Lahm: "Das Kribbeln wird immer stärker"

Noch 100 Tage bis zur UEFA EURO 2024: Im DFB.de-Interview spricht Philipp Lahm, Weltmeister von 2014 und Turnierdirektor der Europameisterschaft, über seine Vorfreude auf die Heim-EM.

DFB.de: In 100 Tagen beginnt die EURO 2024 in Deutschland. Herr Lahm, wie groß ist Ihre Vorfreude?

Philipp Lahm: Riesengroß. Wenn man so lange daran arbeitet, dann wird es immer mehr. Jetzt sind es nur noch ein paar Monate, bis es endlich losgeht, das Kribbeln wird immer stärker, ich kann es kaum erwarten.

DFB.de: Auf was genau bezieht sich Ihre Vorfreude?

Lahm: Auf den Fußball, die Spiele, unsere Nationalmannschaft. Es ist aber viel mehr. Menschen aus ganz Europa kommen bei uns zusammen, um gemeinsam zu feiern: den Fußball, unsere freie Art zu leben, unsere Werte. Wir wollen die Menschen zusammenbringen - in den Stadien, den Fan-Zonen, in unserem Land. Die Menschen werden kommen und hier ein friedliches, fröhliches, buntes Fest mit uns feiern. Darauf freue ich mich. Dies bestmöglich zu organisieren, ist unser Ziel.

DFB.de: Wie ist der Stand der Vorbereitungen? Welche großen Steine gilt es noch aus dem Weg zu räumen?

Lahm: In 100 Tagen beginnt die EURO, da wäre es schlecht, wenn wir noch große Baustellen zu schließen hätten. Natürlich gibt es immer wieder Feinjustierungen, aber grundsätzlich steht alles, wir liegen im Plan. Für mich ist es schön zu sehen, wie die Räder ineinandergreifen, wie die UEFA EURO 2024 im ganzen Land und insbesondere in den Host Citys immer sichtbarer und spürbarer wird.

DFB.de: Sie wollen ein Fußballfest organisieren. Inwieweit gewinnt dieses Ziel angesichts der Krisen in der Welt und der Sehnsucht der Menschen nach unbeschwerten Fröhlich-Sein an Bedeutung? Sehen Sie dadurch eine höhere Verantwortung für die Macher der EURO?

Lahm: Wenn ich auf die vergangenen Wochen schaue, auf die Handball-EM, auf Karneval – dann zeigt mir das: Die Menschen wollen zusammenkommen, sie wollen gemeinsam etwas erleben, sie wollen ihre Freiheit genießen. Ich schließe sogar die vielen Demonstrationen für Demokratie ein, bei der sich Millionen Menschen beteiligten. Die Mitte unserer Gesellschaft hat gespürt, dass es an der Zeit ist, auf die Straße zu gehen. Mich motiviert, ein gutes Turnier zu organisieren, bei dem diese Botschaften im Zentrum stehen. Fußball ist da Mittel zum Zweck, die Art, wie wir in Europa miteinander leben, zu stärken. Wir können frei reisen, wir können unsere Meinung sagen, wir leben in Demokratien, etwas Besseres gibt es nicht. Generationen vor uns haben das erarbeitet, und wir müssen und wollen zeigen, wie wertvoll das ist. Diese Botschaft wollen wir in die Welt setzen.

DFB.de: Beim letzten Männer-Turnier in Deutschland herrschte vier Wochen lang schwarz-rot-goldener Jubel. Die WM 2006 hatte auch den Effekt, dass den Rechten die Symbole genommen wurden und Deutschland zu einem unverkrampften Umgang mit sich selbst gefunden hat. 18 Jahre später hat sich das Land verändert, mit der AfD sitzt eine Partei im Bundestag, die vom Verfassungsschutz zumindest in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Sehen Sie die Gefahr, dass 2024 aus zu viel schwarz-rot-gold braun wird?

Lahm: Nein. Grundsätzlich nicht und erst recht nicht angesichts der Entwicklungen der vergangenen Wochen. Die Mehrheit steht auf. Vielfalt wird von den meisten Menschen in Deutschland als etwas Positives gesehen. Und als Fußballer weiß man, dass es keiner Mannschaft etwas bringt, andere auszugrenzen. Die Botschaften des Fußballs sind stärker als der Hass. Und mit dem Turnier geben wir ihm eine riesige Bühne.

DFB.de: Sie sind Geschäftsführer der DFB EURO GmbH, der Turnierdirektor. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag in dieser Rolle aus, was liegt regelmäßig auf Ihrem Schreibtisch?

Lahm: Das Schöne ist: Einen Alltag gibt es nicht, es gibt keine Regelmäßigkeit, kein Tag gleicht dem anderen. Ich bin viel unterwegs, in Berlin, in Frankfurt, in den Host Citys. Ich repräsentiere die Euro auf vielen Veranstaltungen, ob das der Launch des EURO-Balles ist, Empfänge in den Spielorten, die Vorstellung des EURO Kulturprogramms, der Final Draw – um nur ein paar Anlässe zu nennen. Immer wieder habe ich Termine mit der Politik in Berlin, mit dem Kanzler habe ich mich getroffen, mit der Außenministerin, der Innenministerin.  

DFB.de: Wie sehr sind Sie auch auf Arbeitsebene eingebunden?

Lahm: Das gehört dazu. Bei den Tagungen der ´Tournament Steering Group´ mit dem UEFA-Präsidenten Aleksander Čeferin und dem DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf bin ich dabei, bei allen Abstimmungen über Sicherheit, Nachhaltigkeit, Volunteers, Mobilität bin ich eingebunden. Manchmal geschieht das vor Ort, manchmal per Videokonferenz. Ich möchte informiert sein, bin in alle relevanten Entscheidungen involviert. Besonders wichtig ist uns, dass sich alle mit dem Turnier identifizieren. Wir möchten möglichst alle Menschen und Vereine einbeziehen. Für uns gehört es zu den wichtigsten Anliegen, dass die EURO ein Turnier für das ganze Land wird, eine EURO für alle. Unser Anspruch ist, dass unsere Basis, die Amateurvereine, nach dem Turnier besser dastehen als vorher. Aus diesem Grund haben Celia (Sasic, die EM-Botschafterin; Anm. d. Red.) und ich den gesamtgesellschaftlichen Beteiligungsprozess #2024undDu! initiiert.

DFB.de: Sie sind zudem als Unternehmer tätig und investieren viel Zeit in Ihre Stiftung. Wie viel bleibt da noch von dem, was Sie nach Ihrem Karriereende mehr haben wollten: Freizeit, Zeit für die Familie?

Lahm: Es ist intensiv. Und natürlich wird es intensiver, je näher das Turnier rückt. Aber bitte nicht falsch verstehen – ich beklage mich nicht. Mir macht die Rolle großen Spaß. Ich habe gewusst, auf was ich mich einlasse, und ich bin sehr zufrieden damit, wie sich mein Leben nach meinem Karriereende entwickelt hat.

DFB.de: Opfer, die Sie gebracht haben, sehen Sie nicht?

Lahm: Welche Opfer sollte ich gebracht haben?

DFB.de: Als Sie 2017 Ihr letztes Spiel gespielt hatten, haben Sie beim Blick in die Zukunft ein paar Vorhaben genannt, die viel Freizeit zur Vorrausetzung haben.

Lahm: Und zwar?

DFB.de: Sie wollten beispielsweise mehr Zeit am Snooker-Tisch verbringen und einmal zur Snooker-WM nach Sheffield fahren. Auch Ihr Golf-Handicap wollten Sie verbessern. Was davon haben Sie eingelöst?

Lahm: Beim Golf hat es, glaube ich, funktioniert, wobei die Verbesserung eher marginal ist. Nach Sheffield habe ich es nicht geschafft, leider. Auch bin ich kein besserer Snooker-Spieler geworden. Die Wahrheit ist: Ich spiele so gut wie gar nicht mehr. Das hat mit der EURO allerdings nichts zu tun. Der Snooker-Tisch bei uns zu Hause ist meiner Tochter zum Opfer gefallen, das Snooker-Zimmer ist jetzt ihr Zimmer. (lacht) Was habe ich denn damals noch für Vorsätze genannt?

DFB.de: Mit den im Rahmen Ihrer Karriere eingetauschten Trikots haben Sie sich einen Sessel beziehen lassen – auf diesem Sessel wollten Sie mehr Zeit verbringen.

Lahm: Stimmt.

DFB.de: Ist das gelungen?

Lahm: Es sind sogar zwei Sessel, und ja, ich glaube schon. Wenn ich mit meinem Sohn Fußball schaue, sitzen wir regelmäßig in diesen Sesseln. Und wir schauen zusammen ziemlich viel Fußball. Ich bin mal gefragt worden, welches Trikot die Sitzfläche ziert. Damals habe ich es ehrlich nicht gewusst, neulich habe ich darauf geachtet: Es sind mehrere, ein Österreich-Trikot von David Alaba ist dabei. Aber bitte, bitte: nichts hineininterpretieren. (lacht)

DFB.de: Als Letztes auf der Liste: Sie wollten die nun freien Wochenenden genießen, vor allem das ausgiebige, gemütliche Frühstück mit der Familie.

Lahm: Das tue ich. Die Vormittage am Samstag und Sonntag sind uns sehr wichtig. Ich mag diese Stunden sehr. Überhaupt die Wochenenden, wenn mein Sohn ein Spiel hat und wir mit der ganzen Familie auf dem Sportplatz sind. Er spielt ja bei der FT Gern, wie ich früher. Für mich ist das mit vielen schönen Erinnerungen verbunden. Ich hatte eine großartige Kindheit, haben die Zeit in Gern extrem genossen. Dass mein Sohn es nun ähnlich erlebt, macht mich sehr glücklich.

DFB.de: Können Sie das Spiel in Ihrer Karriere benennen, auf das Sie sich am meisten gefreut haben?

Lahm: Auf das WM-Finale 2014. Es herrschte einerseits unglaublicher Druck und enorme Anspannung. Für mich noch einmal zusätzlich, weil ich wusste, dass dieses Spiel mein letztes für die Nationalmannschaft sein würde. Andererseits habe ich mich leicht gefühlt und eine große Lust empfunden, auf den Platz zu gehen. Vor den Spielen hat man oft ein Gespür, und als ich im Maracana im Kabinengang stand und es endlich rausging, habe ich gedacht: `Super, heute werden wir Weltmeister.´

DFB.de: Man hat so ein Gespür, sagen Sie, wie verlässlich ist dieses Gespür? Wie war es vor anderen großen Spielen?

Lahm: Es ist selten verlässlich, das konnte ich aber zum Glück ausblenden. (lacht) Vor dem Finale Dahoam in der Champions League 2012 war es ähnlich, da habe ich auch gedacht: `Heute scheiben wir Geschichte.´ Das haben wir ja leider auch. (lacht) 2013 war ich vor dem Wembley-Spiel gegen Dortmund eher skeptisch, insofern: Auf mein Gespür vor großen Spielen verlassen konnte ich mich grundsätzlich nicht, 2014 aber schon. Zum Glück.

DFB.de: Ihre Vorfreude auf die EURO ist riesig – wie sieht es aus in Ihrem Umfeld, freuen sich alle so wie Sie?

Lahm: Ich nehme wahr, dass die Vorfreude wächst, dass immer mehr Menschen die EURO als den Höhepunkt des Jahres sehen. Nicht nur meine Familie, Freunde und Bekannte. Was wir nicht beeinflussen können, ist, dass die Nationalmannschaft zuletzt keine guten Ergebnisse erzielt hat. Natürlich würden uns Siege und gute Auftritte des Teams helfen. Es ist doch klar, dass die Euphorie weniger geschürt wird, wenn die Mannschaft Spiele verliert. Ich habe aber deswegen keine schlaflosen Nächte.

DFB.de: Wirklich nicht? Wie wichtig ist eine erfolgreiche deutsche Nationalmannschaft für die EURO in Deutschland?

Lahm: Wenn die Heimatnation lange dabei ist, hat das Einfluss auf das Turnier. Es beeinflusst die Atmosphäre in der deutschen Bevölkerung. Wenn die Nationalmannschaft gut spielt, wenn sie begeistert und mitreißt, entsteht in Wechselwirkung mit den Fans eine ungeheure Energie. So war es in der Vergangenheit häufig, und wir alle hoffen, dass es auch diesmal so sein wird.

DFB.de: Die letzte Euro in Deutschland fand 1988 statt, Sie waren damals vier Jahre alt. Haben Sie Erinnerungen an diese EURO?

Lahm: Nein, das ist noch zu früh. Dafür habe ich noch prägende Erinnerungen an die WM 90. Ich habe viele Spiele mit meinem Opa geschaut. Ich weiß noch, wie sich das Turnier für mich angefühlt hat. Es gab in diesen Wochen nur noch die deutsche Mannschaft und die WM. Ich bin aufgestanden, mein erster Gedanke war: Heute spielt Deutschland. Für meine Freunde und mich gab es kein anderes Thema, wir haben nur noch über Lothar Matthäus und Pierre Littbarski gesprochen, über die Spieler und Spiele. Bei den K.o.-Spielen habe ich es immer kaum ausgehalten, das Kribbeln war unglaublich groß. Die WM in Italien hat mich sehr geprägt. Auf VHS-Kassette besaß ich einen Zusammenschnitt des Turniers und von allen deutschen Spielen. Immer und immer wieder habe ich mir ihn angeschaut, 100 Mal, ich konnte davon nicht genug bekommen.

DFB.de: Wie wichtig war es für Ihre Bindung an die Nationalmannschaft und für Ihre Liebe zum Fußball, dass Deutschland 1990 Weltmeister geworden ist?

Lahm: Fan war ich vorher schon, mit Begeisterung gespielt habe ich auch. Einfluss hatte der Erfolg dennoch. Mein Sohn ist jetzt elf Jahre alt. Er hat bewusst noch keine erfolgreiche deutsche Fußballnationalmannschaft gesehen. Und wenn man immer mitfiebert und dann zweimal in der Vorrunde der WM-ausscheidet, ist das natürlich nicht förderlich. Also, ja, der Titel hat eine Rolle gespielt. Ich glaube aber nicht, dass es entscheidend war. Entscheidend war, wie die Mannschaft aufgetreten ist. Dass sie als Einheit, mit Leidenschaft, Hingabe und Begeisterung gespielt hat. Wenn man als Kind, als Fan spürt, dass die Mannschaft zusammen agiert, dass sie für die Nation Fußball spielt, dass sie sich zerreißt und mit Herz spielt – dann ist der Titel nicht mehr alles.

DFB.de: Welche Rolle trauen Sie der Mannschaft von Julian Nagelsmann bei der EURO 2024 zu?

Lahm: Wichtig ist, dass sich ein Kern herausbildet und die Mannschaft ein Gesicht bekommt. Und dafür gibt es bis zum Turnier noch Möglichkeiten. Es lässt sich schlecht leugnen, dass die Ergebnisse und die Spiele zuletzt nicht positiv waren. Ich bin aber weit davon entfernt, meinen Optimismus zu verlieren. Für mich ist klar, dass die Mannschaft grundsätzlich über hohe Qualität verfügt. Es fehlen die Erfolgserlebnisse, aber das kann sich schnell wieder drehen. 2006 hatten wir vor der WM in Deutschland eine nicht gravierend andere Situation. Und als das Turnier dann losging, haben die Misserfolge zuvor schnell keine Rolle mehr gespielt.

DFB.de: Die WM 2006 haben Sie mit Ihrem 1:0 in Spiel eins gegen Costa Rica eröffnet. Wo rangiert dieser Treffer in der Liste Ihrer Karriere-Highlights?

Lahm: Ziemlich weit oben. Schon weil ich nicht so viele Tore geschossen habe und es noch dazu ein schönes, aber natürlich ein wichtiges war. Es war eine Initialzündung für das, was in den vier Wochen danach kommen sollte.

DFB.de: Können Sie die Energie, die bei einem Heimturnier im besten Fall zwischen Mannschaft und Fans entsteht, näher beschreiben? Wie groß kann der Einfluss auf die Leistung der Mannschaft sein?

Lahm: Es beflügelt. Die Menschen mit den Fahnen am Straßenrand, überall wird einem applaudiert. Ich kenne keinen Spieler, bei dem das nichts freisetzt. Es wird einem klar, worum es geht, für wen man das Ganze macht: sein Land und seine Mitmenschen. Natürlich ist man als Spieler aus sich selbst heraus motiviert, will für sich und die Mannschaft Erfolg. Und trotzdem löst es etwas aus, wenn man spürt und erlebt – jetzt geht es um etwas Größeres. Dieses Bewusstsein setzt etwas frei. Genauso wenn man spürt, dass die Menschen an einen glauben, dass die Unterstützung fast bedingungslos ist. Das gibt Kraft, man wächst. Und genau das gibt mir Zuversicht für diesen Sommer. Wenn die Mannschaft mit Hingabe spielt, dann wird dieser Effekt wieder einsetzen. 

DFB.de: 2006 hat Franz Beckenbauer in der Rolle als OK-Chef geglänzt. Hatten Sie die Chance, sich mit ihm zusammenzusetzen, hat er Ihnen Tipps aus seiner Erfahrung Tipps gegeben?

Lahm: Wir waren immer mal im Austausch und hatten auch vor, uns ausführlich zu besprechen. Seine Krankheit und dann sein Tod haben dies leider verhindert. Für mich wäre es sehr spannend gewesen, seine Meinung zu hören und von ihm Tipps zu bekommen.

DFB.de: In 100 Tagen beginnt die EURO. Haben Sie für sich schon einen Spielplan entworfen, bei welchen Spielen wird man Sie im Stadion sehen?

Lahm: Das muss ich noch machen. Den Franz kann ich schwer toppen, Hubschrauber sind nicht so meins. (lacht) Ich will in allen Host Citys mindestens ein Spiel sehen, ich will möglichst viele Nationen sehen und natürlich werde ich bei allen Spielen der deutschen Mannschaft im Stadion sein. Im besten Fall also bei sieben.

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Noch 100 Tage bis zur UEFA EURO 2024: Im DFB.de-Interview spricht Philipp Lahm, Weltmeister von 2014 und Turnierdirektor der Europameisterschaft, über seine Vorfreude auf die Heim-EM.

DFB.de: In 100 Tagen beginnt die EURO 2024 in Deutschland. Herr Lahm, wie groß ist Ihre Vorfreude?

Philipp Lahm: Riesengroß. Wenn man so lange daran arbeitet, dann wird es immer mehr. Jetzt sind es nur noch ein paar Monate, bis es endlich losgeht, das Kribbeln wird immer stärker, ich kann es kaum erwarten.

DFB.de: Auf was genau bezieht sich Ihre Vorfreude?

Lahm: Auf den Fußball, die Spiele, unsere Nationalmannschaft. Es ist aber viel mehr. Menschen aus ganz Europa kommen bei uns zusammen, um gemeinsam zu feiern: den Fußball, unsere freie Art zu leben, unsere Werte. Wir wollen die Menschen zusammenbringen - in den Stadien, den Fan-Zonen, in unserem Land. Die Menschen werden kommen und hier ein friedliches, fröhliches, buntes Fest mit uns feiern. Darauf freue ich mich. Dies bestmöglich zu organisieren, ist unser Ziel.

DFB.de: Wie ist der Stand der Vorbereitungen? Welche großen Steine gilt es noch aus dem Weg zu räumen?

Lahm: In 100 Tagen beginnt die EURO, da wäre es schlecht, wenn wir noch große Baustellen zu schließen hätten. Natürlich gibt es immer wieder Feinjustierungen, aber grundsätzlich steht alles, wir liegen im Plan. Für mich ist es schön zu sehen, wie die Räder ineinandergreifen, wie die UEFA EURO 2024 im ganzen Land und insbesondere in den Host Citys immer sichtbarer und spürbarer wird.

DFB.de: Sie wollen ein Fußballfest organisieren. Inwieweit gewinnt dieses Ziel angesichts der Krisen in der Welt und der Sehnsucht der Menschen nach unbeschwerten Fröhlich-Sein an Bedeutung? Sehen Sie dadurch eine höhere Verantwortung für die Macher der EURO?

Lahm: Wenn ich auf die vergangenen Wochen schaue, auf die Handball-EM, auf Karneval – dann zeigt mir das: Die Menschen wollen zusammenkommen, sie wollen gemeinsam etwas erleben, sie wollen ihre Freiheit genießen. Ich schließe sogar die vielen Demonstrationen für Demokratie ein, bei der sich Millionen Menschen beteiligten. Die Mitte unserer Gesellschaft hat gespürt, dass es an der Zeit ist, auf die Straße zu gehen. Mich motiviert, ein gutes Turnier zu organisieren, bei dem diese Botschaften im Zentrum stehen. Fußball ist da Mittel zum Zweck, die Art, wie wir in Europa miteinander leben, zu stärken. Wir können frei reisen, wir können unsere Meinung sagen, wir leben in Demokratien, etwas Besseres gibt es nicht. Generationen vor uns haben das erarbeitet, und wir müssen und wollen zeigen, wie wertvoll das ist. Diese Botschaft wollen wir in die Welt setzen.

DFB.de: Beim letzten Männer-Turnier in Deutschland herrschte vier Wochen lang schwarz-rot-goldener Jubel. Die WM 2006 hatte auch den Effekt, dass den Rechten die Symbole genommen wurden und Deutschland zu einem unverkrampften Umgang mit sich selbst gefunden hat. 18 Jahre später hat sich das Land verändert, mit der AfD sitzt eine Partei im Bundestag, die vom Verfassungsschutz zumindest in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Sehen Sie die Gefahr, dass 2024 aus zu viel schwarz-rot-gold braun wird?

Lahm: Nein. Grundsätzlich nicht und erst recht nicht angesichts der Entwicklungen der vergangenen Wochen. Die Mehrheit steht auf. Vielfalt wird von den meisten Menschen in Deutschland als etwas Positives gesehen. Und als Fußballer weiß man, dass es keiner Mannschaft etwas bringt, andere auszugrenzen. Die Botschaften des Fußballs sind stärker als der Hass. Und mit dem Turnier geben wir ihm eine riesige Bühne.

DFB.de: Sie sind Geschäftsführer der DFB EURO GmbH, der Turnierdirektor. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag in dieser Rolle aus, was liegt regelmäßig auf Ihrem Schreibtisch?

Lahm: Das Schöne ist: Einen Alltag gibt es nicht, es gibt keine Regelmäßigkeit, kein Tag gleicht dem anderen. Ich bin viel unterwegs, in Berlin, in Frankfurt, in den Host Citys. Ich repräsentiere die Euro auf vielen Veranstaltungen, ob das der Launch des EURO-Balles ist, Empfänge in den Spielorten, die Vorstellung des EURO Kulturprogramms, der Final Draw – um nur ein paar Anlässe zu nennen. Immer wieder habe ich Termine mit der Politik in Berlin, mit dem Kanzler habe ich mich getroffen, mit der Außenministerin, der Innenministerin.  

DFB.de: Wie sehr sind Sie auch auf Arbeitsebene eingebunden?

Lahm: Das gehört dazu. Bei den Tagungen der ´Tournament Steering Group´ mit dem UEFA-Präsidenten Aleksander Čeferin und dem DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf bin ich dabei, bei allen Abstimmungen über Sicherheit, Nachhaltigkeit, Volunteers, Mobilität bin ich eingebunden. Manchmal geschieht das vor Ort, manchmal per Videokonferenz. Ich möchte informiert sein, bin in alle relevanten Entscheidungen involviert. Besonders wichtig ist uns, dass sich alle mit dem Turnier identifizieren. Wir möchten möglichst alle Menschen und Vereine einbeziehen. Für uns gehört es zu den wichtigsten Anliegen, dass die EURO ein Turnier für das ganze Land wird, eine EURO für alle. Unser Anspruch ist, dass unsere Basis, die Amateurvereine, nach dem Turnier besser dastehen als vorher. Aus diesem Grund haben Celia (Sasic, die EM-Botschafterin; Anm. d. Red.) und ich den gesamtgesellschaftlichen Beteiligungsprozess #2024undDu! initiiert.

DFB.de: Sie sind zudem als Unternehmer tätig und investieren viel Zeit in Ihre Stiftung. Wie viel bleibt da noch von dem, was Sie nach Ihrem Karriereende mehr haben wollten: Freizeit, Zeit für die Familie?

Lahm: Es ist intensiv. Und natürlich wird es intensiver, je näher das Turnier rückt. Aber bitte nicht falsch verstehen – ich beklage mich nicht. Mir macht die Rolle großen Spaß. Ich habe gewusst, auf was ich mich einlasse, und ich bin sehr zufrieden damit, wie sich mein Leben nach meinem Karriereende entwickelt hat.

DFB.de: Opfer, die Sie gebracht haben, sehen Sie nicht?

Lahm: Welche Opfer sollte ich gebracht haben?

DFB.de: Als Sie 2017 Ihr letztes Spiel gespielt hatten, haben Sie beim Blick in die Zukunft ein paar Vorhaben genannt, die viel Freizeit zur Vorrausetzung haben.

Lahm: Und zwar?

DFB.de: Sie wollten beispielsweise mehr Zeit am Snooker-Tisch verbringen und einmal zur Snooker-WM nach Sheffield fahren. Auch Ihr Golf-Handicap wollten Sie verbessern. Was davon haben Sie eingelöst?

Lahm: Beim Golf hat es, glaube ich, funktioniert, wobei die Verbesserung eher marginal ist. Nach Sheffield habe ich es nicht geschafft, leider. Auch bin ich kein besserer Snooker-Spieler geworden. Die Wahrheit ist: Ich spiele so gut wie gar nicht mehr. Das hat mit der EURO allerdings nichts zu tun. Der Snooker-Tisch bei uns zu Hause ist meiner Tochter zum Opfer gefallen, das Snooker-Zimmer ist jetzt ihr Zimmer. (lacht) Was habe ich denn damals noch für Vorsätze genannt?

DFB.de: Mit den im Rahmen Ihrer Karriere eingetauschten Trikots haben Sie sich einen Sessel beziehen lassen – auf diesem Sessel wollten Sie mehr Zeit verbringen.

Lahm: Stimmt.

DFB.de: Ist das gelungen?

Lahm: Es sind sogar zwei Sessel, und ja, ich glaube schon. Wenn ich mit meinem Sohn Fußball schaue, sitzen wir regelmäßig in diesen Sesseln. Und wir schauen zusammen ziemlich viel Fußball. Ich bin mal gefragt worden, welches Trikot die Sitzfläche ziert. Damals habe ich es ehrlich nicht gewusst, neulich habe ich darauf geachtet: Es sind mehrere, ein Österreich-Trikot von David Alaba ist dabei. Aber bitte, bitte: nichts hineininterpretieren. (lacht)

DFB.de: Als Letztes auf der Liste: Sie wollten die nun freien Wochenenden genießen, vor allem das ausgiebige, gemütliche Frühstück mit der Familie.

Lahm: Das tue ich. Die Vormittage am Samstag und Sonntag sind uns sehr wichtig. Ich mag diese Stunden sehr. Überhaupt die Wochenenden, wenn mein Sohn ein Spiel hat und wir mit der ganzen Familie auf dem Sportplatz sind. Er spielt ja bei der FT Gern, wie ich früher. Für mich ist das mit vielen schönen Erinnerungen verbunden. Ich hatte eine großartige Kindheit, haben die Zeit in Gern extrem genossen. Dass mein Sohn es nun ähnlich erlebt, macht mich sehr glücklich.

DFB.de: Können Sie das Spiel in Ihrer Karriere benennen, auf das Sie sich am meisten gefreut haben?

Lahm: Auf das WM-Finale 2014. Es herrschte einerseits unglaublicher Druck und enorme Anspannung. Für mich noch einmal zusätzlich, weil ich wusste, dass dieses Spiel mein letztes für die Nationalmannschaft sein würde. Andererseits habe ich mich leicht gefühlt und eine große Lust empfunden, auf den Platz zu gehen. Vor den Spielen hat man oft ein Gespür, und als ich im Maracana im Kabinengang stand und es endlich rausging, habe ich gedacht: `Super, heute werden wir Weltmeister.´

DFB.de: Man hat so ein Gespür, sagen Sie, wie verlässlich ist dieses Gespür? Wie war es vor anderen großen Spielen?

Lahm: Es ist selten verlässlich, das konnte ich aber zum Glück ausblenden. (lacht) Vor dem Finale Dahoam in der Champions League 2012 war es ähnlich, da habe ich auch gedacht: `Heute scheiben wir Geschichte.´ Das haben wir ja leider auch. (lacht) 2013 war ich vor dem Wembley-Spiel gegen Dortmund eher skeptisch, insofern: Auf mein Gespür vor großen Spielen verlassen konnte ich mich grundsätzlich nicht, 2014 aber schon. Zum Glück.

DFB.de: Ihre Vorfreude auf die EURO ist riesig – wie sieht es aus in Ihrem Umfeld, freuen sich alle so wie Sie?

Lahm: Ich nehme wahr, dass die Vorfreude wächst, dass immer mehr Menschen die EURO als den Höhepunkt des Jahres sehen. Nicht nur meine Familie, Freunde und Bekannte. Was wir nicht beeinflussen können, ist, dass die Nationalmannschaft zuletzt keine guten Ergebnisse erzielt hat. Natürlich würden uns Siege und gute Auftritte des Teams helfen. Es ist doch klar, dass die Euphorie weniger geschürt wird, wenn die Mannschaft Spiele verliert. Ich habe aber deswegen keine schlaflosen Nächte.

DFB.de: Wirklich nicht? Wie wichtig ist eine erfolgreiche deutsche Nationalmannschaft für die EURO in Deutschland?

Lahm: Wenn die Heimatnation lange dabei ist, hat das Einfluss auf das Turnier. Es beeinflusst die Atmosphäre in der deutschen Bevölkerung. Wenn die Nationalmannschaft gut spielt, wenn sie begeistert und mitreißt, entsteht in Wechselwirkung mit den Fans eine ungeheure Energie. So war es in der Vergangenheit häufig, und wir alle hoffen, dass es auch diesmal so sein wird.

DFB.de: Die letzte Euro in Deutschland fand 1988 statt, Sie waren damals vier Jahre alt. Haben Sie Erinnerungen an diese EURO?

Lahm: Nein, das ist noch zu früh. Dafür habe ich noch prägende Erinnerungen an die WM 90. Ich habe viele Spiele mit meinem Opa geschaut. Ich weiß noch, wie sich das Turnier für mich angefühlt hat. Es gab in diesen Wochen nur noch die deutsche Mannschaft und die WM. Ich bin aufgestanden, mein erster Gedanke war: Heute spielt Deutschland. Für meine Freunde und mich gab es kein anderes Thema, wir haben nur noch über Lothar Matthäus und Pierre Littbarski gesprochen, über die Spieler und Spiele. Bei den K.o.-Spielen habe ich es immer kaum ausgehalten, das Kribbeln war unglaublich groß. Die WM in Italien hat mich sehr geprägt. Auf VHS-Kassette besaß ich einen Zusammenschnitt des Turniers und von allen deutschen Spielen. Immer und immer wieder habe ich mir ihn angeschaut, 100 Mal, ich konnte davon nicht genug bekommen.

DFB.de: Wie wichtig war es für Ihre Bindung an die Nationalmannschaft und für Ihre Liebe zum Fußball, dass Deutschland 1990 Weltmeister geworden ist?

Lahm: Fan war ich vorher schon, mit Begeisterung gespielt habe ich auch. Einfluss hatte der Erfolg dennoch. Mein Sohn ist jetzt elf Jahre alt. Er hat bewusst noch keine erfolgreiche deutsche Fußballnationalmannschaft gesehen. Und wenn man immer mitfiebert und dann zweimal in der Vorrunde der WM-ausscheidet, ist das natürlich nicht förderlich. Also, ja, der Titel hat eine Rolle gespielt. Ich glaube aber nicht, dass es entscheidend war. Entscheidend war, wie die Mannschaft aufgetreten ist. Dass sie als Einheit, mit Leidenschaft, Hingabe und Begeisterung gespielt hat. Wenn man als Kind, als Fan spürt, dass die Mannschaft zusammen agiert, dass sie für die Nation Fußball spielt, dass sie sich zerreißt und mit Herz spielt – dann ist der Titel nicht mehr alles.

DFB.de: Welche Rolle trauen Sie der Mannschaft von Julian Nagelsmann bei der EURO 2024 zu?

Lahm: Wichtig ist, dass sich ein Kern herausbildet und die Mannschaft ein Gesicht bekommt. Und dafür gibt es bis zum Turnier noch Möglichkeiten. Es lässt sich schlecht leugnen, dass die Ergebnisse und die Spiele zuletzt nicht positiv waren. Ich bin aber weit davon entfernt, meinen Optimismus zu verlieren. Für mich ist klar, dass die Mannschaft grundsätzlich über hohe Qualität verfügt. Es fehlen die Erfolgserlebnisse, aber das kann sich schnell wieder drehen. 2006 hatten wir vor der WM in Deutschland eine nicht gravierend andere Situation. Und als das Turnier dann losging, haben die Misserfolge zuvor schnell keine Rolle mehr gespielt.

DFB.de: Die WM 2006 haben Sie mit Ihrem 1:0 in Spiel eins gegen Costa Rica eröffnet. Wo rangiert dieser Treffer in der Liste Ihrer Karriere-Highlights?

Lahm: Ziemlich weit oben. Schon weil ich nicht so viele Tore geschossen habe und es noch dazu ein schönes, aber natürlich ein wichtiges war. Es war eine Initialzündung für das, was in den vier Wochen danach kommen sollte.

DFB.de: Können Sie die Energie, die bei einem Heimturnier im besten Fall zwischen Mannschaft und Fans entsteht, näher beschreiben? Wie groß kann der Einfluss auf die Leistung der Mannschaft sein?

Lahm: Es beflügelt. Die Menschen mit den Fahnen am Straßenrand, überall wird einem applaudiert. Ich kenne keinen Spieler, bei dem das nichts freisetzt. Es wird einem klar, worum es geht, für wen man das Ganze macht: sein Land und seine Mitmenschen. Natürlich ist man als Spieler aus sich selbst heraus motiviert, will für sich und die Mannschaft Erfolg. Und trotzdem löst es etwas aus, wenn man spürt und erlebt – jetzt geht es um etwas Größeres. Dieses Bewusstsein setzt etwas frei. Genauso wenn man spürt, dass die Menschen an einen glauben, dass die Unterstützung fast bedingungslos ist. Das gibt Kraft, man wächst. Und genau das gibt mir Zuversicht für diesen Sommer. Wenn die Mannschaft mit Hingabe spielt, dann wird dieser Effekt wieder einsetzen. 

DFB.de: 2006 hat Franz Beckenbauer in der Rolle als OK-Chef geglänzt. Hatten Sie die Chance, sich mit ihm zusammenzusetzen, hat er Ihnen Tipps aus seiner Erfahrung Tipps gegeben?

Lahm: Wir waren immer mal im Austausch und hatten auch vor, uns ausführlich zu besprechen. Seine Krankheit und dann sein Tod haben dies leider verhindert. Für mich wäre es sehr spannend gewesen, seine Meinung zu hören und von ihm Tipps zu bekommen.

DFB.de: In 100 Tagen beginnt die EURO. Haben Sie für sich schon einen Spielplan entworfen, bei welchen Spielen wird man Sie im Stadion sehen?

Lahm: Das muss ich noch machen. Den Franz kann ich schwer toppen, Hubschrauber sind nicht so meins. (lacht) Ich will in allen Host Citys mindestens ein Spiel sehen, ich will möglichst viele Nationen sehen und natürlich werde ich bei allen Spielen der deutschen Mannschaft im Stadion sein. Im besten Fall also bei sieben.

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