Eine langwierige Verletzung, das Comeback, das frühe WM-Aus, der Umbruch im Herbst – Manuel Neuer, Torwart und Kapitän der Nationalmannschaft, schreibt über sein Jahr 2018. Und darüber, was sich das Team für 2019 vorgenommen hat.
Diesen Satz von Thomas Müller aus dem Trainingslager in Südtirol habe ich noch im Ohr: "Da lach‘ ich mich doch kaputt", hat Thomas gesagt, aber gelacht hat er nicht. Manchmal weiß ich selber nicht genau, warum der Ball den Weg an mir vorbei nicht gefunden hat. Das war so eine Szene. Aus kurzer Distanz, Thomas nimmt den Ball mit vollem Risiko und trifft ihn voll. Er trifft auch mich, wo, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass der Ball nicht reingegangen ist. Diese Szene hat mir gutgetan, vor allem hat mir das Feedback meiner Mitspieler und Trainer gutgetan. Man spürt ja, wie deren Vertrauen wächst, natürlich beflügelt das, erst recht, wenn es Mitspieler wie Thomas Müller sind. Wenig später stand ich dann auch im Länderspiel in Österreich zwischen den Pfosten, es war mein erstes Länderspiel nach 598 Tagen Pause. Es folgte die Nominierung für den endgültigen Kader der WM 2018. Damit war klar: Mission completed, ich hatte mein Ziel erreicht.
Stolz – dieses Gefühl empfinde ich in meinem Berufsleben selten. Aber hier ist dieser Begriff angebracht. Ich war stolz auf den Weg, den ich gegangen war und der nun hinter mir lag, stolz auf den Aufwand, den ich betrieben hatte, mit Wille, Fleiß und Disziplin. Viele Menschen aus meinen Umfeld haben an meinem Weg zurück großen Anteil, haben sich aufopferungsvoll um mich gekümmert und unglaublich viel investiert. Die Ärzte natürlich, die Physiotherapeuten. Und da ich niemanden vergessen will, sage ich hier pauschal: Vielen Dank!
Wenn ich hier über mein Jahr 2018 schreibe, dann beginnt das Jahr natürlich auch für mich am Neujahrstag. Wir hatten ein unspektakuläres Silvester, mit der Familie zu Hause am Tegernsee. Damals stand nach meiner Mittelfußverletzung alles im Zeichen der Reha, entsprechend dezent fiel der Jahreswechsel aus. Für das neue Jahr hatte ich einen Vorsatz, ein großes Ziel. Das war so präsent, dass ich die Zäsur des Jahreswechsels nicht benötigte, um es im Kopf zu haben: die WM 2018, das Turnier in Russland.
Halber Mediziner
In der Erinnerung an den Weg dorthin sehe ich etliche Wegmarken. Irgendwann im Januar konnte ich die Krücken in die Ecke stellen, das war natürlich ein Einschnitt. Für mich war jeder Besuch beim Arzt wertvoll, jedes positive Ergebnis auf Röntgen- und MRT-Bildern. Über die Zeit bin ich zum halben Mediziner geworden, konnte Fortschritte selber sehen und deuten. Es gibt nicht den einen Wendepunkt in meiner Reha, nicht ein Ereignis, das alles andere überstrahlt. Es waren viele Schritte: das erste Mal auf dem Platz, das erste Mal mit Ball, das erste Mal mit der Mannschaft.
Wichtig für mich war die Auszeit im Februar. Ich war mit meiner Frau für zehn Tage in Thailand. Es war kein klassischer Urlaub, auch vor Ort habe ich Reha gemacht, aber der Tapetenwechsel tat trotzdem gut. Die Ärzte hatten mir schon viel früher empfohlen, mal auszubrechen aus dem Alltag. Für mich war die Zeit dafür aber erst im Februar reif. Weil ich nun wieder für den Alltag fit war, alles selber machen konnte. Für mich war das wichtig, noch mehr aber für meine Frau. Fand ich. Bei unserer Hochzeit war ich auf Krücken, in unseren Flitterwochen war ich auf Krücken. In den ganzen Monaten hat sie mir tausend kleine und große Gefallen getan. Kaffee gekocht, das Frühstück gemacht, immer war sie es, die schnell aufgestanden ist und für mich geholt hat, was ich gerade zu brauchen glaubte. Da sollte sie nicht auch noch im Urlaub mein persönliches Pflegepersonal sein.
"Konnte zwar nicht mitspielen, aber passiv war ich nicht"
Ich werde häufig gefragt, wie schwer mir die Rolle als Zuschauer gefallen ist, wie unerträglich es war, in Bundesliga, DFB-Pokal und Champions League nicht eingreifen zu können, und bin selber überrascht, dass die Antwort darauf lautet: Es war nicht sonderlich schwer. Ich wusste immer, dass ich nichts anderes machen kann, als hart zu arbeiten, den Ärzten und Physiotherapeuten zu vertrauen, mir selbst zu vertrauen. Ich bin nicht stärker als die Natur, es gibt keinen Knopf, keinen Turbo-Gang. Ich konnte zwar nicht mitspielen, aber passiv war ich nicht. Und das gab mir ein gutes Gefühl.
Für mich wäre die Situation im Frühjahr 2018 viel schlimmer gewesen, wenn die sportliche Situation in München nicht so komfortabel gewesen wäre. Sven Ulreich war nur zu Beginn ein klein wenig unsicher, danach hat er sich Woche für Woche gesteigert und war dann richtig stark. Mir hat er damit sehr geholfen. Das Saisonfinale mit den Bayern muss ich hier nicht ausführlich thematisieren. Wir alle hätten gerne mehr als nur die Meisterschaft gewonnen. Wobei ich auch sagen muss: Ich werde eine Meisterschaft niemals kleinreden. Es ist ein großer Erfolg, in der Bundesliga alle anderen Mannschaften hinter sich zu lassen. Die aktuelle Spielzeit zeigt doch, dass es niemals eine Selbstverständlichkeit ist, Deutscher Meister zu werden. Und nur, weil man einen Erfolg häufig wiederholt, verliert er dadurch nicht an Wert.
Die totale Leere
Im Rückblick auf das Jahr kann ich die Wochen in Russland natürlich nicht ausklammern. Wieder eine Frage, die mir häufig gestellt wird: Was ich in den ersten Sekunden nach dem Südkorea-Spiel, das das frühe WM-Aus besiegelte, gedacht habe. Die Antwort ist: Ich habe nichts gedacht. Uns allen ging das so. Wenn man sich die Bilder aus Kasan heute anschaut, sieht man, was ich hier zu beschreiben versuche. Es war ein Nichts, totale Leere. Wir haben natürlich verstanden, dass wir ausgeschieden waren, aber wir konnten es nicht begreifen, es war Realität und zugleich surreal, es konnte einfach nicht wahr sein.
An die Zeit in Russland habe ich auch positive Erinnerungen. Dazu gehören zu allererst: die vielen tollen Menschen, die wir vor Ort kennengelernt haben. Die Gastfreundschaft der Russen war außerordentlich, ihre Freundlichkeit, ihre Hilfsbereitschaft. Das haben wir überall so erlebt, bei uns im Teamquartier, auf den Reisen, in den Hotels. Ansonsten? Positiv? Sportlich? Das wissen wir alle – da war nicht viel. Natürlich, Schweden, Toni Kroos, das 2:1. Punktuell war das ein Hochgefühl, mehr nicht. Überhaupt war die WM für mich – und wohl für alle – unglaublich fordernd.
Ich weiß noch, dass es bei der EM 2016 schöne Momente abseits des Rasens gab. Wir haben Boule gespielt, Tennis, Snooker, Billard. In Russland gab es solche Aktivitäten für mich nicht. Von Beginn an war ich als Kapitän voll gefordert, habe viele Gespräche geführt, mit den Trainern, im Mannschaftsrat, mit einzelnen Spielern. Zudem kam ich aus einer langen Verletzung zurück, hatte also auch viel mit mir selber zu tun. Reha, Behandlung, Training – nach einer so langen Pause ist alles sensibler und zugleich intensiver. Insofern gab es kaum Raum für Ablenkungen, welcher Art auch immer. Wir haben eine schlechte WM gespielt. Punkt. Wir sind zurecht nach der Vorrunde ausgeschieden. Punkt. Wir haben die Fans enttäuscht. Wir haben uns enttäuscht. Und bis heute tut uns das leid.
Schwerer Gang
Nach der Landung in Frankfurt musste ich meiner Rolle als Kapitän einmal mehr gerecht werden. Die Öffentlichkeit erwartete eine weitere Erklärung. Aber was sollte ich erklären? Als ich damals am Flughafen vor die Presse getreten bin, war ich erschlagen von der Anzahl der Journalisten, die ganze Szenerie hat mich irritiert. Mich hat es erinnert an den Auftritt von Christian Lindner nach der Bundestagswahl. Als er Deutschland davon in Kenntnis setzte, dass die Jamaika-Verhandlungen gescheitert sind. Nur dass er eine Botschaft hatte. Hatte ich nicht. Was ich sagen will: Ich bin schon lange dabei, aber manchmal bin auch ich noch überrascht davon, welche Größe, welche Wucht der Fußball in Deutschland hat. Und dann steht man da, als immer noch junger Mensch, und muss sich stellen. Für die Mannschaft habe ich es gerne gemacht, aber es war ein schwerer Gang.
Wir beklagen uns ja oft über die Schnelllebigkeit der Branche, im Fall des Misserfolgs klage ich nicht. Wir hatten länger Urlaub als wir wollten, und dennoch war er zu kurz. Mir fiel es schwer, Abstand zu gewinnen. Die WM war überall präsent, in Gesprächen, im Fernsehen. Für mich war es eine Erleichterung, als wir uns schon im September wieder mit der Nationalmannschaft trafen. Natürlich haben wir schon vorher diverse Gespräche geführt, dennoch war es für viele sehr wichtig, noch einmal als Gruppe über Russland zu sprechen. Für den Weg in die Zukunft war die gemeinsame Analyse und Aufarbeitung von großer Bedeutung.
Wir haben jetzt eine neue Nationalmannschaft. Es sind Spieler nicht mehr dabei, die mit mir einen langen Weg gemeinsam gegangen sind. Das ist schmerzlich und es gibt auch Situationen, in denen das Wort "vermissen" zutreffend ist. Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Die Analyse der WM hat zur Konsequenz, dass der Bundetrainer das Gesicht der Mannschaft ändert und vielen neuen Spielern eine Chance gibt. Für mich ist das erstens genau richtig und zweitens total spannend. Ich lerne neue Spieler, Typen und Menschen kennen. Das setzt viel Energie frei, auf allen Seiten. Gerade in meiner Rolle als Kapitän ist das etwas Neues, es ist interessant, es fordert mich, und ich will ja gefordert werden. Die Meinung dieser Spieler zu hören, bringt auch mir etwas. Bei den Lehrgängen der Nationalmannschaft suche ich den Kontakt zu den Jungen, setze mich zu ihnen an die Tische und höre zu. Auch die anderen "Alten" machen das.
Tendenz stimmt
Hin und wieder kommen da Gedanken an meine Anfänge auf. Damals war es noch undenkbar, dass junge Spieler so viel Kontakt mit den erfahrenen haben. Es war viel hierarchischer, ich war auch scheuer, als die Jungen es heute sind. Heute trauen sich die Jungen viel schneller, sich einzubringen und ihre Meinung zu sagen. Und wenn nicht, werden sie von uns dazu ermutigt. Mir macht diese Konstellation großen Spaß. Ich finde es auch richtig, dass Joachim Löw neben den vielen Jungen auch auf ein Gerüst aus erfahrenen Spieler setzt. Die Zusammensetzung führt zu einer neuen Dynamik in der Mannschaft, von der alle profitieren.
Was daraus in der Zeit nach der WM entstanden ist, kann sich sehen lassen. Ja, es gab bittere Rückschläge, das 0:3 in Amsterdam war so einer. Ansonsten finde ich, dass die Tendenz stimmt. Ich weiß, dass wir in der Nations League abgestiegen sind, und es ist nicht populär, gegen Ergebnisse zu argumentieren. Dennoch finde ich es aktuell wichtiger, wie wir als Mannschaft auftreten. Und das war in beiden Spielen gegen Frankreich gut, es war gegen Russland gut und im Rückspiel gegen die Niederlande war es auch gut, trotz des bitteren Endes. Wir haben einen neuen Spirit in der Mannschaft, aber auch neuen Speed und Spielwitz. Und das sind gute Zutaten für eine erfolgreiche Zukunft.
Mein Fazit für 2018 lautet daher: Ich freue mich auf 2019. Als Nationalmannschaft haben wir viel Kredit verloren. Die Zurückhaltung der Fans bei den Spielen gegen Russland und die Niederlande hat dies sehr deutlich gezeigt. Ich bin mir aber sicher, dass wir uns aus diesem Tal befreien. Die Begeisterung in der Mannschaft ist riesig, und wir werden alles dafür tun, dass die Begeisterung um die Mannschaft auch wieder riesig wird.
[dfb]
Eine langwierige Verletzung, das Comeback, das frühe WM-Aus, der Umbruch im Herbst – Manuel Neuer, Torwart und Kapitän der Nationalmannschaft, schreibt über sein Jahr 2018. Und darüber, was sich das Team für 2019 vorgenommen hat.
Diesen Satz von Thomas Müller aus dem Trainingslager in Südtirol habe ich noch im Ohr: "Da lach‘ ich mich doch kaputt", hat Thomas gesagt, aber gelacht hat er nicht. Manchmal weiß ich selber nicht genau, warum der Ball den Weg an mir vorbei nicht gefunden hat. Das war so eine Szene. Aus kurzer Distanz, Thomas nimmt den Ball mit vollem Risiko und trifft ihn voll. Er trifft auch mich, wo, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass der Ball nicht reingegangen ist. Diese Szene hat mir gutgetan, vor allem hat mir das Feedback meiner Mitspieler und Trainer gutgetan. Man spürt ja, wie deren Vertrauen wächst, natürlich beflügelt das, erst recht, wenn es Mitspieler wie Thomas Müller sind. Wenig später stand ich dann auch im Länderspiel in Österreich zwischen den Pfosten, es war mein erstes Länderspiel nach 598 Tagen Pause. Es folgte die Nominierung für den endgültigen Kader der WM 2018. Damit war klar: Mission completed, ich hatte mein Ziel erreicht.
Stolz – dieses Gefühl empfinde ich in meinem Berufsleben selten. Aber hier ist dieser Begriff angebracht. Ich war stolz auf den Weg, den ich gegangen war und der nun hinter mir lag, stolz auf den Aufwand, den ich betrieben hatte, mit Wille, Fleiß und Disziplin. Viele Menschen aus meinen Umfeld haben an meinem Weg zurück großen Anteil, haben sich aufopferungsvoll um mich gekümmert und unglaublich viel investiert. Die Ärzte natürlich, die Physiotherapeuten. Und da ich niemanden vergessen will, sage ich hier pauschal: Vielen Dank!
Wenn ich hier über mein Jahr 2018 schreibe, dann beginnt das Jahr natürlich auch für mich am Neujahrstag. Wir hatten ein unspektakuläres Silvester, mit der Familie zu Hause am Tegernsee. Damals stand nach meiner Mittelfußverletzung alles im Zeichen der Reha, entsprechend dezent fiel der Jahreswechsel aus. Für das neue Jahr hatte ich einen Vorsatz, ein großes Ziel. Das war so präsent, dass ich die Zäsur des Jahreswechsels nicht benötigte, um es im Kopf zu haben: die WM 2018, das Turnier in Russland.
Halber Mediziner
In der Erinnerung an den Weg dorthin sehe ich etliche Wegmarken. Irgendwann im Januar konnte ich die Krücken in die Ecke stellen, das war natürlich ein Einschnitt. Für mich war jeder Besuch beim Arzt wertvoll, jedes positive Ergebnis auf Röntgen- und MRT-Bildern. Über die Zeit bin ich zum halben Mediziner geworden, konnte Fortschritte selber sehen und deuten. Es gibt nicht den einen Wendepunkt in meiner Reha, nicht ein Ereignis, das alles andere überstrahlt. Es waren viele Schritte: das erste Mal auf dem Platz, das erste Mal mit Ball, das erste Mal mit der Mannschaft.
Wichtig für mich war die Auszeit im Februar. Ich war mit meiner Frau für zehn Tage in Thailand. Es war kein klassischer Urlaub, auch vor Ort habe ich Reha gemacht, aber der Tapetenwechsel tat trotzdem gut. Die Ärzte hatten mir schon viel früher empfohlen, mal auszubrechen aus dem Alltag. Für mich war die Zeit dafür aber erst im Februar reif. Weil ich nun wieder für den Alltag fit war, alles selber machen konnte. Für mich war das wichtig, noch mehr aber für meine Frau. Fand ich. Bei unserer Hochzeit war ich auf Krücken, in unseren Flitterwochen war ich auf Krücken. In den ganzen Monaten hat sie mir tausend kleine und große Gefallen getan. Kaffee gekocht, das Frühstück gemacht, immer war sie es, die schnell aufgestanden ist und für mich geholt hat, was ich gerade zu brauchen glaubte. Da sollte sie nicht auch noch im Urlaub mein persönliches Pflegepersonal sein.
"Konnte zwar nicht mitspielen, aber passiv war ich nicht"
Ich werde häufig gefragt, wie schwer mir die Rolle als Zuschauer gefallen ist, wie unerträglich es war, in Bundesliga, DFB-Pokal und Champions League nicht eingreifen zu können, und bin selber überrascht, dass die Antwort darauf lautet: Es war nicht sonderlich schwer. Ich wusste immer, dass ich nichts anderes machen kann, als hart zu arbeiten, den Ärzten und Physiotherapeuten zu vertrauen, mir selbst zu vertrauen. Ich bin nicht stärker als die Natur, es gibt keinen Knopf, keinen Turbo-Gang. Ich konnte zwar nicht mitspielen, aber passiv war ich nicht. Und das gab mir ein gutes Gefühl.
Für mich wäre die Situation im Frühjahr 2018 viel schlimmer gewesen, wenn die sportliche Situation in München nicht so komfortabel gewesen wäre. Sven Ulreich war nur zu Beginn ein klein wenig unsicher, danach hat er sich Woche für Woche gesteigert und war dann richtig stark. Mir hat er damit sehr geholfen. Das Saisonfinale mit den Bayern muss ich hier nicht ausführlich thematisieren. Wir alle hätten gerne mehr als nur die Meisterschaft gewonnen. Wobei ich auch sagen muss: Ich werde eine Meisterschaft niemals kleinreden. Es ist ein großer Erfolg, in der Bundesliga alle anderen Mannschaften hinter sich zu lassen. Die aktuelle Spielzeit zeigt doch, dass es niemals eine Selbstverständlichkeit ist, Deutscher Meister zu werden. Und nur, weil man einen Erfolg häufig wiederholt, verliert er dadurch nicht an Wert.
Die totale Leere
Im Rückblick auf das Jahr kann ich die Wochen in Russland natürlich nicht ausklammern. Wieder eine Frage, die mir häufig gestellt wird: Was ich in den ersten Sekunden nach dem Südkorea-Spiel, das das frühe WM-Aus besiegelte, gedacht habe. Die Antwort ist: Ich habe nichts gedacht. Uns allen ging das so. Wenn man sich die Bilder aus Kasan heute anschaut, sieht man, was ich hier zu beschreiben versuche. Es war ein Nichts, totale Leere. Wir haben natürlich verstanden, dass wir ausgeschieden waren, aber wir konnten es nicht begreifen, es war Realität und zugleich surreal, es konnte einfach nicht wahr sein.
An die Zeit in Russland habe ich auch positive Erinnerungen. Dazu gehören zu allererst: die vielen tollen Menschen, die wir vor Ort kennengelernt haben. Die Gastfreundschaft der Russen war außerordentlich, ihre Freundlichkeit, ihre Hilfsbereitschaft. Das haben wir überall so erlebt, bei uns im Teamquartier, auf den Reisen, in den Hotels. Ansonsten? Positiv? Sportlich? Das wissen wir alle – da war nicht viel. Natürlich, Schweden, Toni Kroos, das 2:1. Punktuell war das ein Hochgefühl, mehr nicht. Überhaupt war die WM für mich – und wohl für alle – unglaublich fordernd.
Ich weiß noch, dass es bei der EM 2016 schöne Momente abseits des Rasens gab. Wir haben Boule gespielt, Tennis, Snooker, Billard. In Russland gab es solche Aktivitäten für mich nicht. Von Beginn an war ich als Kapitän voll gefordert, habe viele Gespräche geführt, mit den Trainern, im Mannschaftsrat, mit einzelnen Spielern. Zudem kam ich aus einer langen Verletzung zurück, hatte also auch viel mit mir selber zu tun. Reha, Behandlung, Training – nach einer so langen Pause ist alles sensibler und zugleich intensiver. Insofern gab es kaum Raum für Ablenkungen, welcher Art auch immer. Wir haben eine schlechte WM gespielt. Punkt. Wir sind zurecht nach der Vorrunde ausgeschieden. Punkt. Wir haben die Fans enttäuscht. Wir haben uns enttäuscht. Und bis heute tut uns das leid.
Schwerer Gang
Nach der Landung in Frankfurt musste ich meiner Rolle als Kapitän einmal mehr gerecht werden. Die Öffentlichkeit erwartete eine weitere Erklärung. Aber was sollte ich erklären? Als ich damals am Flughafen vor die Presse getreten bin, war ich erschlagen von der Anzahl der Journalisten, die ganze Szenerie hat mich irritiert. Mich hat es erinnert an den Auftritt von Christian Lindner nach der Bundestagswahl. Als er Deutschland davon in Kenntnis setzte, dass die Jamaika-Verhandlungen gescheitert sind. Nur dass er eine Botschaft hatte. Hatte ich nicht. Was ich sagen will: Ich bin schon lange dabei, aber manchmal bin auch ich noch überrascht davon, welche Größe, welche Wucht der Fußball in Deutschland hat. Und dann steht man da, als immer noch junger Mensch, und muss sich stellen. Für die Mannschaft habe ich es gerne gemacht, aber es war ein schwerer Gang.
Wir beklagen uns ja oft über die Schnelllebigkeit der Branche, im Fall des Misserfolgs klage ich nicht. Wir hatten länger Urlaub als wir wollten, und dennoch war er zu kurz. Mir fiel es schwer, Abstand zu gewinnen. Die WM war überall präsent, in Gesprächen, im Fernsehen. Für mich war es eine Erleichterung, als wir uns schon im September wieder mit der Nationalmannschaft trafen. Natürlich haben wir schon vorher diverse Gespräche geführt, dennoch war es für viele sehr wichtig, noch einmal als Gruppe über Russland zu sprechen. Für den Weg in die Zukunft war die gemeinsame Analyse und Aufarbeitung von großer Bedeutung.
Wir haben jetzt eine neue Nationalmannschaft. Es sind Spieler nicht mehr dabei, die mit mir einen langen Weg gemeinsam gegangen sind. Das ist schmerzlich und es gibt auch Situationen, in denen das Wort "vermissen" zutreffend ist. Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Die Analyse der WM hat zur Konsequenz, dass der Bundetrainer das Gesicht der Mannschaft ändert und vielen neuen Spielern eine Chance gibt. Für mich ist das erstens genau richtig und zweitens total spannend. Ich lerne neue Spieler, Typen und Menschen kennen. Das setzt viel Energie frei, auf allen Seiten. Gerade in meiner Rolle als Kapitän ist das etwas Neues, es ist interessant, es fordert mich, und ich will ja gefordert werden. Die Meinung dieser Spieler zu hören, bringt auch mir etwas. Bei den Lehrgängen der Nationalmannschaft suche ich den Kontakt zu den Jungen, setze mich zu ihnen an die Tische und höre zu. Auch die anderen "Alten" machen das.
Tendenz stimmt
Hin und wieder kommen da Gedanken an meine Anfänge auf. Damals war es noch undenkbar, dass junge Spieler so viel Kontakt mit den erfahrenen haben. Es war viel hierarchischer, ich war auch scheuer, als die Jungen es heute sind. Heute trauen sich die Jungen viel schneller, sich einzubringen und ihre Meinung zu sagen. Und wenn nicht, werden sie von uns dazu ermutigt. Mir macht diese Konstellation großen Spaß. Ich finde es auch richtig, dass Joachim Löw neben den vielen Jungen auch auf ein Gerüst aus erfahrenen Spieler setzt. Die Zusammensetzung führt zu einer neuen Dynamik in der Mannschaft, von der alle profitieren.
Was daraus in der Zeit nach der WM entstanden ist, kann sich sehen lassen. Ja, es gab bittere Rückschläge, das 0:3 in Amsterdam war so einer. Ansonsten finde ich, dass die Tendenz stimmt. Ich weiß, dass wir in der Nations League abgestiegen sind, und es ist nicht populär, gegen Ergebnisse zu argumentieren. Dennoch finde ich es aktuell wichtiger, wie wir als Mannschaft auftreten. Und das war in beiden Spielen gegen Frankreich gut, es war gegen Russland gut und im Rückspiel gegen die Niederlande war es auch gut, trotz des bitteren Endes. Wir haben einen neuen Spirit in der Mannschaft, aber auch neuen Speed und Spielwitz. Und das sind gute Zutaten für eine erfolgreiche Zukunft.
Mein Fazit für 2018 lautet daher: Ich freue mich auf 2019. Als Nationalmannschaft haben wir viel Kredit verloren. Die Zurückhaltung der Fans bei den Spielen gegen Russland und die Niederlande hat dies sehr deutlich gezeigt. Ich bin mir aber sicher, dass wir uns aus diesem Tal befreien. Die Begeisterung in der Mannschaft ist riesig, und wir werden alles dafür tun, dass die Begeisterung um die Mannschaft auch wieder riesig wird.
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