter Leistungen in den Spielen und im Training im Finale nicht zum Zug gekommen ist. Das war groß. Wenn irgendjemand quergeschossen hätte, wären wir niemals Weltmeister geworden.

DFB.de: Ihre Nachfolger in der Nationalmannschaft stehen in diesem Sommer vor einem großen Turnier. Mit Blick auf den Charakter der Mannschaft und die Fähigkeiten der Spieler: Was trauen Sie dem Team zu?

Matthäus: Der deutsche Fußball und die deutsche Nationalmannschaft genießen weltweit nach wie vor und völlig zu Recht einen guten Ruf. Wir müssen uns nicht kleiner machen, als wir sind. Natürlich war die WM 2018 mit dem Aus in der Vorrunde ein herber Rückschlag, allerdings gilt unverändert: Gegen uns spielt niemand gern. Wir werden gefürchtet aufgrund der Qualität und aufgrund der Mentalität unserer Spieler. Es gab zuletzt ein paar Rückschläge, es wurden Fehler gemacht, es gab Unruhe. Und dann haben die Ergebnisse teilweise nicht gestimmt. Das gilt allerdings für viele andere große Nationen in ähnlicher Weise. Aber klar ist: Unsere Niederlagen dürfen wir nicht mit den Niederlagen anderer entschuldigen. Die Nationalmannschaft muss liefern. Und sie kann liefern.

DFB.de: Was macht Sie optimistisch?

Matthäus: Ich glaube, dass die Entscheidung von Joachim Löw, nach der EM seine Karriere als Bundestrainer zu beenden, zum richtigen Zeitpunkt gekommen ist. Nun haben alle Beteiligten Klarheit, eine möglicherweise quälende Diskussion wird somit von der Mannschaft ferngehalten. Ansonsten macht mich optimistisch, dass wir nach wie vor hohe Qualität in der Mannschaft haben. Noch einmal: Wir müssen uns nicht verstecken. Viele Spieler spielen bei den größten und besten Vereinen in den größten Ligen Europas. Natürlich traue ich unserer Mannschaft zu, bei der EM in eine gute Rolle zu.

DFB.de: Deutschland spielt in der Vorrunde gegen Portugal, Frankreich und "Ihre" Ungarn. Wie sehen Sie diese Konstellation?

Matthäus: Ich gehe davon aus, dass in unserer Gruppe drei Mannschaften weiterkommen. Von daher sehe ich es eher positiv, dass man gleich gefordert ist und nicht Gefahr läuft, einen Gegner zu unterschätzen und den Start ins Turnier unnötig wegzuschenken. Die Mannschaft muss hellwach sein, aber das wird sie. Wir haben drei Heimspiele, auch das ist ein Vorteil. Ich bin daher zuversichtlich, dass, wenn die richtigen Spieler mitgenommen werden, diese Mannschaft auf jeden Fall die Gruppe überstehen und dann auch weit kommen kann.

DFB.de: Wer sind denn die richtigen Spieler?

Matthäus: Meine Meinung zu dieser vieldiskutierten Frage ist ja bekannt. Wobei das immer auch davon abhängt, auf welche taktische Formation der Bundestrainer setzt. Beim Confed-Cup hat die Dreier-Reihe hinten mit Niklas SüleAntonio Rüdiger und Matthias Ginter sehr gut funktioniert. Eine solche Formation hätte dann natürlich Auswirkungen auf andere Positionen, dann müsste man möglicherweise Joshua Kimmich aus der Doppel-Sechs lösen. Es gibt viele Überlegungen, viele Gedanken und viele Fragen, die Joachim Löw beantworten muss. Wir Zuschauer und Experten können uns in aller Ruhe anschauen, wie er sie löst und ihm hinterher sagen, dass wir vorher schon wussten, ob er es richtig oder falsch gemacht hat. (lacht)

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20 Jahre in der Nationalmannschaft, Europameister 1980, Weltmeister 1990, siebenmaliger deutscher Meister, zweimaliger DFB-Pokalsieger. Die Liste der Erfolge des Lothar Matthäus ist lang. Mit DFB.de spricht der - inzwischen als Fußballexperte tätige - Weltmeister über seine großartige Spielerkarriere, seine Schritte als Trainer und was er in seiner Karriere besonders bereut. Anlass ist sein 60. Geburtstag am heutigen Sonntag - eine Zahl, die ihn nur wenig beeindruckt.

DFB.de: Herr Matthäus, Sie werden 60 Jahre alt. Wie wichtig sind Ihnen Geburtstage?

Lothar Matthäus: Der größte Wert der Geburtstage bestand für mich in den vergangenen Jahren darin, dass sie für mich ein willkommener Anlass sind, meine Freunde zu treffen. Ich lebe ja in Ungarn, da sieht man sich seltener. Umso schöner ist es dann, wenn man Zeit miteinander verbringt. Ich erinnere mich gerne an viele gemütliche Abende und Nächte, die im Kreis der Familie begonnen und in einer Männerrunde geendet haben. Schon im vergangenen Jahr war eine solche Zusammenkunft an meinem Geburtstag coronabedingt nicht möglich, wir haben sie dann im Sommer nachgeholt. Ich hoffe, dass dies auch in diesem Jahr möglich sein wird.

DFB.de: Beim Blick auf die Geburtstage der vergangenen sechs Jahrzehnte – gibt es ein Geschenk, das Ihnen besonders viel bedeutet?

Matthäus: Auf Geschenke lege ich keinen großen Wert. Ich freue mich immer, wenn das Geschenk eine Wertschätzung zum Ausdruck bringt, wenn ich merke, dass sich jemand Gedanken gemacht hat, um mir eine Freude zu bereiten. Spontan fällt mir ein Geschenk von Franz Beckenbauer ein. Zu meinem 40. Geburtstag hat er mir Jahrgangswein von 1961, meinem Geburtsjahr, geschenkt. Eine Kollektion Rotwein. Das hat mir damals imponiert, drei Flaschen davon habe ich immer noch zu Hause im Weinregal und halte sie in Ehren.  

DFB.de: Hat die Zahl 60 eine Bedeutung für Sie? Sind Sie erschrocken, wenn Sie an diese Zahl denken?

Matthäus: Null. Nein. Gar nicht. Ich bin schon deswegen nicht erschrocken, weil ich mich nicht wie 60 fühle. Ich bin gesund, mir geht’s gut, ich bin vergleichsweise fit. Das biologische Alter kann man nicht beeinflussen, jetzt steht bei mir eben eine Sechs davor, aber für mich ändert sich dadurch nichts. Ich lebe mein Leben nicht anders, nur weil aus der 59 eine 60 wird. Ich habe für mich eine gute Mischung gefunden, ich achte auf die Gesundheit, gehe jeden Tag laufen, aber ich übertreibe es nicht und weiß das Leben durchaus zu genießen.

DFB.de: Lothar Matthäus wird Sechziger, diese Schlagzeile war früher undenkbar…

Matthäus: Weiß ich gar nicht, diese Antipathie habe ich nie geteilt. 1860 München war mir immer sympathisch, ich freue mich sehr, wenn der Verein Erfolg hat und bin der Überzeugung, dass München als Stadt zwei Vereine in der Bundesliga vertragen kann. Die Löwen haben eine große Geschichte, für mich gehören sie zu den großen Traditionsvereinen in Deutschland. Leider haben sie in den vergangenen zehn, 15 Jahren einige Fehler gemacht. Ich wünsche ihnen sehr, dass sie sich davon nachhaltig erholen.  

DFB.de: Joachim Löw hat angekündigt, nach der EURO als Bundestrainer aufzuhören. Bei den Kandidaten für die Nachfolge fällt oft auch Ihr Name. Vor ein paar Jahren wäre dies noch schwer vorstellbar gewesen, Ihr Image in der Öffentlichkeit war… ausbaufähig. Wie sehr sich dies gewandelt hat, wird durch die Bundestrainer-Spekulationen unterstrichen. Wie nehmen Sie dies wahr? Streichelt sowas Ihre Seele?

Matthäus: Ich will gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Mir ist bewusst, dass ich Fehler gemacht und damit dazu beigetragen habe, dass mein Ruf gelitten hat. Bei mir wurden aus kleineren Fehltritten große Fehler und aus jedem Fehler ein großer Skandal, damit musste ich umgehen lernen.

DFB.de: Warum ist das so?

Matthäus: Als ich zwanzig Jahre alt war, habe ich eine große Bühne betreten und zwei, zweieinhalb Jahrzehnte lang war meine Karriere eine große Erfolgsgeschichte mit nur kleineren Abstrichen. Ich habe erfahren müssen, dass in dieser Konstellation einige nur darauf warten, dass etwas Negatives passiert. Angenehm war es nicht. Es ist allerdings nicht so, dass meine Seele gestreichelt werden müsste. Ich räume aber ein, dass es mich auch nicht furchtbar unglücklich macht, wenn ich lese, dass mir viele Menschen diesen Posten zutrauen.

DFB.de: Sind Ihnen dabei die Stimmen aus dem Fußball besonders wichtig?

Matthäus: Mich hat zum Beispiel der Ritterschlag gefreut, den mir Pal Dardai erteil hat. Er hat gesagt, dass er gerne mein Co-Trainer wird, wenn ich irgendwo als Cheftrainer anfangen sollte. Pal war mein Spieler, insofern bedeutet mir seine Einschätzung etwas. Noch mehr, weil ich in meiner Zeit als ungarischer Nationaltrainer auf die Jugend gesetzt und Pal irgendwann aussortiert habe. Er hätte also Grund, nachtragend zu sein, und es spricht für ihn, dass er das nicht ist. Grundsätzlich ist es so, dass die Menschen, die mich als Trainer erlebt haben, am besten einschätzen können, welche Fähigkeiten ich habe.

DFB.de: Sie waren Vereinstrainer bei Rapid Wien, Partizan Belgrad, Atlético Paranaense, Red Bull Salzburg und Maccabi Netanya sowie Nationaltrainer Ungarns und Bulgariens. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Trainerkarriere?

Matthäus: Ich habe nicht Paris Saint-Germain trainiert, nicht den FC Barcelona, nicht den FC Bayern München. Aber ich habe auf meinen Stationen fast immer viel aus den vorhandenen Möglichkeiten gemacht. Manchmal erheblich mehr, als uns zugetraut wurde, wobei bei mir der Maßstab aufgrund meiner Erfolge als Spieler stets sehr hoch angesetzt wurde. Es hat Menschen gegeben, die sich durch mein Engagement erhofft haben, dass wir mit Partizan Belgrad die Champions League gewinnen oder mit der ungarischen Nationalmannschaft sofort an einer Weltmeisterschaft teilnehmen. Diese Hoffnungen habe ich nicht erfüllt, sie waren aber auch nicht realistisch und es war auch nichts, das ich im Vorfeld versprochen hatte. 

DFB.de: Auf welcher Trainerstation haben Sie am meisten bewirkt?

Matthäus: Überall. (lacht) Mit Belgrad zum Beispiel wurden wir Meister in Serbien, das war keine Überraschung, aber dass wir uns in den Playoffs zur Champions League gegen ein damals großes Newcastle United durchgesetzt haben und in die Gruppenphase eingezogen sind - das war dann eine große Überraschung. Selbst die Verantwortlichen in Belgrad waren überrascht, für diesen Fall hatten sie mir einen exorbitanten Bonus in den Vertrag geschrieben, der ihnen dann richtig wehgetan hat. (lacht) Es mag vermessen klingen, aber ich bin der Meinung, dass alle meine Stationen von meiner Arbeit profitiert haben. Rapid Wien beispielsweise wurde zwei Jahre nach meinem Abschied Meister, und dabei hatten viele Spieler entscheidenden Anteil, die ich im Nachwuchs oder in der zweiten Liga entdeckt hatte und die dann von mir geformt wurden. Auf allen meinen Stationen habe ich viel mit jungen Spielern gearbeitet, mit sehr vielen bin ich heute noch im Austausch. Sie rufen an, wenn sie einen Tipp haben wollen, manchmal auch einfach nur so, um zu hören, wie es geht. Für mich ist das eine Form von Anerkennung, die mir viel bedeutet. Mir ist das jedenfalls viel wichtiger, als die eine oder andere negative Schlagzeile, die es auch gegeben hat.

DFB.de: Warum glauben Sie, dass die deutsche Öffentlichkeit mehr von den Misserfolgen als von den Erfolgen Notiz genommen hat? Ist diese Lust, einen Star fallen zu sehen, ein deutsches Phänomen?

Matthäus: Ich weiß nicht, ob es ein ausschließlich deutsches Phänomen ist, aber es ist ein Phänomen, das es leider auch in Deutschland gibt. Ich bin dafür ja nur ein Beispiel. Wenn ich an Boris Becker denke, dann ist es bei ihm extremer. Wir sind nachts aufgestanden seinetwegen, haben uns um vier Uhr morgens Tennisspiele angeschaut, haben ihn bewundert. Ein anderes Beispiel ist Franz Beckenbauer, der unserem Land so viel gegeben hat wie kaum einer sonst. Niemand hat Narrenfreiheit, weil er ein guter Sportler war. Aber hier und da wünschte ich mir mehr Augenmaß und weniger Lust, sich daran zu weiden, wenn ein Star Probleme hat.

DFB.de: Gibt es Entscheidungen im Rahmen Ihrer Trainerkarriere, die Sie bereuen?

Matthäus: Nur ganz wenige. Ich bereue es nicht, nach Belgrad gegangen zu sein. Ich bereue es nicht, in Ungarn die Nationalmannschaft übernommen zu haben. Ich hatte eine tolle Zeit in Israel.

DFB.de: Bei Maccabi Netanya haben Sie Ihren Vertrag nach nur einer Saison aufgelöst.

Matthäus: Trotzdem bereue ich es nicht, dort gewesen zu sein. Ich plädiere immer dafür, genauer hinzuschauen. Es ist leicht, aus meinem Jahr dort einen Misserfolg zu machen. Es gab damals eine Finanzkrise in deren Folge der Besitzer den Verein verkauft hat. Dann wurde der Geldhahn zugedreht - und dann hat man eben nur ein Jahr. Im Rückblick habe ich im Laufe meiner Zeit als Trainer nur einen richtig großen Fehler gemacht.

DFB.de: Und zwar?

Matthäus: Brasilien. Ich war der erste europäische Trainer, der dort in der höchsten Liga arbeiten durfte, für mich war das eine Ehre. Dennoch habe ich nach nur zwei Monaten bei Atlético Paranaense die Zelte wieder abgebrochen und dass, obwohl wir in diesen acht Wochen kein einziges Pflichtspiel verloren hatten. Das bereue ich bis heute. Es gab dafür damals persönliche Gründe – und der Präsident des Vereins hat mich auch verstehen können – aber es bleibt ein Fehler. Dieser Fehler beschäftigt mich immer noch und ich bin umso dankbarer, wie wohlgesonnen mir die Menschen in Brasilien unverändert sind.

DFB.de: Die Karriere des Spielers Lothar Matthäus ist größer als die des Trainers. Sie gehört zu den größten Fußballerkarrieren in Deutschland und weltweit. Sie haben viele große Spiele gespielt, viele gute. Welches Ihrer 150 Länderspiele war das zweitbeste?

Matthäus: Warum fragen Sie nach dem zweitbesten?

DFB.de: Weil die Antwort auf das beste Spiel klar ist und schon häufig gegeben wurde: Das 4:1 gegen Jugoslawien beim ersten Gruppenspiel der WM 1990 in Italien.

Matthäus: Korrekt. Das zweitbeste also? Schwer zu sagen. Spontan fällt mir ein Spiel bei der WM 1986 ein. Im Viertelfinale haben wir gegen Gastgeber Mexiko gespielt, wir sind nach Elfmeterschießen weitergekommen, nach 90 Minuten stand es noch torlos. Es war kein spektakuläres Ergebnis, es gab keine Traumtore, aber es war sehr intensiv. In diesem Spiel ist mir sehr viel gelungen, ich hatte viele gute Aktionen, hatte die ganze Zeit ein gutes Gefühl und unglaublich viel Spaß auf dem Rasen. Auch habe ich im Elfmeterschießen meinen Elfmeter verwandelt. Dieses Spiel liegt auf jeden Fall weit oben in meiner persönlichen Bestenliste.

DFB.de: Welche Länderspiele waren im Rahmen Ihrer Entwicklung als Nationalspieler besonders wichtig?

Matthäus: Kein Länderspiel war unwichtig. Besonders prägend war die Südamerikareise 1982 mit Spielen gegen Brasilien und Argentinien. Wir haben damals am 21. März, an meinem 21. Geburtstag, vor 170.000 Zuschauern im Maracana gegen die Selecao gespielt, für mich war es die größte Kulisse überhaupt. Diese Partie und das Spiel kurz darauf gegen Argentinien waren meine ersten internationalen Ausrufezeichen. Es waren kleine Meilensteine und auch die ersten Länderspiele, bei denen ich in der Startelf stand.

DFB.de: Im Verein waren Sie immer torgefährlich, in der Nationalmannschaft hat es gedauert, bis Sie als Torschütze in Erscheinung traten. Ihr erstes Länderspieltor haben Sie erst im 33. Länderspiel erzielt.

Matthäus: Richtig, im April 1985 gegen die Tschechoslowakei. Es wurde auch langsam Zeit, natürlich wollte ich unbedingt auch in der Nationalmannschaft mein erstes Tor erzielen. In Prag war es dann soweit, es war ein Volley, ein schönes Tor nach einer Flanke von Thomas Berthold. Mitunter wird dieses Spiel als Wendepunkt in meiner Nationalmannschaftskarriere bezeichnet. So weit würde ich nicht gehen, aber natürlich steigt die Anerkennung in der Mannschaft mit dem Beitrag, den man zum Erfolg leistet. Entscheidender war in dieser Phase aber, dass ich von dem Vertrauen und der Wertschätzung profitiert habe, die mir von Franz Beckenbauer entgegengebracht wurden. Für mein Standing innerhalb des Teams war es auch förderlich, dass ich nun Spieler von Bayern München war. Wenn wir über Meilensteine reden, darf das Spiel 1987 gegen Israel nicht vergessen werden.

DFB.de: Weil?

Matthäus: Ich war damals zum ersten Mal Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Für mich war des eine Adelung, eine ganz besondere Ehre, auf die ich unglaublich stolz bin und schon damals war. Spielführer der Nationalmannschaft - mir war damals sehr bewusst, in welche Fußstapfen ich trete. Die Spielführerbinde um den Arm zu spüren, hat mich noch einmal beflügelt.

DFB.de: Ihr bestes Spiel war das 4:1 gegen Jugoslawien. War dieses Spiel auch das insgesamt beste Spiel, bei dem Sie mitgespielt haben?

Matthäus: Nein, da gab es andere, die ich höher einschätzen würde. Bei der WM 1990 waren die Partien gegen die Niederlande und England die Spiele, die auf dem höchsten Niveau abgelaufen sind. Es waren K.o.-Spiele, Spiele mit hoher Brisanz. Und eben Spiele, die dennoch fußballerisch auf einem hohen Niveau stattfanden, sowohl von der spielerischen als auch von der kämpferischen Seite her.

DFB.de: Was war die beste Entscheidung Ihrer Karriere als Nationalspieler?

Matthäus: Ganz klar: Die Entscheidung, den Elfmeter im WM-Finale 1990 nicht zu schießen. Ich hatte damals aus dem Pokalfinale 1984 gelernt, wo ich einen Elfmeter verschossen hatte, den ich nicht schießen wollte. 1990 war ich stärker und konnte deswegen Verantwortung übernehmen, in dem ich Verantwortung abgegeben habe. Mir wird häufig unterstellt, dass ich Angst hatte und deswegen gekniffen hätte. Das ist aus zwei Gründen falsch.

DFB.de: Nämlich?

Matthäus: Erstens hatte ich keine Angst. Und zweitens bin ich der Meinung, dass es ein Zeichen von Stärke gewesen wäre, sich diese Angst einzugestehen und die richtigen Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Verantwortungslos wäre es, sich die Angst nicht einzugestehen und einen Elfmeter zu schießen, den man nicht schießen will. Bei mir war es keine Angst, ich war ein guter Elfmeterschütze, ich hatte im Viertelfinale und im Halbfinale jeweils sicher verwandelt. Für mich hätte es unter normalen Umständen keinen Grund gegeben, nicht zu schießen. Aber dann musste ich im Finale die Schuhe wechseln und fühlte mich in den neuen Schuhen nicht zu 100 Prozent sicher. Es wäre Wahnsinn und wahnsinnig egoistisch gewesen, hätte ich dennoch geschossen. Für mich war es außerdem so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Andi Brehme den Strafstoß verwandelt.  Nicht nur er, es gab auch noch zwei, drei andere Spieler, bei denen ich ganz sicher war, dass sie dem Druck standhalten würden.

DFB.de: Zu den Superlativen gehört auch die größte Enttäuschung. Stimmt die Vermutung, dass Sie jetzt das verlorene WM-Finale 1986 gegen Argentinien nennen?

Matthäus: Wenn man ein WM-Finale verliert, ist das natürlich enttäuschend.

DFB.de: Franz Beckenbauer sagt heute, dass es womöglich ein Fehler war, Sie mit der Beschattung von Maradona zu beauftragen. Wären Sie heute zweimaliger Weltmeister ohne diese Entscheidung?

Matthäus: Das lässt sich hinterher leicht sagen. Ich finde, dass die Überlegungen damals richtig waren. Franz hatte mich ja mit eingebunden, so wie er es bei allen wichtigen Entscheidungen gemacht hat. Zu welchen Leistungen Maradona fähig war, muss man niemanden erzählen. Bis zum Finale hat er ein sensationelles Turnier gespielt. Für uns lag der Schlüssel zum Erfolg darin, Maradona aus dem Spiel zu nehmen. Und dieser Plan ging auf. Außerdem muss bedacht werden: 1986 war ich nicht der Unterschiedsspieler, ich war nicht Kapitän der Mannschaft. 1990 wäre es falsch gewesen, mich für Maradona zu opfern, 1986 nicht. Es waren andere Dinge, die nicht funktioniert haben. Toni Schumacher hat uns mit seinen Paraden ins Finale gebracht, aber er weiß selbst, dass dieses Endspiel nicht das beste Spiel seines Lebens war. Wenn man ein WM-Finale gewinnen will, müssen viele Details eines Plans aufgehen. 1986 war das nicht der Fall, an meiner Rolle im Finale lag es nicht.

DFB.de: Sie haben 150 Mal für Deutschland gespielt und sind damit Rekordnationalspieler – was bedeutet Ihnen dies?

Matthäus: Das hat sich halt so ergeben. (lacht) Ich hatte das Privileg, lange Fußballspielen zu können und auch als älterer Spieler noch genug Qualität zu haben. Ein Stück weit empfinde ich Genugtuung, weil mir nach meinen Verletzungen viele nicht mehr zugetraut haben, noch einmal zurückzukommen. Für mich war das Fußballspielen das größte Glück und ich bin froh, dass ich dies so lange tun konnte. Fußball war für mich Leidenschaft und Liebe. Die Auftritte für Deutschland waren für mich die größten Highlights - für dieses Land, für diesen Verband, mit diesem Trikot aufzulaufen - etwas Schöneres konnte es für mich nicht geben.

DFB.de: Wie gut erinnern Sie sich noch an den Schritt auf dem Weg zum Rekordnationalspieler?

Matthäus: Sehr gut. Mein erstes Spiel war die Partie gegen die Niederlande in Neapel bei der EM 1980. Wir haben 3:2 gewonnen, als ich eingewechselt wurde, stand es 3:0. Für mich ging es eigentlich gut los, ich hatte ziemlich schnell eine gute Aktion mit einem guten Abschluss. Was danach kam, war weniger gut.

DFB.de: Sie haben einen Elfmeter verschuldet, das Spiel wurde noch einmal knapp.

Matthäus: Man kann es so erzählen. Oder ausführlicher und richtiger. Uli Stielike hat im Mittelfeld einen Ball verloren, wir standen schlecht gestaffelt, Bennie Wijnstekers lief ziemlich frei auf unser Tor zu. Aufgrund meiner Schnelligkeit habe ich ihn noch eingeholt, kurz vor dem Strafraum, konnte aber nur noch Foul spielen. Das habe ich getan. Dann gab es Elfmeter, weil Wijnstekers bis weit in den Strafraum geflogen ist. Es war eine klare Fehlentscheidung. Und sie hat dazu geführt, dass ich bei Jupp Derwall nicht sonderlich wohlgelitten war, um es freundlich zu formulieren. Ich hätte mir gewünscht, dass er mehr zu mir steht, dass er richtig einschätzt, dass es ein Fehler des Schiedsrichters war und meinen Mut anerkennt, in dieser Situation mit dem Foul Verantwortung übernommen zu haben.  

DFB.de: Stimmt es, dass Sie nicht ausschließlich glücklich waren, für die EM 1980 nominiert worden zu sein?

Matthäus: Das wird immer mal wieder behauptet, ist aber völliger Unsinn. Ich hatte damals einen Urlaub gebucht, ja, ich war 19 Jahre alt und habe mich nach einer langen Saison auch auf den Urlaub gefreut. Aber noch mehr habe ich mich gefreut, als ich für die Europameisterschaft nominiert wurde. Für mich war es damals das Größte überhaupt, dass ich in so jungen Jahren in diesem Elitekreis dabei sein konnte.

DFB.de: Auf das erste Länderspiel folgten 149 weitere Einsätze für Deutschland. Sehen Sie einen Spieler, der Ihre Marke eines Tages überbieten und Sie als deutschen Rekordnationalspieler ablösen kann?

Matthäus: Die wenigste Rekorde sind für die Ewigkeit. Robert Lewandowski schickt sich gerade an, Gerd Müllers Rekord von 40 Toren in einer Bundesligasaison zu überbieten. Insofern bin ich mir sicher, dass mein Rekord eines Tages fallen wird, es sieht aber nicht so aus, als sei dieser Tag nah. Ich sehe ein paar Spieler die "gefährlich" sind. Manuel Neuer zum Beispiel. Für mich ist er klar der Beste der Welt und wenn er sein Niveau noch vier, fünf Jahre halten kann, wenn er Gianluigi Buffon nacheifert, dann könnte er mich überholen. 

DFB.de: Mit 25 WM-Einsätzen sind Sie weltweit WM-Rekordspieler. Möglich ist, dass Lionel Messi bei der WM 2022 vorbeizieht. Fürchten Sie dieses Szenario?

Matthäus: Ich würde es ihm gönnen, wobei er noch einen weiten Weg vor sich hat. Er steht jetzt bei 19 Spielen, Argentinien müsste bei der WM in Katar also weit kommen, wenn er mich ein- und überholen will. Aber das ist natürlich alles andere als ausgeschlossen. Er hat die Qualität und Argentinien hat die Qualität. Für mich wäre es alles andere als eine Schande, von einem Spieler wie Messi überholt zu werden. Ich wäre dann der Erste, der ihm gratuliert.

DFB.de: Sie werden 60 Jahre alt. Als Sie im 30. Lebensjahr waren, wurden Sie Weltmeister. Eine Hälfte Ihres Lebens laufen Sie als Weltmeister rum, die andere nicht.

Matthäus: Der Titel kam in der Mitte meines Lebens, aber auch in der Mitte meiner Karriere. Vereinfacht gesagt habe ich zehn Jahre gespielt, bis ich Weltmeister wurde und zehn Jahre, nachdem ich Weltmeister geworden war. Ich finde, an die Spitze zu kommen war schwierig, an der Spitze zu bleiben, war genauso schwierig. Die zweite Hälfte meiner Karriere, also die Zeit nach der WM 1990 war zugleich turbulenter und angenehmer als die zehn Jahre davor. Turbulenter, weil ich häufiger verletzt war, weil es zwar weitere große Erfolge, aber auch sehr bittere Niederlagen wie das Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United gab. Wenn man meine Karriere in diese zwei Hälften teilen will, dann hat jede ihre Vorzüge. In der zweiten Hälfte habe ich erheblich mehr verdient, auch wenn ich natürlich sagen muss, dass das nicht so wichtig ist. (lacht)

DFB.de: Sie waren 29, als Sie Weltmeister wurden. War dieser Zeitpunkt, dieses Alter, im Rückblick genau richtig, um einen solchen Erfolg zu haben?

Matthäus: Von meiner Person weg: Wir hatten eine Mannschaft, die insgesamt im richtigen Alter war. Mit Guido BuchwaldRudi VöllerPierre Littbarski, Brehme und mir standen im Finale fünf Spieler auf dem Rasen, die zehn Jahre zuvor gemeinsam in der U 21 gespielt haben. Man kann das vergleichen mit Neuer, Mats HummelsJérome BoatengBenedikt HöwedesSami Khedira und Mesut Özil, die 2009 U21-Europameister und fünf Jahre später in Brasilien Weltmeister wurden. Für den Zusammenhalt, für die Harmonie in der Mannschaft, ist ein solch gemeinsamer Weg wirklich wertvoll. Aus diesem Gefüge heraus kann dann Großes entstehen. Neben der Qualität der Spieler ist der Charakter der Mannschaft entscheidend für den Erfolg. Der gesamten Mannschaft - und nicht nur der Spieler, die auf dem Platz stehen. Wenn ich an 1990 denke, dann muss ich Paul Steiner erwähnen, er war der Kapitän der Bank. Olaf Thon hat sich sensationell verhalten, er hat akzeptiert, dass er trotz guter Leistungen in den Spielen und im Training im Finale nicht zum Zug gekommen ist. Das war groß. Wenn irgendjemand quergeschossen hätte, wären wir niemals Weltmeister geworden.

DFB.de: Ihre Nachfolger in der Nationalmannschaft stehen in diesem Sommer vor einem großen Turnier. Mit Blick auf den Charakter der Mannschaft und die Fähigkeiten der Spieler: Was trauen Sie dem Team zu?

Matthäus: Der deutsche Fußball und die deutsche Nationalmannschaft genießen weltweit nach wie vor und völlig zu Recht einen guten Ruf. Wir müssen uns nicht kleiner machen, als wir sind. Natürlich war die WM 2018 mit dem Aus in der Vorrunde ein herber Rückschlag, allerdings gilt unverändert: Gegen uns spielt niemand gern. Wir werden gefürchtet aufgrund der Qualität und aufgrund der Mentalität unserer Spieler. Es gab zuletzt ein paar Rückschläge, es wurden Fehler gemacht, es gab Unruhe. Und dann haben die Ergebnisse teilweise nicht gestimmt. Das gilt allerdings für viele andere große Nationen in ähnlicher Weise. Aber klar ist: Unsere Niederlagen dürfen wir nicht mit den Niederlagen anderer entschuldigen. Die Nationalmannschaft muss liefern. Und sie kann liefern.

DFB.de: Was macht Sie optimistisch?

Matthäus: Ich glaube, dass die Entscheidung von Joachim Löw, nach der EM seine Karriere als Bundestrainer zu beenden, zum richtigen Zeitpunkt gekommen ist. Nun haben alle Beteiligten Klarheit, eine möglicherweise quälende Diskussion wird somit von der Mannschaft ferngehalten. Ansonsten macht mich optimistisch, dass wir nach wie vor hohe Qualität in der Mannschaft haben. Noch einmal: Wir müssen uns nicht verstecken. Viele Spieler spielen bei den größten und besten Vereinen in den größten Ligen Europas. Natürlich traue ich unserer Mannschaft zu, bei der EM in eine gute Rolle zu.

DFB.de: Deutschland spielt in der Vorrunde gegen Portugal, Frankreich und "Ihre" Ungarn. Wie sehen Sie diese Konstellation?

Matthäus: Ich gehe davon aus, dass in unserer Gruppe drei Mannschaften weiterkommen. Von daher sehe ich es eher positiv, dass man gleich gefordert ist und nicht Gefahr läuft, einen Gegner zu unterschätzen und den Start ins Turnier unnötig wegzuschenken. Die Mannschaft muss hellwach sein, aber das wird sie. Wir haben drei Heimspiele, auch das ist ein Vorteil. Ich bin daher zuversichtlich, dass, wenn die richtigen Spieler mitgenommen werden, diese Mannschaft auf jeden Fall die Gruppe überstehen und dann auch weit kommen kann.

DFB.de: Wer sind denn die richtigen Spieler?

Matthäus: Meine Meinung zu dieser vieldiskutierten Frage ist ja bekannt. Wobei das immer auch davon abhängt, auf welche taktische Formation der Bundestrainer setzt. Beim Confed-Cup hat die Dreier-Reihe hinten mit Niklas SüleAntonio Rüdiger und Matthias Ginter sehr gut funktioniert. Eine solche Formation hätte dann natürlich Auswirkungen auf andere Positionen, dann müsste man möglicherweise Joshua Kimmich aus der Doppel-Sechs lösen. Es gibt viele Überlegungen, viele Gedanken und viele Fragen, die Joachim Löw beantworten muss. Wir Zuschauer und Experten können uns in aller Ruhe anschauen, wie er sie löst und ihm hinterher sagen, dass wir vorher schon wussten, ob er es richtig oder falsch gemacht hat. (lacht)

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