"Liebe Europameister": Berti Vogts erinnert an den EM-Titel 1996

1996 wurde Deutschland zum dritten Mal Europameister. "Der Star ist die Mannschaft" war das Credo von Bundestrainer Berti Vogts. Eine Vorgabe, mit der in England alle Widrigkeiten überwunden wurden. 25 Jahre später schreibt Vogts auf DFB.de an seine Europameister und blickt zurück auf einen langen Weg, den die Mannschaft und er persönlich zum Titel gegangen sind.

Der 30. Juni 1996 war ein großer Tag für den deutschen Fußball. Er war ein besonders großer Tag für Euch, für mich, für uns. Der Tag, an dessen Abend wir zusammen Europameister wurden. Zum 25. Mal jährt sich in diesem Sommer unser Endspielsieg im Londoner Wembley-­Stadion gegen Tschechien.

Jürgen Klinsmann, unser Mannschaftskapitän, hatte vorgeschlagen, dieses silberne Jubiläum mit dem gesamten Team zu feiern. Im März sollte die Feier stattfinden, der Europapark Rust hatte geladen. Corona kam dazwischen, die Feier musste abgesagt werden. Im September soll sie nun nachgeholt werden - falls die COVID-­Viren sich bis dahin verzogen haben oder die Impfkampagne uns allen ausreichend Schutz gewährt. Eingeladen sind dann der komplette Spielerkader sowie der gesamte Trainer­- und Betreuerstab, das Team hinter dem Team. So, wie es dem Geist dieser Mannschaft entspricht. Denn dieser Gewinn der Europameisterschaft 1996 - er war ein Triumph des Teamspirits.

Das erste Bild, das ich vor Augen habe, wenn meine Gedanken Richtung EM ’96 wandern, ist die Kurve mit unseren Fans im Wembley­-Stadion. Die Fans, die uns mit ihrer lautstarken Unterstützung gegen die Übermacht der tschechischen und englischen Zuschauer*innen so toll unterstützt und uns nach dem Abpfiff so fantastisch gefeiert haben. Vor dieser stimmgewaltigen, enthusiastischen Kurve haben wir uns alle - und schließlich auch ich persönlich - mit der "La Ola" bedanken dürfen. Diese Momente werden für mich immer unvergessen bleiben und immer eine herausragende Bedeutung haben.

Ausgerechnet England, ausgerechnet Manchester

Ihr wisst: Mit England verbindet mich viel. Schon als junger Profi wurde ich von Hennes Weisweiler, meinem Trainer in Mönchengladbach, mal zu Spielen nach England mitgenommen. Und auch bei der WM 1966 habe ich ihn zu Vorrundenspielen unserer Mannschaft begleiten dürfen. Bis heute weiß ich nicht genau, warum er das getan hat. Vielleicht weil er einen Chauffeur brauchte, da er mit dem Linksverkehr in England nicht zurechtkam. Für mich war es auf jeden Fall eine grandiose Erfahrung, wir haben damals ein paar Mal auf dem Trainingsplatz der Nationalmannschaft privat trainiert. Ich habe so zum ersten Mal ein wenig Nationalmannschaftsluft schnuppern und Einblicke in diese Welt gewinnen können. Mit dem englischen Fußball verbindet mich viel - und auch mit Manchester, dem Ort unserer ersten vier EM-­Spiele. Anfang 1990 war ich als DFB-­Trainer mehrere Wochen Gast von Alex Ferguson, das riesige Talent des damals 16­-jährigen David Beckham ist mir sofort aufgefallen. Und natürlich war es faszinierend und prägend, einen Trainer wie Alex Ferguson bei der Arbeit erleben zu können.

Und nun begann ausgerechnet in Manchester unser Siegeszug, der in Wembley schließlich gekrönt wurde. Für mich im 50. Lebensjahr mit dem Finale in meinem 75. Länderspiel als Bundestrainer. Die Realität schrieb eine Geschichte, die man sich nicht besser hätte ausdenken können. Hinter uns lag ein langer Weg, ein Weg mit Höhen und Tiefen. Sechs Jahre waren seit meinem Amtsantritt 1990 vergangen. Sechs Jahre, in denen wir 1992 in Schweden Vize­-Europameister wurden, was ich nach wie vor, im Gegensatz zur damals veröffentlichten Meinung, als Erfolg werte. Sechs Jahre, in denen wir 1994 das WM­-Aus im Viertelfinale in den USA als große Enttäuschung erleben mussten. Sechs Jahre, in denen ich bis zum EM-­Start 1996 deutliche Korrekturen am taktischen und personellen Erscheinungsbild der Mannschaft und auch einige Veränderungen an meinem eigenen Verhalten vorgenommen habe.

Kleine Änderungen, große Wirkung

Liebe Europameister, Ihr habt miterlebt, wie die seit der WM 1990 verkrustete Hierarchie in der Mannschaft zunehmend durchlässiger und für alle transparenter wurde. Mit Jürgen Klinsmann und Matthias Sammer, aber auch Jürgen Kohler als neuen Leitfiguren. Mit ihnen kehrte eine positive Atmosphäre ins Team ein, geprägt von Offenheit und Mitsprache, aber auch klaren und deutlichen Ansagen. Zusammen mit einem modifizierten Führungsstil meinerseits bewirkte dies schließlich eine einzigartige mannschaftliche Geschlossenheit als Basis für den EM­-Triumph. Auf dem Spielfeld wurde dies bereits während der Rückrunde der EM-­Qualifikation deutlich - mit vier Siegen in vier Spielen und dem abschließenden 3:1-­Erfolg über die starken Bulgaren.

Ganz bewusst schloss ich danach Jürgen Klinsmann, Matthias Sammer und Jürgen Kohler in die Entscheidungsfindung für unser Mannschaftsquartier in England ein. Ausdrücklich gewünscht waren Stadtnähe, gute Freizeitmöglichkeiten, kurze Anfahrtszeiten zum Stadion und die Option, dass die Spielerfrauen nach den Partien problemlos ins Mannschaftshotel kommen konnten. All das erfüllte unser Heimquartier in Manchester: Mottram Hall, eine exklusive Luxusherberge im englischen Landhausstil. Mit Golfplatz, eigenem Fußballplatz und vielen Freizeiteinrichtungen, ruhig und abgeschieden und doch nur 20 Kilometer vom Old Trafford und der Stadtmitte entfernt. Mottram Hall wurde, Ihr erinnert Euch bestimmt noch, zum idealen Ausgangpunkt für unsere drei Vorrundenspiele und das Viertelfinale in Manchester.

Noch heute blicke ich voller Stolz darauf, wie wir beim 2:0 über Tschechien, den Zehnten, beim 3:0 gegen Russland, den Dritten, und beim 0:0 gegen Italien, den Vierten der damaligen FIFA-Weltrangliste, in der Vorrunde agiert haben. Ihr habt ungemein temperamentvolle, von riesigem Willen, enormer Kampfkraft und unserer neuen Taktik geprägte Vorstellungen hingelegt und alles umgesetzt, was wir uns von Euch erhofft hatten. Das waren ganz andere Auftritte als zuvor bei der WM 1994 in den USA.

"Der Star ist die Mannschaft!"

Mit großer Hochachtung blicke ich zurück auf die fantastische Entwicklung zu einer Mannschaft, die diesen Namen absolut verdient. Zu Beginn des Jahres 1995 begannen wir, nach der schweren Achillessehnenverletzung von Lothar Matthäus und der Trennung von diversen Spielern, als Nationalteam noch mal ganz von vorn. 18 Monate später konnte ich mich vor Euch als einer Mannschaft verbeugen, die sich in England als verschworene Gemeinschaft präsentierte, die mit Willenskraft und Zusammenhalt, Moral, Charakterstärke und zuvor noch nicht erlebter Leidensfähigkeit alle physischen und psychischen Widrigkeiten auf dem Weg zum EM­-Titel überwunden hat.

Intern gesteuert von echten Anführern wie Jürgen Klinsmann und Matthias Sammer, den Vorarbeitern der sieben Bayern und fünf Dortmunder in unserem Team. Noch heute bin ich froh und glücklich über das intensive Gespräch mit Dir, Matthias, bei einem langen Strandspaziergang in Florida während unserer USA­-Reise 1993. Danach hatten wir, Du wirst das bestätigen, einen ganz anderen Zugang zueinander. Geprägt von Vertrauen, Respekt und Sympathie. So wurde Matthias mit neuer Ausstrahlung und einem positiven Zugriff auf die Mannschaft unser überragender Libero, ein Anführer, dessen Wort Gewicht hatte und dessen Taten auf dem Platz ihm echte Autorität verliehen. 

"Der Star ist die Mannschaft"! So lautete meine und unsere Vorgabe für die EM im Mutterland des Fußballs. Teamgeist statt Starkult, "wir" statt "ich". Matthias, Du hast dies mit Deinen herausragenden Leistungen in den Alles­-oder-­nichts-Spielen im Viertelfinale gegen Kroatien, danach gegen England und im Endspiel gegen Tschechien verkörpert, aber eigentlich könnte ich alle anderen genauso hervorheben. Als Mannschaft waren wir dermaßen gefestigt, dass uns nichts aus der Bahn werfen konnte. Nicht unsere unglaubliche Ausfallquote während des Turniers und auch nicht der unberechtigte Elfmeter im Endspiel. Als Musterbeispiel für den großen inneren Zusammenhalt komme ich an Jürgen Kohler nicht vorbei. Unser Weltklasse­-Vorstopper zog sich im ersten Gruppenspiel einen Innenbandriss zu und musste nach Hause fliegen. Doch mit geschientem Bein bist Du wenig später ins Teamquartier zurückgekehrt, hast intern eine wichtige Führungsrolle übernommen und Dich speziell um Markus Babbel gekümmert, Deinen ausgezeichneten Vertreter. Jürgen, davor ziehe ich den Hut, das war einfach ganz stark!

Medizinische Abteilung im Dauereinsatz

Geradezu absurd war die personelle Situation vor dem Finale. Stefan Reuter und Andreas Möller, der zusammen mit Andy Köpke, dem besten Torhüter der EM, den Sieg beim Elfmeterschießen gegen England im Halbfinale vollendet hatte, waren fürs Endspiel gelbgesperrt. Steffen Freund hatte sich in der dramatischen Verlängerung gegen Eng­land einen Kreuzbandriss zugezogen. Fredi Bobic mit einer schweren Schulterverletzung und Mario Basler nach einem Trainingsunfall mit Christian Ziege mussten schon vorher abreisen. Und bei Jürgen Klinsmann und Thomas Helmer schien wegen ihrer Verletzungen der Einsatz im Endspiel so gut wie ausgeschlossen.

Womit ich bei der Hauptrolle bin, die das Team hinter dem Team bei dieser EURO eingenommen hat. Rainer Bonhof, mein einstiger Mitspieler in Mönchengladbach, hat als Co-Trainer einen ganz tollen Job gemacht, war nicht nur mein Assistent, er war und ist noch immer mein Freund. Wolfgang Niersbach, unserem Pressechef, habe ich es mit seinen wertvollen Tipps und Ratschlägen zu verdanken, dass ich als Bundestrainer intern und extern viele Dinge nicht mehr zu verbissen gesehen und mich viel lockerer und dennoch konsequent verhalten habe. Und dann war da natürlich unsere medizinische Abteilung mit den Chefärzten Professor Wilfried Kindermann und Dr. Hans­-Wilhelm Müller-­Wohlfahrt sowie dem ein Jahr später leider viel zu früh verstorbenen Physiotherapeuten Hansi Montag an der Spitze. Ich kann sagen: Sie haben wirklich übermenschliche Leistungen vollbracht. Mit ihrem Dauereinsatz rund um die Uhr im ständig fast voll besetzten Lazarett bekamen sie sogar die nahezu aussichtslosen Fälle Klinsmann und Helmer fürs Finale einsatzbereit. Wobei es auch im Finale einen herben personellen Rückschlag gab: Kurz vor dem Halbzeitpfiff musste Dieter Eilts, der bis dahin in allen sechs Spielen läuferisch und taktisch brilliert hatte, mit Innenbandriss ausgewechselt werden.

Es waren unglaubliche Vorzeichen, die in der einzigartigen Dramaturgie des Finales gipfelten, für dessen Höhepunkt Oliver Bierhoff sorgte. Bei unserer rauschenden Siegesfeier später im Londoner Landmark-­Hotel erzählte ich einigen von Euch, wie ich mit mir gerungen habe, ob ich Ulf Kirsten, Heiko Herrlich, Kalle Riedle oder Bierhoff neben Klins­mann, Bobic und Kuntz nach England mitnehmen sollte. Für Oliver sprach, dass er mit seinen zwei Toren zum 2:0­-Sieg über Europameister Dänemark im März ’96 kurz vor EM­-Beginn der Shooting Star war. Und: Ich erinnerte mich, dass er bei mir in der U 18 vor vielen Jahren entscheidende Tore erzielt hatte. Zum Glück für uns alle ist mir das rechtzeitig wieder eingefallen.

Wir sehen uns!

Olli, ich weiß heute noch, wie angefressen Du warst, weil Du im Halbfinale trotz des Fehlens von Jürgen und Fredi nicht zum Einsatz kamst. Gegen die Engländer hatte ich mich aus taktischen Gründen mit Stefan Kuntz für nur einen Stürmer entschieden. Doch Deine Leistung nach der Einwechslung im Finale, als Du Deinen verständlichen Frust in Energie und in die Treffer zum Ausgleich und zum ersten Golden Goal der Fußballgeschichte umgewandelt hast, rundet die Geschichte unserer Mannschaft bei dieser EURO ab: eine verschworene Gemeinschaft großartiger Einzelkönner. Vom Mann im Tor über die Defensivkünstler in der Abwehr und Taktikfüchse im Mittelfeld bis zu den Vollstreckern ganz vorne. Und die Heiler und Helfer im Hintergrund.

Bei Euch allen will ich mich hiermit - und dann im September im Europapark in Rust - noch einmal bedanken. Aus der Ferne scheint es mir, als hätten die meisten von Euch ihren Platz im Leben gefunden. Viele von Euch sind als Trainer aktiv, viele waren oder sind für den DFB im Einsatz, die meisten in irgendeiner Form dem Fußball bis heute verbunden. Ich habe den Eindruck, als wären die Europameister von 1996 zufriedene und glückliche Menschen. Und jedem von Euch gönne ich dies von Herzen - Ihr alle habt nur das Beste verdient. Ich freue mich schon jetzt darauf, im September, wenn wir die Einladung des Europaparks an die Europameister hoffentlich wahrnehmen können, von jedem Einzelnen persönlich zu hören, was er macht und wie es ihm geht.

Euer Berti Vogts

[dfb]

1996 wurde Deutschland zum dritten Mal Europameister. "Der Star ist die Mannschaft" war das Credo von Bundestrainer Berti Vogts. Eine Vorgabe, mit der in England alle Widrigkeiten überwunden wurden. 25 Jahre später schreibt Vogts auf DFB.de an seine Europameister und blickt zurück auf einen langen Weg, den die Mannschaft und er persönlich zum Titel gegangen sind.

Der 30. Juni 1996 war ein großer Tag für den deutschen Fußball. Er war ein besonders großer Tag für Euch, für mich, für uns. Der Tag, an dessen Abend wir zusammen Europameister wurden. Zum 25. Mal jährt sich in diesem Sommer unser Endspielsieg im Londoner Wembley-­Stadion gegen Tschechien.

Jürgen Klinsmann, unser Mannschaftskapitän, hatte vorgeschlagen, dieses silberne Jubiläum mit dem gesamten Team zu feiern. Im März sollte die Feier stattfinden, der Europapark Rust hatte geladen. Corona kam dazwischen, die Feier musste abgesagt werden. Im September soll sie nun nachgeholt werden - falls die COVID-­Viren sich bis dahin verzogen haben oder die Impfkampagne uns allen ausreichend Schutz gewährt. Eingeladen sind dann der komplette Spielerkader sowie der gesamte Trainer­- und Betreuerstab, das Team hinter dem Team. So, wie es dem Geist dieser Mannschaft entspricht. Denn dieser Gewinn der Europameisterschaft 1996 - er war ein Triumph des Teamspirits.

Das erste Bild, das ich vor Augen habe, wenn meine Gedanken Richtung EM ’96 wandern, ist die Kurve mit unseren Fans im Wembley­-Stadion. Die Fans, die uns mit ihrer lautstarken Unterstützung gegen die Übermacht der tschechischen und englischen Zuschauer*innen so toll unterstützt und uns nach dem Abpfiff so fantastisch gefeiert haben. Vor dieser stimmgewaltigen, enthusiastischen Kurve haben wir uns alle - und schließlich auch ich persönlich - mit der "La Ola" bedanken dürfen. Diese Momente werden für mich immer unvergessen bleiben und immer eine herausragende Bedeutung haben.

Ausgerechnet England, ausgerechnet Manchester

Ihr wisst: Mit England verbindet mich viel. Schon als junger Profi wurde ich von Hennes Weisweiler, meinem Trainer in Mönchengladbach, mal zu Spielen nach England mitgenommen. Und auch bei der WM 1966 habe ich ihn zu Vorrundenspielen unserer Mannschaft begleiten dürfen. Bis heute weiß ich nicht genau, warum er das getan hat. Vielleicht weil er einen Chauffeur brauchte, da er mit dem Linksverkehr in England nicht zurechtkam. Für mich war es auf jeden Fall eine grandiose Erfahrung, wir haben damals ein paar Mal auf dem Trainingsplatz der Nationalmannschaft privat trainiert. Ich habe so zum ersten Mal ein wenig Nationalmannschaftsluft schnuppern und Einblicke in diese Welt gewinnen können. Mit dem englischen Fußball verbindet mich viel - und auch mit Manchester, dem Ort unserer ersten vier EM-­Spiele. Anfang 1990 war ich als DFB-­Trainer mehrere Wochen Gast von Alex Ferguson, das riesige Talent des damals 16­-jährigen David Beckham ist mir sofort aufgefallen. Und natürlich war es faszinierend und prägend, einen Trainer wie Alex Ferguson bei der Arbeit erleben zu können.

Und nun begann ausgerechnet in Manchester unser Siegeszug, der in Wembley schließlich gekrönt wurde. Für mich im 50. Lebensjahr mit dem Finale in meinem 75. Länderspiel als Bundestrainer. Die Realität schrieb eine Geschichte, die man sich nicht besser hätte ausdenken können. Hinter uns lag ein langer Weg, ein Weg mit Höhen und Tiefen. Sechs Jahre waren seit meinem Amtsantritt 1990 vergangen. Sechs Jahre, in denen wir 1992 in Schweden Vize­-Europameister wurden, was ich nach wie vor, im Gegensatz zur damals veröffentlichten Meinung, als Erfolg werte. Sechs Jahre, in denen wir 1994 das WM­-Aus im Viertelfinale in den USA als große Enttäuschung erleben mussten. Sechs Jahre, in denen ich bis zum EM-­Start 1996 deutliche Korrekturen am taktischen und personellen Erscheinungsbild der Mannschaft und auch einige Veränderungen an meinem eigenen Verhalten vorgenommen habe.

Kleine Änderungen, große Wirkung

Liebe Europameister, Ihr habt miterlebt, wie die seit der WM 1990 verkrustete Hierarchie in der Mannschaft zunehmend durchlässiger und für alle transparenter wurde. Mit Jürgen Klinsmann und Matthias Sammer, aber auch Jürgen Kohler als neuen Leitfiguren. Mit ihnen kehrte eine positive Atmosphäre ins Team ein, geprägt von Offenheit und Mitsprache, aber auch klaren und deutlichen Ansagen. Zusammen mit einem modifizierten Führungsstil meinerseits bewirkte dies schließlich eine einzigartige mannschaftliche Geschlossenheit als Basis für den EM­-Triumph. Auf dem Spielfeld wurde dies bereits während der Rückrunde der EM-­Qualifikation deutlich - mit vier Siegen in vier Spielen und dem abschließenden 3:1-­Erfolg über die starken Bulgaren.

Ganz bewusst schloss ich danach Jürgen Klinsmann, Matthias Sammer und Jürgen Kohler in die Entscheidungsfindung für unser Mannschaftsquartier in England ein. Ausdrücklich gewünscht waren Stadtnähe, gute Freizeitmöglichkeiten, kurze Anfahrtszeiten zum Stadion und die Option, dass die Spielerfrauen nach den Partien problemlos ins Mannschaftshotel kommen konnten. All das erfüllte unser Heimquartier in Manchester: Mottram Hall, eine exklusive Luxusherberge im englischen Landhausstil. Mit Golfplatz, eigenem Fußballplatz und vielen Freizeiteinrichtungen, ruhig und abgeschieden und doch nur 20 Kilometer vom Old Trafford und der Stadtmitte entfernt. Mottram Hall wurde, Ihr erinnert Euch bestimmt noch, zum idealen Ausgangpunkt für unsere drei Vorrundenspiele und das Viertelfinale in Manchester.

Noch heute blicke ich voller Stolz darauf, wie wir beim 2:0 über Tschechien, den Zehnten, beim 3:0 gegen Russland, den Dritten, und beim 0:0 gegen Italien, den Vierten der damaligen FIFA-Weltrangliste, in der Vorrunde agiert haben. Ihr habt ungemein temperamentvolle, von riesigem Willen, enormer Kampfkraft und unserer neuen Taktik geprägte Vorstellungen hingelegt und alles umgesetzt, was wir uns von Euch erhofft hatten. Das waren ganz andere Auftritte als zuvor bei der WM 1994 in den USA.

"Der Star ist die Mannschaft!"

Mit großer Hochachtung blicke ich zurück auf die fantastische Entwicklung zu einer Mannschaft, die diesen Namen absolut verdient. Zu Beginn des Jahres 1995 begannen wir, nach der schweren Achillessehnenverletzung von Lothar Matthäus und der Trennung von diversen Spielern, als Nationalteam noch mal ganz von vorn. 18 Monate später konnte ich mich vor Euch als einer Mannschaft verbeugen, die sich in England als verschworene Gemeinschaft präsentierte, die mit Willenskraft und Zusammenhalt, Moral, Charakterstärke und zuvor noch nicht erlebter Leidensfähigkeit alle physischen und psychischen Widrigkeiten auf dem Weg zum EM­-Titel überwunden hat.

Intern gesteuert von echten Anführern wie Jürgen Klinsmann und Matthias Sammer, den Vorarbeitern der sieben Bayern und fünf Dortmunder in unserem Team. Noch heute bin ich froh und glücklich über das intensive Gespräch mit Dir, Matthias, bei einem langen Strandspaziergang in Florida während unserer USA­-Reise 1993. Danach hatten wir, Du wirst das bestätigen, einen ganz anderen Zugang zueinander. Geprägt von Vertrauen, Respekt und Sympathie. So wurde Matthias mit neuer Ausstrahlung und einem positiven Zugriff auf die Mannschaft unser überragender Libero, ein Anführer, dessen Wort Gewicht hatte und dessen Taten auf dem Platz ihm echte Autorität verliehen. 

"Der Star ist die Mannschaft"! So lautete meine und unsere Vorgabe für die EM im Mutterland des Fußballs. Teamgeist statt Starkult, "wir" statt "ich". Matthias, Du hast dies mit Deinen herausragenden Leistungen in den Alles­-oder-­nichts-Spielen im Viertelfinale gegen Kroatien, danach gegen England und im Endspiel gegen Tschechien verkörpert, aber eigentlich könnte ich alle anderen genauso hervorheben. Als Mannschaft waren wir dermaßen gefestigt, dass uns nichts aus der Bahn werfen konnte. Nicht unsere unglaubliche Ausfallquote während des Turniers und auch nicht der unberechtigte Elfmeter im Endspiel. Als Musterbeispiel für den großen inneren Zusammenhalt komme ich an Jürgen Kohler nicht vorbei. Unser Weltklasse­-Vorstopper zog sich im ersten Gruppenspiel einen Innenbandriss zu und musste nach Hause fliegen. Doch mit geschientem Bein bist Du wenig später ins Teamquartier zurückgekehrt, hast intern eine wichtige Führungsrolle übernommen und Dich speziell um Markus Babbel gekümmert, Deinen ausgezeichneten Vertreter. Jürgen, davor ziehe ich den Hut, das war einfach ganz stark!

Medizinische Abteilung im Dauereinsatz

Geradezu absurd war die personelle Situation vor dem Finale. Stefan Reuter und Andreas Möller, der zusammen mit Andy Köpke, dem besten Torhüter der EM, den Sieg beim Elfmeterschießen gegen England im Halbfinale vollendet hatte, waren fürs Endspiel gelbgesperrt. Steffen Freund hatte sich in der dramatischen Verlängerung gegen Eng­land einen Kreuzbandriss zugezogen. Fredi Bobic mit einer schweren Schulterverletzung und Mario Basler nach einem Trainingsunfall mit Christian Ziege mussten schon vorher abreisen. Und bei Jürgen Klinsmann und Thomas Helmer schien wegen ihrer Verletzungen der Einsatz im Endspiel so gut wie ausgeschlossen.

Womit ich bei der Hauptrolle bin, die das Team hinter dem Team bei dieser EURO eingenommen hat. Rainer Bonhof, mein einstiger Mitspieler in Mönchengladbach, hat als Co-Trainer einen ganz tollen Job gemacht, war nicht nur mein Assistent, er war und ist noch immer mein Freund. Wolfgang Niersbach, unserem Pressechef, habe ich es mit seinen wertvollen Tipps und Ratschlägen zu verdanken, dass ich als Bundestrainer intern und extern viele Dinge nicht mehr zu verbissen gesehen und mich viel lockerer und dennoch konsequent verhalten habe. Und dann war da natürlich unsere medizinische Abteilung mit den Chefärzten Professor Wilfried Kindermann und Dr. Hans­-Wilhelm Müller-­Wohlfahrt sowie dem ein Jahr später leider viel zu früh verstorbenen Physiotherapeuten Hansi Montag an der Spitze. Ich kann sagen: Sie haben wirklich übermenschliche Leistungen vollbracht. Mit ihrem Dauereinsatz rund um die Uhr im ständig fast voll besetzten Lazarett bekamen sie sogar die nahezu aussichtslosen Fälle Klinsmann und Helmer fürs Finale einsatzbereit. Wobei es auch im Finale einen herben personellen Rückschlag gab: Kurz vor dem Halbzeitpfiff musste Dieter Eilts, der bis dahin in allen sechs Spielen läuferisch und taktisch brilliert hatte, mit Innenbandriss ausgewechselt werden.

Es waren unglaubliche Vorzeichen, die in der einzigartigen Dramaturgie des Finales gipfelten, für dessen Höhepunkt Oliver Bierhoff sorgte. Bei unserer rauschenden Siegesfeier später im Londoner Landmark-­Hotel erzählte ich einigen von Euch, wie ich mit mir gerungen habe, ob ich Ulf Kirsten, Heiko Herrlich, Kalle Riedle oder Bierhoff neben Klins­mann, Bobic und Kuntz nach England mitnehmen sollte. Für Oliver sprach, dass er mit seinen zwei Toren zum 2:0­-Sieg über Europameister Dänemark im März ’96 kurz vor EM­-Beginn der Shooting Star war. Und: Ich erinnerte mich, dass er bei mir in der U 18 vor vielen Jahren entscheidende Tore erzielt hatte. Zum Glück für uns alle ist mir das rechtzeitig wieder eingefallen.

Wir sehen uns!

Olli, ich weiß heute noch, wie angefressen Du warst, weil Du im Halbfinale trotz des Fehlens von Jürgen und Fredi nicht zum Einsatz kamst. Gegen die Engländer hatte ich mich aus taktischen Gründen mit Stefan Kuntz für nur einen Stürmer entschieden. Doch Deine Leistung nach der Einwechslung im Finale, als Du Deinen verständlichen Frust in Energie und in die Treffer zum Ausgleich und zum ersten Golden Goal der Fußballgeschichte umgewandelt hast, rundet die Geschichte unserer Mannschaft bei dieser EURO ab: eine verschworene Gemeinschaft großartiger Einzelkönner. Vom Mann im Tor über die Defensivkünstler in der Abwehr und Taktikfüchse im Mittelfeld bis zu den Vollstreckern ganz vorne. Und die Heiler und Helfer im Hintergrund.

Bei Euch allen will ich mich hiermit - und dann im September im Europapark in Rust - noch einmal bedanken. Aus der Ferne scheint es mir, als hätten die meisten von Euch ihren Platz im Leben gefunden. Viele von Euch sind als Trainer aktiv, viele waren oder sind für den DFB im Einsatz, die meisten in irgendeiner Form dem Fußball bis heute verbunden. Ich habe den Eindruck, als wären die Europameister von 1996 zufriedene und glückliche Menschen. Und jedem von Euch gönne ich dies von Herzen - Ihr alle habt nur das Beste verdient. Ich freue mich schon jetzt darauf, im September, wenn wir die Einladung des Europaparks an die Europameister hoffentlich wahrnehmen können, von jedem Einzelnen persönlich zu hören, was er macht und wie es ihm geht.

Euer Berti Vogts

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