Lewis Holtby: "Der Fußball ist noch Teil meines Glückes"

Lewis Holtby hat drei Spiele für die deutsche Nationalmannschaft absolviert, war Kapitän der deutschen U 21 und hat beim 1. FSV Mainz 05 gemeinsam mit André Schürrle und Adam Szalai für Furore gesorgt. Mit DFB.de spricht der 30 Jahre alte einstige "Bruchweg-Boy" über die "Boyband" in der DFB-Auswahl und die Chancen bei der EURO.

DFB.de: Herr Holtby, diverse Nationalspieler sorgen derzeit abseits des Platzes für Aufmerksamkeit, indem sie sich als "Boyband" betätigen. Klingelt da was bei Ihnen?

Lewis Holtby: Ja, klar. Die "Bruchweg-Boys" - diese Geschichte wird immer zu mir gehören, ich werde immer mal wieder daran erinnert und darauf angesprochen. 

DFB.de: Gemeinsam mit André Schürrle und Adam Szalai haben Sie vor elf Jahren als "Bruchweg-Boy" die Stadien der Liga gerockt. Nach Toren haben Sie beim Jubel die Posen einer Musikband nachgeahmt.

Holtby: Genau.

DFB.de: Was haben Sie gedacht, als Sie nun gesehen haben, wie Joshua Kimmich, Kevin Volland, Serge Gnabry und Jonas Hofmann zum Gesang von Mats Hummels und Kevin Trapp Gitarre spielen?

Holtby: Das sind natürlich alles billige Kopien. Ich werde mal meine Anwälte darauf ansetzen, da sind bestimmt Gema-Gebühren für mich drin. (lacht) Im Ernst: Es ist doch klar, dass bei mir bei solchen Geschichten Erinnerungen wach werden. Mir zeigt es aber vor allem, dass die Jungs viel Spaß haben und die Stimmung in der Mannschaft gut ist. Und das sind keine schlechten Voraussetzungen für den weiteren Turnierverlauf.

DFB.de: Wie gefällt Ihnen die EM bisher?

Holtby: Ganz entscheidend ist für mich, dass wieder Zuschauer dabei sind. Es macht einfach Spaß, daran erinnert zu werden, wie Fußball sein sollte. Mit fröhlichen, friedlichen und feiernden Fans. Ich kann schlecht beurteilen, ob es in jedem Stadion und in jeder Stadt vernünftig ist, wieder Fans zuzulassen, vor allem in der Anzahl, teilweise sind die Stadien ja bis auf den letzten Platz besetzt. Aber ich finde, dass es München wirklich vorbildlich macht. Es sind "nur" rund 15.000 Fans im Stadion, das ist bestimmt vertretbar, und diese 15.000 verleihen dem Spiel einen großartigen Rahmen. Was das angeht, bin ich wirklich positiv überrascht.

DFB.de: Und sportlich: Was sagen Sie zu den Auftritten der deutschen Mannschaft?

Holtby: Das Spiel gegen Portugal kann ein Befreiungsschlag gewesen sein - und auch ein Signal in Richtung der anderen Mannschaften: Mit Deutschland ist wieder zu rechnen. Zumal unsere Mannschaft, wenn man 2018 mal ausklammert, immer eine Turniermannschaft gewesen ist. Schon im Spiel gegen Frankreich war zu sehen, dass wir mithalten können. Uns hat ein Tor gefehlt, aber - mit ein paar Abstrichen - viel schlechter als der Weltmeister waren wir nicht. Gegen Portugal war es dann ein richtiges Fußballfest. Die Mannschaft hat geliefert - und das unter maximalem Druck. Nach dem 0:1 musste man sich kurzzeitig ja große Sorgen machen. Es war dann beeindruckend, wie sich unser Team nicht hat verunsichern lassen und einfach weitergemacht hat. Bei der U 21-EM waren wir alle begeistert von der Hingabe, mit der die Jungs gespielt haben, die A-Mannschaft hat daran nun angeknüpft. Wenn die Spieler das beibehalten, hat die Mannschaft bei der EM noch einige Spiele vor sich.

DFB.de: Deutschland spielt nun gegen Ungarn, Kapitän dort ist Adam Szalai, einer der "Bruchweg-Boys", mit dem Sie bis heute befreundet sind. Was ist die erste Assoziation, die Sie mit ihm verbinden?

Holtby: Er ist ein Spaßmacher in der Kabine, jemand, der oft lächelt. Er ist ein Baum, ein Riesenkerl, ein ganz netter, intelligenter Typ. Wir hatten ein Topzeit in Mainz. Sportlich war es die unbeschwerteste Zeit meiner Karriere. Wir hatten auf dem Platz viel Spaß und genauso außerhalb des Platzes.

DFB.de: Das Trio Schürrle-Szalai-Holtby gab es nicht nur beim gemeinsamen Jubel, oder?

Holtby: Wir drei waren damals sehr eng, haben privat viel unternommen. Ich erinnere mich noch an viele Abende bei Adam zu Hause. Er hatte ein DJ-Pult bei sich im Wohnzimmer und hat leidenschaftlich Musik gemacht. Wir haben oft bei ihm aufgelegt, gechillt, die Zeit genossen. Wir waren damals oft zu Dritt, "Schü", Adam und ich. Häufig hatten wir in dieser Konstellation richtig gute Abende, manchmal waren auch noch andere Mitspieler dabei. Aber der Kern waren wir drei. Daraus ist diese "Bruchweg-Boys"-Geschichte entstanden. Vor dem ersten Spiel gegen Stuttgart haben wir gesagt, wenn einer von uns ein Tor macht, dann machen wir was an der Eckfahne und imitieren eine Band. Die Nummer wurde immer größer und war irgendwann Kult.

DFB.de: Wie haben Sie den Hype damals erlebt, waren Sie mit dem Interesse teilweise überfordert?

Holtby: Wenn man jung ist und die Karriere erst beginnt - und dann geht es auf einmal so steil nach oben, dann kann das auch schwierig sein. Ich war ein halbes Jahr zuvor im Rahmen meiner Leihe nach Bochum noch aus der Bundesliga abgestiegen. Und dann passiert auf einmal so viel und so rasant. Einfach war das nicht, ich hatte damals auch meine Tiefen. Nicht immer habe ich die Bodenhaftung behalten. Von zu Hause aus bin ich da eigentlich gut aufgestellt, aber es gibt Momente, da fliegst du einfach. Als junger Bursche, so viele Schulterklopfer, ZDF-Sportstudio, gefühlt ganz Deutschland, alle wollen was von dir. Ich halte es für menschlich, dass man da auch mal kurz davonschweben kann.

DFB.de: André Schürrle hat im vergangenen Jahr seine Karriere vergleichsweise früh beendet und im Rahmen seines Rücktritts davon gesprochen, dass er durch den Fußball phasenweise jemand war, der er gar nicht sein wollte. Dass er in der Kabine eine Rolle gespielt hat. Können Sie nachempfinden, was er damit meint?

Holtby: Ja, wobei ich nicht glaube, dass er speziell die Anfänge in Mainz gemeint hat. Ganz grundsätzlich gibt es einige Dinge, die man als Jungprofi erst mal verarbeiten muss. Bei mir war es so, dass ich aus einem ganz gewöhnlichen Umfeld stamme. Ich will mich bestimmt nicht beklagen, uns ging es nicht schlecht, aber wir hatten nie mehr als normal. Und auf einmal hat man viele Punkte in der Tabelle und noch mehr Geld auf dem Konto. Die Welt liegt einem zu Füßen. Man kann sich ein teures Auto leisten, Klamotten natürlich, es gibt einen Sog, von dem man mitgezogen wird. Es stimmt schon, man ist dann jemand, der man gar nicht sein will. Die Gefahr besteht auf jeden Fall. Bei Schü war dies vielleicht noch ein bisschen stärker ausgeprägt als bei mir. Wichtig ist dann, dass das Umfeld und die Liebsten schnell reagieren und gegensteuern. Das ist dann auch geschehen, bei André genauso wie bei mir. Wobei wir beide zum Glück Menschen sind, die sich selbst gut reflektieren können. Insofern, meine ich, gab es nie eine große Gefahr, dass dieser Zustand des "Jemand-anders-seins" langfristig anhält.

DFB.de: Wenn Sie heute zurückblicken auf die Zeit der "Bruchweg-Boys", auf den legendären Band-Auftritt im Sportstudio, würden Sie so etwas noch einmal machen?

Holtby: Auf jeden Fall. Wir waren jung, wir haben uns ausprobiert. Wenn man von einem 19-Jährigen verlangt, dass er einen Kopf haben muss wie ein 35-Jähriger, dann kann ich das nicht verstehen. Es liegt doch im Naturell des Menschen, Spaß haben zu wollen und auch seine Jugendlichkeit auszuleben. Wir haben damals nicht groß nachgedacht - und das war gut so. Ich kann daran nichts Falsches finden und stehe zu dem, was wir gemacht haben, wie wir gewesen sind und wie wir uns gegeben haben. Wenn ich heute ins Sportstudio gehen würde, würde ich anders auftreten, aber ich bin auch zwei, drei Tage älter.

DFB.de: Sie sind jetzt 30 Jahre alt. Hinter Ihnen liegen drei Länderspiele, aber keine große Karriere in der Nationalmannschaft. Wenn Sie die Spiele der EM 2020 verfolgen - schwingt da auch Wehmut mit? Und der Gedanke, wenn ein paar Dinge anders gelaufen wären, hätte ich jetzt auch dabei sein können...

Holtby: Ich bin im Reinen, positiv wie negativ. Ich bin dankbar für die Karriere, die ich bis hierhin hatte. Alles, was ich erleben durfte, betrachte ich als Privileg. In Trauer zurückblicken? Keineswegs! Ich durfte drei Spiele für Deutschland machen, darauf bin ich stolz. Natürlich hatte ich damals die Hoffnung, dass es mehr werden würden und dass die Karriere ausschließlich steil geht. Aber so ist es bei den Allerwenigsten, und das muss man dann auch akzeptieren können. Nicht alle Träume und Hoffnungen haben sich erfüllt, ja, aber sehr, sehr viele und viel mehr als bei den allermeisten Fußballern. Ich war Kapitän der U 21, ich habe für Deutschland gespielt, ich habe in der Bundesliga gespielt und durfte auch die Premier League kennenlernen. Diese vielen tollen und großen Erfahrungen werde ich immer wertschätzen.

DFB.de: In der vergangenen Saison waren Sie für die Blackburn Rover in der 2. Liga in England im Einsatz. Es zieht Sie aber zurück nach Deutschland. Sie haben gesagt, dass der FSV Mainz 05 in Ihren Gedanken eine Rolle spielt. Dann wäre sogar eine Wiedervereinigung von zwei Dritteln der "Bruchweg-Boys" möglich, Adam Szalai ist ja auch nach Mainz zurückgekehrt…

Holtby: Vielleicht bin ich hier zu ehrlich, aber es ist doch klar, dass ein Verein wie Mainz für mich immer interessant ist. Die Konstellation ist ja so, dass in Mainz das "Mainzer-Gen" wiedergefunden wurde. Wenn man sieht, was diese Mannschaft in der Rückrunde auf den Platz gebracht hat, dann muss man sagen: Respekt, Hut ab. Und das mit denselben Spielern, aber nun mit einer anderen Mentalität, mit Leuten, die den Verein brutal gut kennen, mit Christian Heidel, Martin Schmidt und Bo Svensson. Stefan Bell, Adam und zwei drei andere Spieler sind vorangegangen, haben das vorgelebt, was der neue Trainer wollte - und dann kann es "Klick" machen, und auf einmal läuft's. Es wäre schön, wieder Teil dieses Projekts zu sein. Wobei ich nicht auf Mainz beschränkt bin und es in der Bundesliga und auch der 2. Bundesliga einige Vereine und Projekte gibt, die mich reizen würden. Aber, um das auch zu sagen: Ich hätte natürlich auch nichts dagegen, wenn ich dann wieder mit Adam zusammenspielen würde

DFB.de: Dann müssten Sie nur noch André Schürrle von einem Comeback überzeugen, und die Fußballwelt wäre um eine sehr kitschige Geschichte reicher.

Holtby: Das wird nicht funktionieren. Schü hat einfach keine Lust mehr. Er ist froh, glücklich und zufrieden mit dem, was er hat. Und ich gönne ihm dieses Glück sehr. Sein Rücktritt hat mich auch nicht überrascht. Ich hatte das bei ihm im Gefühl. Seine Geschichte ist krass, es ist nicht einfach, wenn man die Vorlage zum WM-Titel gegeben hat, wenn man so früh so hoch oben ist, wenn man bei Chelsea und in Dortmund war, viele Titel gewonnen hat, und dann läuft es nicht mehr so, man muss Schlagzeilen lesen und viele unfaire Geschichten. Mir tat das sehr leid für André. Aber umso mehr freue ich mich, wie sehr er mit seinem Leben im Reinen zu sein scheint. Er muss niemandem etwas beweisen und ist nun als stolzer Familienpapa ein glücklicher Mensch.

DFB.de: Und Sie?  

Holtby: Bei mir ist es anders, weil ich mit dem Fußball noch nicht fertig bin. Ich bin auch ein stolzer Familienpapa und ein glücklicher Mensch. Der Fußball ist aber noch Teil meines Glückes. Ich bin noch nicht steinalt, ich bin fit, ich bin motiviert, meine Lust auf diesen Sport ist riesig. Ich kann noch ein paar Jahre auf hohem Niveau Fußball spielen. Und darauf freue ich mich sehr.

[sl]

Lewis Holtby hat drei Spiele für die deutsche Nationalmannschaft absolviert, war Kapitän der deutschen U 21 und hat beim 1. FSV Mainz 05 gemeinsam mit André Schürrle und Adam Szalai für Furore gesorgt. Mit DFB.de spricht der 30 Jahre alte einstige "Bruchweg-Boy" über die "Boyband" in der DFB-Auswahl und die Chancen bei der EURO.

DFB.de: Herr Holtby, diverse Nationalspieler sorgen derzeit abseits des Platzes für Aufmerksamkeit, indem sie sich als "Boyband" betätigen. Klingelt da was bei Ihnen?

Lewis Holtby: Ja, klar. Die "Bruchweg-Boys" - diese Geschichte wird immer zu mir gehören, ich werde immer mal wieder daran erinnert und darauf angesprochen. 

DFB.de: Gemeinsam mit André Schürrle und Adam Szalai haben Sie vor elf Jahren als "Bruchweg-Boy" die Stadien der Liga gerockt. Nach Toren haben Sie beim Jubel die Posen einer Musikband nachgeahmt.

Holtby: Genau.

DFB.de: Was haben Sie gedacht, als Sie nun gesehen haben, wie Joshua Kimmich, Kevin Volland, Serge Gnabry und Jonas Hofmann zum Gesang von Mats Hummels und Kevin Trapp Gitarre spielen?

Holtby: Das sind natürlich alles billige Kopien. Ich werde mal meine Anwälte darauf ansetzen, da sind bestimmt Gema-Gebühren für mich drin. (lacht) Im Ernst: Es ist doch klar, dass bei mir bei solchen Geschichten Erinnerungen wach werden. Mir zeigt es aber vor allem, dass die Jungs viel Spaß haben und die Stimmung in der Mannschaft gut ist. Und das sind keine schlechten Voraussetzungen für den weiteren Turnierverlauf.

DFB.de: Wie gefällt Ihnen die EM bisher?

Holtby: Ganz entscheidend ist für mich, dass wieder Zuschauer dabei sind. Es macht einfach Spaß, daran erinnert zu werden, wie Fußball sein sollte. Mit fröhlichen, friedlichen und feiernden Fans. Ich kann schlecht beurteilen, ob es in jedem Stadion und in jeder Stadt vernünftig ist, wieder Fans zuzulassen, vor allem in der Anzahl, teilweise sind die Stadien ja bis auf den letzten Platz besetzt. Aber ich finde, dass es München wirklich vorbildlich macht. Es sind "nur" rund 15.000 Fans im Stadion, das ist bestimmt vertretbar, und diese 15.000 verleihen dem Spiel einen großartigen Rahmen. Was das angeht, bin ich wirklich positiv überrascht.

DFB.de: Und sportlich: Was sagen Sie zu den Auftritten der deutschen Mannschaft?

Holtby: Das Spiel gegen Portugal kann ein Befreiungsschlag gewesen sein - und auch ein Signal in Richtung der anderen Mannschaften: Mit Deutschland ist wieder zu rechnen. Zumal unsere Mannschaft, wenn man 2018 mal ausklammert, immer eine Turniermannschaft gewesen ist. Schon im Spiel gegen Frankreich war zu sehen, dass wir mithalten können. Uns hat ein Tor gefehlt, aber - mit ein paar Abstrichen - viel schlechter als der Weltmeister waren wir nicht. Gegen Portugal war es dann ein richtiges Fußballfest. Die Mannschaft hat geliefert - und das unter maximalem Druck. Nach dem 0:1 musste man sich kurzzeitig ja große Sorgen machen. Es war dann beeindruckend, wie sich unser Team nicht hat verunsichern lassen und einfach weitergemacht hat. Bei der U 21-EM waren wir alle begeistert von der Hingabe, mit der die Jungs gespielt haben, die A-Mannschaft hat daran nun angeknüpft. Wenn die Spieler das beibehalten, hat die Mannschaft bei der EM noch einige Spiele vor sich.

DFB.de: Deutschland spielt nun gegen Ungarn, Kapitän dort ist Adam Szalai, einer der "Bruchweg-Boys", mit dem Sie bis heute befreundet sind. Was ist die erste Assoziation, die Sie mit ihm verbinden?

Holtby: Er ist ein Spaßmacher in der Kabine, jemand, der oft lächelt. Er ist ein Baum, ein Riesenkerl, ein ganz netter, intelligenter Typ. Wir hatten ein Topzeit in Mainz. Sportlich war es die unbeschwerteste Zeit meiner Karriere. Wir hatten auf dem Platz viel Spaß und genauso außerhalb des Platzes.

DFB.de: Das Trio Schürrle-Szalai-Holtby gab es nicht nur beim gemeinsamen Jubel, oder?

Holtby: Wir drei waren damals sehr eng, haben privat viel unternommen. Ich erinnere mich noch an viele Abende bei Adam zu Hause. Er hatte ein DJ-Pult bei sich im Wohnzimmer und hat leidenschaftlich Musik gemacht. Wir haben oft bei ihm aufgelegt, gechillt, die Zeit genossen. Wir waren damals oft zu Dritt, "Schü", Adam und ich. Häufig hatten wir in dieser Konstellation richtig gute Abende, manchmal waren auch noch andere Mitspieler dabei. Aber der Kern waren wir drei. Daraus ist diese "Bruchweg-Boys"-Geschichte entstanden. Vor dem ersten Spiel gegen Stuttgart haben wir gesagt, wenn einer von uns ein Tor macht, dann machen wir was an der Eckfahne und imitieren eine Band. Die Nummer wurde immer größer und war irgendwann Kult.

DFB.de: Wie haben Sie den Hype damals erlebt, waren Sie mit dem Interesse teilweise überfordert?

Holtby: Wenn man jung ist und die Karriere erst beginnt - und dann geht es auf einmal so steil nach oben, dann kann das auch schwierig sein. Ich war ein halbes Jahr zuvor im Rahmen meiner Leihe nach Bochum noch aus der Bundesliga abgestiegen. Und dann passiert auf einmal so viel und so rasant. Einfach war das nicht, ich hatte damals auch meine Tiefen. Nicht immer habe ich die Bodenhaftung behalten. Von zu Hause aus bin ich da eigentlich gut aufgestellt, aber es gibt Momente, da fliegst du einfach. Als junger Bursche, so viele Schulterklopfer, ZDF-Sportstudio, gefühlt ganz Deutschland, alle wollen was von dir. Ich halte es für menschlich, dass man da auch mal kurz davonschweben kann.

DFB.de: André Schürrle hat im vergangenen Jahr seine Karriere vergleichsweise früh beendet und im Rahmen seines Rücktritts davon gesprochen, dass er durch den Fußball phasenweise jemand war, der er gar nicht sein wollte. Dass er in der Kabine eine Rolle gespielt hat. Können Sie nachempfinden, was er damit meint?

Holtby: Ja, wobei ich nicht glaube, dass er speziell die Anfänge in Mainz gemeint hat. Ganz grundsätzlich gibt es einige Dinge, die man als Jungprofi erst mal verarbeiten muss. Bei mir war es so, dass ich aus einem ganz gewöhnlichen Umfeld stamme. Ich will mich bestimmt nicht beklagen, uns ging es nicht schlecht, aber wir hatten nie mehr als normal. Und auf einmal hat man viele Punkte in der Tabelle und noch mehr Geld auf dem Konto. Die Welt liegt einem zu Füßen. Man kann sich ein teures Auto leisten, Klamotten natürlich, es gibt einen Sog, von dem man mitgezogen wird. Es stimmt schon, man ist dann jemand, der man gar nicht sein will. Die Gefahr besteht auf jeden Fall. Bei Schü war dies vielleicht noch ein bisschen stärker ausgeprägt als bei mir. Wichtig ist dann, dass das Umfeld und die Liebsten schnell reagieren und gegensteuern. Das ist dann auch geschehen, bei André genauso wie bei mir. Wobei wir beide zum Glück Menschen sind, die sich selbst gut reflektieren können. Insofern, meine ich, gab es nie eine große Gefahr, dass dieser Zustand des "Jemand-anders-seins" langfristig anhält.

DFB.de: Wenn Sie heute zurückblicken auf die Zeit der "Bruchweg-Boys", auf den legendären Band-Auftritt im Sportstudio, würden Sie so etwas noch einmal machen?

Holtby: Auf jeden Fall. Wir waren jung, wir haben uns ausprobiert. Wenn man von einem 19-Jährigen verlangt, dass er einen Kopf haben muss wie ein 35-Jähriger, dann kann ich das nicht verstehen. Es liegt doch im Naturell des Menschen, Spaß haben zu wollen und auch seine Jugendlichkeit auszuleben. Wir haben damals nicht groß nachgedacht - und das war gut so. Ich kann daran nichts Falsches finden und stehe zu dem, was wir gemacht haben, wie wir gewesen sind und wie wir uns gegeben haben. Wenn ich heute ins Sportstudio gehen würde, würde ich anders auftreten, aber ich bin auch zwei, drei Tage älter.

DFB.de: Sie sind jetzt 30 Jahre alt. Hinter Ihnen liegen drei Länderspiele, aber keine große Karriere in der Nationalmannschaft. Wenn Sie die Spiele der EM 2020 verfolgen - schwingt da auch Wehmut mit? Und der Gedanke, wenn ein paar Dinge anders gelaufen wären, hätte ich jetzt auch dabei sein können...

Holtby: Ich bin im Reinen, positiv wie negativ. Ich bin dankbar für die Karriere, die ich bis hierhin hatte. Alles, was ich erleben durfte, betrachte ich als Privileg. In Trauer zurückblicken? Keineswegs! Ich durfte drei Spiele für Deutschland machen, darauf bin ich stolz. Natürlich hatte ich damals die Hoffnung, dass es mehr werden würden und dass die Karriere ausschließlich steil geht. Aber so ist es bei den Allerwenigsten, und das muss man dann auch akzeptieren können. Nicht alle Träume und Hoffnungen haben sich erfüllt, ja, aber sehr, sehr viele und viel mehr als bei den allermeisten Fußballern. Ich war Kapitän der U 21, ich habe für Deutschland gespielt, ich habe in der Bundesliga gespielt und durfte auch die Premier League kennenlernen. Diese vielen tollen und großen Erfahrungen werde ich immer wertschätzen.

DFB.de: In der vergangenen Saison waren Sie für die Blackburn Rover in der 2. Liga in England im Einsatz. Es zieht Sie aber zurück nach Deutschland. Sie haben gesagt, dass der FSV Mainz 05 in Ihren Gedanken eine Rolle spielt. Dann wäre sogar eine Wiedervereinigung von zwei Dritteln der "Bruchweg-Boys" möglich, Adam Szalai ist ja auch nach Mainz zurückgekehrt…

Holtby: Vielleicht bin ich hier zu ehrlich, aber es ist doch klar, dass ein Verein wie Mainz für mich immer interessant ist. Die Konstellation ist ja so, dass in Mainz das "Mainzer-Gen" wiedergefunden wurde. Wenn man sieht, was diese Mannschaft in der Rückrunde auf den Platz gebracht hat, dann muss man sagen: Respekt, Hut ab. Und das mit denselben Spielern, aber nun mit einer anderen Mentalität, mit Leuten, die den Verein brutal gut kennen, mit Christian Heidel, Martin Schmidt und Bo Svensson. Stefan Bell, Adam und zwei drei andere Spieler sind vorangegangen, haben das vorgelebt, was der neue Trainer wollte - und dann kann es "Klick" machen, und auf einmal läuft's. Es wäre schön, wieder Teil dieses Projekts zu sein. Wobei ich nicht auf Mainz beschränkt bin und es in der Bundesliga und auch der 2. Bundesliga einige Vereine und Projekte gibt, die mich reizen würden. Aber, um das auch zu sagen: Ich hätte natürlich auch nichts dagegen, wenn ich dann wieder mit Adam zusammenspielen würde

DFB.de: Dann müssten Sie nur noch André Schürrle von einem Comeback überzeugen, und die Fußballwelt wäre um eine sehr kitschige Geschichte reicher.

Holtby: Das wird nicht funktionieren. Schü hat einfach keine Lust mehr. Er ist froh, glücklich und zufrieden mit dem, was er hat. Und ich gönne ihm dieses Glück sehr. Sein Rücktritt hat mich auch nicht überrascht. Ich hatte das bei ihm im Gefühl. Seine Geschichte ist krass, es ist nicht einfach, wenn man die Vorlage zum WM-Titel gegeben hat, wenn man so früh so hoch oben ist, wenn man bei Chelsea und in Dortmund war, viele Titel gewonnen hat, und dann läuft es nicht mehr so, man muss Schlagzeilen lesen und viele unfaire Geschichten. Mir tat das sehr leid für André. Aber umso mehr freue ich mich, wie sehr er mit seinem Leben im Reinen zu sein scheint. Er muss niemandem etwas beweisen und ist nun als stolzer Familienpapa ein glücklicher Mensch.

DFB.de: Und Sie?  

Holtby: Bei mir ist es anders, weil ich mit dem Fußball noch nicht fertig bin. Ich bin auch ein stolzer Familienpapa und ein glücklicher Mensch. Der Fußball ist aber noch Teil meines Glückes. Ich bin noch nicht steinalt, ich bin fit, ich bin motiviert, meine Lust auf diesen Sport ist riesig. Ich kann noch ein paar Jahre auf hohem Niveau Fußball spielen. Und darauf freue ich mich sehr.

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