"King Otto": Das griechische Wunder kommt ins Kino

Am Rande der jüngsten Kuratoriumssitzung der DFB-Stiftung Sepp Herberger sprachen wir mit Otto Rehhagel über die bevorstehende Deutschland-Premiere des Dokumentarfilms "King Otto", in dem noch einmal die Geschichte der EURO 2004 erzählt wird.

Märchen müssen so beginnen.

Es war einmal ein Stadion, benannt nach dem Marathonläufer Spyridon Louis, gelegen in einem Vorort von Athen, wo sich vor vielen, vielen Jahren die deutsche Nationalmannschaft mühsam durch ein WM-Qualifikationsspiel wurschtelte. 4:2 hieß es am Ende für den hochfavorisierten Gast, doch die Griechen hatten lange mitzuhalten vermocht. Erst in der 82. Minute traf Miro Klose zur 3:2-Führung, mit dem Schlusspfiff machte Marco Bode den Sack zu. In Deutschland saß Otto Rehhagel vor dem Fernseher. Es war der 28. März 2001. "Ich dachte, da entwickelt sich etwas. Wer so ein bisschen nebenbei schaute, für den war das vielleicht gar nicht ersichtlich", erzählt er heute.

Die Griechen meldeten sich bei ihm. Beate sagte ja.

Am 9. August verschickte der griechische Fußballverband eine Pressemitteilung und gab bekannt, dass Otto Rehhagel ab sofort die Nationalmannschaft trainiere. Der Trainer feierte zuhause mit Freunden seinen 63. Geburtstag und die Partygäste meinten gutgelaunt, da sei ihm ja ein schönes Geschenk gemacht worden. "Ob das Geschenk so toll ist, wird sich noch herausstellen", antwortete er und grinste, so wie eben nur Otto Rehhagel grinsen kann. Wie einer, der mehr weiß. Zuversicht verbarg sich hinter ironisch gemimter Skepsis.

Märchen statt Tragödie

Es wurde dann natürlich, wie jeder halbwegs Fußballinteressierte weiß, ziemlich schnell und ziemlich über alle Maße toll. Am Ende hatte der größtmögliche Außenseiter den zweitwichtigsten Titel des Weltfußballs gewonnen. Nur zweimal überhaupt durfte "Hellas" zuvor an einem großen Turnier teilnehmen und war 1994 mit drei Niederlagen und 0:10 Toren von der WM abgereist. Nein, kein Märchen, eine griechische Tragödie.

Im Sommer 2004 aber, als alle nach Portugal gekommen waren - die etablierten Stars wie Zidane, Beckham oder Figo und genauso die talentierten Jungstars wie Rooney, Cristiano Ronaldo, Robben und Ibrahimovic – führte Rehhagel seine Griechen zum EM-Sieg.

Jetzt also kommt die Geschichte in die Kinos. Am kommenden Mittwoch hat "King Otto" Deutschland-Premiere, natürlich in seiner Heimatstadt Essen. Christopher André Marks, ein junger US-Regisseur griechischer Abstammung, erzählt uns die Geschichte – schnell, packend, oft mit Humor.

Für eine Tragödie braucht es den Charakterfehler des Helden. Hamlets Zögern, Ödipus‘ Stolz. Für ein Märchen braucht es die glückliche Fügung.

Griechisch? Fehlanzeige!

Otto Rehhagel sprach kein Wort Griechisch. Ein Bekannter habe ihm erzählt, er kenne diesen Griechen, der in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen sei und der etwa für den VfR Bürstadt in der Regionalliga gespielt habe. Deutsch – Check. Griechisch – Check. Ahnung vom Fußball – Check. "Wir haben uns dann in Berlin getroffen", erzählt Rehhagel zwei Jahrzehnte später. "Es ist ja immer so: In dem Moment muss eine gewisse Sympathie entstehen." Ioannis Topalidis kündigte seinen Job als Talentspäher bei Hertha BSC und wurde Rehhagels Assistenztrainer. Wichtiger noch: sein Übersetzer. "Der Ioannis redet wie ich, nur auf Griechisch", so bestätigten es Rehhagel die Spieler.

Die Sprachbarriere war nicht das einzige Problem. Die rivalisierenden Hauptstadtklubs Panathinaikos, AEK und Olympiakos Piräus übten vor jeder Kaderbekanntgabe Druck aus. Nur ein ausländischer Trainer, so hoffte man, könne den Knoten lösen. Rehhagel hieb ihn entzwei. "In dem Moment, als ich das Amt übernommen habe", berichtet er im Herbst 2021, inzwischen 83 Jahre alt, in der DFB-Lobby am Rande der Stiftungstagung, "habe ich alles genau nach meinen Vorstellungen umgesetzt."

Schon im Oktober 2001 ließ sich viel erkennen. "Der Beckham hat uns da in der letzten Minute einen oben in den Winkel gehauen", erinnert sich Rehhagel an ein WM-Qualifikationsspiel in Wembley, das aufgrund des Freistoßtreffers noch 2:2 endete. Womit England das Ticket für Südkorea und Japan löste, die Griechen waren draußen. In die EM-Qualifikation startete man mit Niederlagen gegen Spanien und die Ukraine. Ab dann gaben sie nichts mehr ab. "Nach unserem Sieg in Saragossa haben die Spieler daran geglaubt", sagt Rehhagel. Bis zur EM-Endrunde blieb seine Mannschaft 15 Spiele in Folge ungeschlagen. In der Qualifikationsgruppe 6 ließ man Spanien hinter sich.

Und beim Turnier in Portugal setzte man die Kirsche auf die Torte.

Heute engagiert er sich in der DFB-Stiftung Sepp Herberger, hat unzählige Male junge Strafgefangene im Gefängnis aufgesucht und ihnen Mut zugesprochen. Zuletzt coachte er die DFB All-Stars bei einem Benefizspiel für Flutopfer in Trier. Er habe Glück gehabt, sagt Rehhagel. "Ich hatte einfach sehr gute Spieler. Rudi Völler, Mario Basler, Karlheinz Riedle." Wenn er anfängt, über Rune Bratseth zu sprechen, muss man Zeit mitbringen. Im Sommer 2004 waren es dann Zagorakis, Karagounis, Charisteas. Wieder hatte er ein wenig Glück: "Viele meiner Spieler waren genau auf dem Zenit ihrer Karriere."

"Modern spielt, wer gewinnt"

Die sportliche Qualität der Spieler also ist unerlässlich. Genauso wie die kommunikative Fähigkeit des Trainers. "Die Gruppe ist entscheidend. Die Jungs sind doch im Saft ihres Lebens. Da wird auch mal etwas kritisiert. Als Trainer muss man sich auf vielen Ebenen auskennen." Zweikämpfe finden auch in der Kabine statt. Auf dem Platz ließ er mit Libero spielen und mit einer angeblich veralteten Dreierkette. Rehhagel ließ alle wissen: "Modern spielt, wer gewinnt."

Am 4. Juli 2001, auf den Tag genau 50 Jahre nach dem "Wunder von Bern", köpfte Angelos Charisteas in der 57. Minute des von Dr. Markus Merk geleiteten EM-Finales gegen Portugal den Ball ins Tor. Es war seine einzige Toraktion im ganzen Spiel. Die Portugiesen vergaben 20 Torchancen. Und Griechenland – Griechenland! – wurde Europameister.

"Mit meinen Jungs hat sich eine Freundschaft fürs Leben entwickelt", betont Rehhagel stolz und steht auf. Zuletzt erst hatte er sie fast alle wiedergesehen, bei der Filmpremiere in Athen. Nun startet "King Otto" in den deutschen Kinos. Und das Märchen beginnt nochmal von vorne.

[th]

Am Rande der jüngsten Kuratoriumssitzung der DFB-Stiftung Sepp Herberger sprachen wir mit Otto Rehhagel über die bevorstehende Deutschland-Premiere des Dokumentarfilms "King Otto", in dem noch einmal die Geschichte der EURO 2004 erzählt wird.

Märchen müssen so beginnen.

Es war einmal ein Stadion, benannt nach dem Marathonläufer Spyridon Louis, gelegen in einem Vorort von Athen, wo sich vor vielen, vielen Jahren die deutsche Nationalmannschaft mühsam durch ein WM-Qualifikationsspiel wurschtelte. 4:2 hieß es am Ende für den hochfavorisierten Gast, doch die Griechen hatten lange mitzuhalten vermocht. Erst in der 82. Minute traf Miro Klose zur 3:2-Führung, mit dem Schlusspfiff machte Marco Bode den Sack zu. In Deutschland saß Otto Rehhagel vor dem Fernseher. Es war der 28. März 2001. "Ich dachte, da entwickelt sich etwas. Wer so ein bisschen nebenbei schaute, für den war das vielleicht gar nicht ersichtlich", erzählt er heute.

Die Griechen meldeten sich bei ihm. Beate sagte ja.

Am 9. August verschickte der griechische Fußballverband eine Pressemitteilung und gab bekannt, dass Otto Rehhagel ab sofort die Nationalmannschaft trainiere. Der Trainer feierte zuhause mit Freunden seinen 63. Geburtstag und die Partygäste meinten gutgelaunt, da sei ihm ja ein schönes Geschenk gemacht worden. "Ob das Geschenk so toll ist, wird sich noch herausstellen", antwortete er und grinste, so wie eben nur Otto Rehhagel grinsen kann. Wie einer, der mehr weiß. Zuversicht verbarg sich hinter ironisch gemimter Skepsis.

Märchen statt Tragödie

Es wurde dann natürlich, wie jeder halbwegs Fußballinteressierte weiß, ziemlich schnell und ziemlich über alle Maße toll. Am Ende hatte der größtmögliche Außenseiter den zweitwichtigsten Titel des Weltfußballs gewonnen. Nur zweimal überhaupt durfte "Hellas" zuvor an einem großen Turnier teilnehmen und war 1994 mit drei Niederlagen und 0:10 Toren von der WM abgereist. Nein, kein Märchen, eine griechische Tragödie.

Im Sommer 2004 aber, als alle nach Portugal gekommen waren - die etablierten Stars wie Zidane, Beckham oder Figo und genauso die talentierten Jungstars wie Rooney, Cristiano Ronaldo, Robben und Ibrahimovic – führte Rehhagel seine Griechen zum EM-Sieg.

Jetzt also kommt die Geschichte in die Kinos. Am kommenden Mittwoch hat "King Otto" Deutschland-Premiere, natürlich in seiner Heimatstadt Essen. Christopher André Marks, ein junger US-Regisseur griechischer Abstammung, erzählt uns die Geschichte – schnell, packend, oft mit Humor.

Für eine Tragödie braucht es den Charakterfehler des Helden. Hamlets Zögern, Ödipus‘ Stolz. Für ein Märchen braucht es die glückliche Fügung.

Griechisch? Fehlanzeige!

Otto Rehhagel sprach kein Wort Griechisch. Ein Bekannter habe ihm erzählt, er kenne diesen Griechen, der in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen sei und der etwa für den VfR Bürstadt in der Regionalliga gespielt habe. Deutsch – Check. Griechisch – Check. Ahnung vom Fußball – Check. "Wir haben uns dann in Berlin getroffen", erzählt Rehhagel zwei Jahrzehnte später. "Es ist ja immer so: In dem Moment muss eine gewisse Sympathie entstehen." Ioannis Topalidis kündigte seinen Job als Talentspäher bei Hertha BSC und wurde Rehhagels Assistenztrainer. Wichtiger noch: sein Übersetzer. "Der Ioannis redet wie ich, nur auf Griechisch", so bestätigten es Rehhagel die Spieler.

Die Sprachbarriere war nicht das einzige Problem. Die rivalisierenden Hauptstadtklubs Panathinaikos, AEK und Olympiakos Piräus übten vor jeder Kaderbekanntgabe Druck aus. Nur ein ausländischer Trainer, so hoffte man, könne den Knoten lösen. Rehhagel hieb ihn entzwei. "In dem Moment, als ich das Amt übernommen habe", berichtet er im Herbst 2021, inzwischen 83 Jahre alt, in der DFB-Lobby am Rande der Stiftungstagung, "habe ich alles genau nach meinen Vorstellungen umgesetzt."

Schon im Oktober 2001 ließ sich viel erkennen. "Der Beckham hat uns da in der letzten Minute einen oben in den Winkel gehauen", erinnert sich Rehhagel an ein WM-Qualifikationsspiel in Wembley, das aufgrund des Freistoßtreffers noch 2:2 endete. Womit England das Ticket für Südkorea und Japan löste, die Griechen waren draußen. In die EM-Qualifikation startete man mit Niederlagen gegen Spanien und die Ukraine. Ab dann gaben sie nichts mehr ab. "Nach unserem Sieg in Saragossa haben die Spieler daran geglaubt", sagt Rehhagel. Bis zur EM-Endrunde blieb seine Mannschaft 15 Spiele in Folge ungeschlagen. In der Qualifikationsgruppe 6 ließ man Spanien hinter sich.

Und beim Turnier in Portugal setzte man die Kirsche auf die Torte.

Heute engagiert er sich in der DFB-Stiftung Sepp Herberger, hat unzählige Male junge Strafgefangene im Gefängnis aufgesucht und ihnen Mut zugesprochen. Zuletzt coachte er die DFB All-Stars bei einem Benefizspiel für Flutopfer in Trier. Er habe Glück gehabt, sagt Rehhagel. "Ich hatte einfach sehr gute Spieler. Rudi Völler, Mario Basler, Karlheinz Riedle." Wenn er anfängt, über Rune Bratseth zu sprechen, muss man Zeit mitbringen. Im Sommer 2004 waren es dann Zagorakis, Karagounis, Charisteas. Wieder hatte er ein wenig Glück: "Viele meiner Spieler waren genau auf dem Zenit ihrer Karriere."

"Modern spielt, wer gewinnt"

Die sportliche Qualität der Spieler also ist unerlässlich. Genauso wie die kommunikative Fähigkeit des Trainers. "Die Gruppe ist entscheidend. Die Jungs sind doch im Saft ihres Lebens. Da wird auch mal etwas kritisiert. Als Trainer muss man sich auf vielen Ebenen auskennen." Zweikämpfe finden auch in der Kabine statt. Auf dem Platz ließ er mit Libero spielen und mit einer angeblich veralteten Dreierkette. Rehhagel ließ alle wissen: "Modern spielt, wer gewinnt."

Am 4. Juli 2001, auf den Tag genau 50 Jahre nach dem "Wunder von Bern", köpfte Angelos Charisteas in der 57. Minute des von Dr. Markus Merk geleiteten EM-Finales gegen Portugal den Ball ins Tor. Es war seine einzige Toraktion im ganzen Spiel. Die Portugiesen vergaben 20 Torchancen. Und Griechenland – Griechenland! – wurde Europameister.

"Mit meinen Jungs hat sich eine Freundschaft fürs Leben entwickelt", betont Rehhagel stolz und steht auf. Zuletzt erst hatte er sie fast alle wiedergesehen, bei der Filmpremiere in Athen. Nun startet "King Otto" in den deutschen Kinos. Und das Märchen beginnt nochmal von vorne.

###more###