Jugoslawien-Spiel in Lens: Wenn Fußball zur Nebensache wird

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

21. Juni 1998 in Lens - zweites Gruppenspiel: Deutschland - Jugoslawien 2:2

Vor dem Spiel:

Wer den Rekordnationalspieler auf der Bank lässt, muss mit Fragen rechnen. Es verging zwischen den ersten beiden Spielen kein Tag ohne eine Frage nach Lothar Matthäus, der selbst seine Loyalität demonstrierte: "Ich würde gerne spielen, aber ich akzeptiere die Entscheidung des Bundestrainers. Berti Vogts hat mich ja auf eine solche Situation vorbereitet." Zwei Tage vor dem Spiel legen sich diverse Zeitungen fest - Matthäus spielt, weil Häßler ausfällt. Der Bundestrainer antwortete auf die M-Frage ausweichend: "Jeder Spieler muss damit rechnen, am Sonntag zu spielen. Zu ihnen gehört auch Lothar Matthäus." Vogts plagten andere Sorgen als die Besetzung des Liberopostens. Der so stark auftrumpfende Jens Jeremies verpasste wegen einer Außenbandzerrung eine Einheit, mit Thomas Häßler und Jörg Heinrich waren zwei weitere Mittelfeldspieler angeschlagen. Auch Manndecker Jürgen Kohler war fraglich und absolvierte nur Lauftraining.

Einsatzfähig waren letztlich alle außer Häßler und Steffen Freund. Dafür spielten nun Ziege und Hamann, trotz dessen Vertragspoker mit dem FC Sevilla, den Vogts rüffelte: "Hier gilt es sich ausschließlich auf eine WM zu konzentrieren." Doch gleich neun Spieler waren in Hamanns Lage und kannten ihren neuen Verein nicht. Jörg Heinrich rückte von der linken auf die rechte Seite.

Insgesamt war die Ausrichtung defensiver, schließlich waren auch die Jugoslawen siegreich gestartet (1:0 gegen den Iran) und größter Konkurrent um den Gruppensieg. Deren Superstar Predrag Mijatovic spielte bei Real Madrid und kannte keine Angst: "Uns bereitet das deutsche Team kein Kopfzerbrechen. Wir müssen nur viel, viel besser sein als gegen den Iran." Trainer Slobodan Santrac erwartete ein Spiel "wie ein enges Formel 1-Rennen mit gleichstarken Autos. Wer schneller im Kopf reagiert, der gewinnt".

Wenig im Kopf hatten jene Männer, deren Verhalten das Spiel und die ganze WM überschattete. In Lens kam es am Rande des Spiels zu den schlimmsten Ausschreitungen bei einer deutschen WM-Partie. Deutsche Hooligans, viele aus dem rechten Spektrum, die keine Karten mehr bekamen, lieferten sich in der Innenstadt regelrechte Straßenschlachten mit gegnerischen Fans und der Polizei. "Wer kein Deutscher war, bekam auf die Fresse", brüstete sich ein 17-Jähriger vor der Presse. Der Polizist Daniel Nivel wurde mit einer Eisenstange niedergeschlagen und lag blutüberströmt auf dem Gehsteig, ehe er mit dem Helikopter ins Krankenhaus kam. Er trug schwerste Verletzungen davon, sein Sprachzentrum ist gestört, seinem Beruf konnte er nie mehr nachgehen. Die Polizei nahm 96 Schläger fest, darunter den Haupttäter. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von "einer Schande für unser Land".



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

21. Juni 1998 in Lens - zweites Gruppenspiel: Deutschland - Jugoslawien 2:2

Vor dem Spiel:

Wer den Rekordnationalspieler auf der Bank lässt, muss mit Fragen rechnen. Es verging zwischen den ersten beiden Spielen kein Tag ohne eine Frage nach Lothar Matthäus, der selbst seine Loyalität demonstrierte: "Ich würde gerne spielen, aber ich akzeptiere die Entscheidung des Bundestrainers. Berti Vogts hat mich ja auf eine solche Situation vorbereitet." Zwei Tage vor dem Spiel legen sich diverse Zeitungen fest - Matthäus spielt, weil Häßler ausfällt. Der Bundestrainer antwortete auf die M-Frage ausweichend: "Jeder Spieler muss damit rechnen, am Sonntag zu spielen. Zu ihnen gehört auch Lothar Matthäus." Vogts plagten andere Sorgen als die Besetzung des Liberopostens. Der so stark auftrumpfende Jens Jeremies verpasste wegen einer Außenbandzerrung eine Einheit, mit Thomas Häßler und Jörg Heinrich waren zwei weitere Mittelfeldspieler angeschlagen. Auch Manndecker Jürgen Kohler war fraglich und absolvierte nur Lauftraining.

Einsatzfähig waren letztlich alle außer Häßler und Steffen Freund. Dafür spielten nun Ziege und Hamann, trotz dessen Vertragspoker mit dem FC Sevilla, den Vogts rüffelte: "Hier gilt es sich ausschließlich auf eine WM zu konzentrieren." Doch gleich neun Spieler waren in Hamanns Lage und kannten ihren neuen Verein nicht. Jörg Heinrich rückte von der linken auf die rechte Seite.

Insgesamt war die Ausrichtung defensiver, schließlich waren auch die Jugoslawen siegreich gestartet (1:0 gegen den Iran) und größter Konkurrent um den Gruppensieg. Deren Superstar Predrag Mijatovic spielte bei Real Madrid und kannte keine Angst: "Uns bereitet das deutsche Team kein Kopfzerbrechen. Wir müssen nur viel, viel besser sein als gegen den Iran." Trainer Slobodan Santrac erwartete ein Spiel "wie ein enges Formel 1-Rennen mit gleichstarken Autos. Wer schneller im Kopf reagiert, der gewinnt".

Wenig im Kopf hatten jene Männer, deren Verhalten das Spiel und die ganze WM überschattete. In Lens kam es am Rande des Spiels zu den schlimmsten Ausschreitungen bei einer deutschen WM-Partie. Deutsche Hooligans, viele aus dem rechten Spektrum, die keine Karten mehr bekamen, lieferten sich in der Innenstadt regelrechte Straßenschlachten mit gegnerischen Fans und der Polizei. "Wer kein Deutscher war, bekam auf die Fresse", brüstete sich ein 17-Jähriger vor der Presse. Der Polizist Daniel Nivel wurde mit einer Eisenstange niedergeschlagen und lag blutüberströmt auf dem Gehsteig, ehe er mit dem Helikopter ins Krankenhaus kam. Er trug schwerste Verletzungen davon, sein Sprachzentrum ist gestört, seinem Beruf konnte er nie mehr nachgehen. Die Polizei nahm 96 Schläger fest, darunter den Haupttäter. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von "einer Schande für unser Land".

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Bierhoff rettet Remis

Spielbericht:

Schon um 14.30 Uhr wird an diesem Sonntag angepfiffen. Das Stadion ist ausverkauft, es sind mehr Zuschauer da, als die Kleinstadt Lens Einwohner hat. Für das ZDF kommentiert Johannes B. Kerner das sechste WM-Duell mit den Jugoslawen. Die 17,16 Millionen Zuschauer sind mehrheitlich überrascht und die Experten blamiert, Matthäus spielt (zunächst) wieder nicht. Damit bleibt dem Rekordnationalspieler einiges erspart.

Genau 20 Jahre nach der Schmach von Cordoba, dem 2:3 gegen Österreich, droht das nächste Debakel. Jürgen Kohler in seiner Biographie: "Es lief von Anfang an schlecht. Spielerisch war das ein Offenbarungseid. Wir hatten überall riesige Probleme." Die Jugoslawen zeigen keinerlei Scheu, Dragan Stojkovic feuert einen ersten Warnschuss ab. "Nicht nur ihn darf man nicht so frei schießen lassen", bemerkt Kerner. Nach 13 Minuten muss er das 0:1 melden. Es ist ein kurioser Treffer, und wer ihn fängt, spricht gerne von einem "blöden Tor". Mijatovic schlägt den Ball von halblinks in den Strafraum, als Flanke auf Dejan Stankovic gedacht. Torwart Andreas Köpke erwartet, dass der Stürmer noch an den Ball kommt und baut sich vor ihm auf. Letztlich kommt keiner dran, und der Ball klatscht gegen den Pfosten. Nur Jens Jeremies hat das gerochen, besser wäre er jedoch weggeblieben. So drückt er den Abpraller unglücklich über die Linie - das erste deutsche Gegentor in Frankreich ist eigentlich ein Eigentor, wird aber dem Real-Star gutgeschrieben.

Nach 21 Minuten der erste deutsche Torschuss, Andreas Möllers Freistoß zischt knapp über die Latte und Kerner fordert: "Mehr davon, bitte!" Ein frommer Wunsch. Die nächsten fünf Chancen bis zum Pausenpfiff haben die Jugoslawen, die größte bietet sich Darko Kovacevic, dem frei vor Köpke die Füße nicht mehr gehorchen. Schon nach 35 Minuten singen die Fans "Wir wollen euch kämpfen sehen." Vogts lässt Matthäus zu diesem Zeitpunkt wissen, dass er nach der Pause reinkomme - als Mittelfeldspieler. Für die Auswechslung drängen sich viele auf. Allen voran Christian Ziege, dessen Flanken serienmäßig hinter dem Tor landen und den Unmut der Fans provozieren. Aber Ziege ist einer der wenigen "Linken", Matthäus' starker Fuß ist der rechte. So ersetzt er Dietmar Hamann, der die rechte Seite beackert und auch einen schwachen Tag erwischt. Matthäus klatscht die Mitspieler ab: "Ich habe allen gesagt: Ich will euch helfen, dafür müsst ihr mir auch helfen." 

Mit Wiederanpfiff wird der 37 Jahre alte WM-Rekordspieler, es ist sein 22. Einsatz bei einer Endrunde. In diesem Moment ist das nebensächlich, da zählt nur der kritische Spielstand. Und der wird noch kritischer. Köpke, der beim 0:1 unglücklich ausgesehen hat, ohne schuldig zu sein, patzt nun bei einer flachen Rechtsflanke von Kovacevic. Er lässt den Ball unter dem Bauch durchrutschen, Stojkovic kann mühelos abstauben. "Ein katastrophaler Fehler von Andreas Köpke", sagt Kerner. "Man mag das gar nicht so deutlich benennen, weil er sonst so zuverlässig ist."

Vogts bringt mit Ulf Kirsten, 1994 noch WM-Tourist, einen dritten Stürmer, für Möller. Matthäus, im Mittelfeld unauffällig und schon verwarnt, tauscht mit Thon die Position und gibt nun doch den Libero. Die Jugoslawen haben nun Räume, Christian Wörns verhindert in letzter Sekunde ein Kontertor durch Perica Ognjenovic. Auf der Gegenseite endlich Chancen für die Stürmer, aber weder Bierhoff noch Kirsten haben Glück. Vogts spielt seinen letzten Trumpf, verhilft auch dem schussgewaltigen Münchner Michael Tarnat zu seinem WM-Debüt. Sechs Minuten ist der auf dem Platz, da darf er aus halblinker Position und 23 Metern Entfernung einen Freistoß ausführen. Kerner macht der Heimat Hoffnung: "Sie erinnern sich an die Geschichte mit den fünf Freistoßtoren für Bayern..." Tarnat schießt, trifft Sinisa Mihajlovic, der den Ball ins eigene Tor lenkt, und Kerner vollendet eine Sekunde später seinen Satz: "... und jetzt für Deutschland!" Der Freistoßhammer wird offiziell als Eigentor geführt, weil Mihajlovic die Richtung des Schusses stark verändert hat.

"Da geht noch was", frohlockt Kerner, und in der Bild liest man am nächsten Tag: "Unser gefürchteter Kampfgeist erwacht - die Jugos erstarren ängstlich." Die Ecken sorgen einmal mehr für Gefahr. Thon tritt sie von beiden Seiten. Die von links köpft Bierhoff fast ins Tor, aber Ivica Kralj im Kasten der Jugoslawen lenkt den Ball an die Latte. Die von rechts erwischt Bierhoff mit voller Wucht, und diesmal ist der Ball drin, auch weil Kohler seinen Gegenspieler blockt. Kohler: "Das war zwischen uns so abgesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm seinen Gegenspieler ein bisschen von der Pelle halte, und das hat auf Anhieb funktioniert."

Der Ausgleich fällt durch den Mann, der Deutschland 1996 schon zum Europameister geschossen hat. "Oliver Bierhoff - dieser Mann ist einfach Gold wert", feiert ihn die Bild. Sein Tor widmet er einem zwölfjährigen Jungen aus Aachen, der Krebs hat. Sturmkollege Jürgen Klinsmann hat einen unglücklicheren Tag, nach 87 Minuten ist sein Einsatz vorzeitig beendet. Nach einem Mijatovic-Freistoß in die Lebergegend bleibt dem Kapitän die Luft weg, er wird vom Feld getragen. In Unterzahl beendet Deutschland das Spiel. Es hätte noch einer dazu kommen können, dank "Polizist" Vogts aber bleibt Jeremies auf dem Feld. Der Münchner will Mihajlovic, der ihn angespuckt hat, an den Kragen. Jeremies: "Da bin ich ausgerastet. Ein Glück, dass mich der Trainer zurückgehalten hat." 

Als Tabellenführer geht Deutschland ins letzte Gruppenspiel, aber auch mit einem Sack voller Sorgen. Das Fazit von Johannes B. Kerner trifft die Stimmung im Lande: "Dieses Spiel hat Spuren hinterlassen. Dieses Spiel gibt Anlass zum Nachdenken." Und dieses Spiel bringt Lothar Matthäus zurück ins Team. Aber davon spricht hinterher kaum jemand, zu viel ist auf und neben dem Platz passiert.

Aufstellung: Köpke – Wörns, Thon, Kohler – Heinrich, Hamann (46. Matthäus), Jeremies, Ziege (67. Tarnat) – Möller (58. Kirsten) – Klinsmann, Bierhoff.

Tore: 0:1 Mijatovic (13.), 0:2 Stojkovic (54.), 1:2 Mihajlovic (74., Eigentor), 2:2 Bierhoff (80.).

Zuschauer: 41.275 in Lens.

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Vogts: "65 Minuten war ich sehr böse"

Stimmen zum Spiel:

Berti Vogts: "65 Minuten war ich sehr böse. Einige haben wohl nicht kapiert, dass hier WM ist. Andy Köpke hat so viele Spiele für uns gewonnen, dass ich bei seinem Fehler einfach weggeschaut habe. Durch Lothar kam Ordnung in unser Mittelfeld. Ein großes Kompliment den Jugoslawen, sie haben Fußball zelebriert. Aber als sie uns vorführen wollten statt das dritte Tor zu erzielen, wurden sie bestraft."

Andreas Köpke: "Ich kann mich nicht erinnern, dass mir in der Nationalmannschaft jemals ein solcher Fehler unterlaufen ist wie beim 0:2. Das Tor geht klar auf meine Kappe."

Lothar Matthäus: "Ich war nach dem Spiel in der Kabine der Jugoslawen und habe gesehen, wie zerknirscht sie in der Ecke saßen. Da wurde mir bewusst: Wir sind der moralische Sieger."

Oliver Bierhoff: "Anstatt Andy Möller hätte Berti Vogts auch mich auswechseln können. Er hat es nicht getan, sondern 90 Minuten mit mir Geduld gehabt. Zum Glück habe ich ihm sein Vertrauen mit meinem Tor danken können."

Slobodan Santrac (Trainer Jugoslawiens): "Ich bin gleichzeitig traurig und glücklich. Erst das Eigentor hat unser Spiel auf den Kopf gestellt."

Predrag Mijatovic (Jugoslawien): "Vor dem Spiel hätten wir das Unentschieden angenommen. Jetzt sind wir enttäuscht. Unglaublich, dass wir nicht gewonnen haben. Die Deutschen konnten uns nur wie bei dem ersten Tor nach Standardsituationen treffen."

"Selten hat man eine deutsche Mannschaft über einen solch langen Zeitraum so desolat erlebt, selten - exakt 73 Minuten lang - sich so lethargisch, so langsam, so ineffizient bewegen sehen. Doch der bekannte deutsche Kampfgeist und alle sonstigen Tugenden, die uns nachgesagt werden, entfalteten sich mit dem Glücksschuß des kurz zuvor eingewechselten Tarnat." (kicker)

"Noch nie wurden wir so vorgeführt! Wie gut, dass wir Bierhoff haben (...) Unser Mittelfeld - das große Problem von Berti Vogts. Die einzig logische Konsequenz: Schon Donnerstag gegen den Iran muss eine andere Elf auflaufen." (Bild)

"Deutsche sind Deutsche und geben niemals auf." (Danas/Jugoslawien)

"Jetzt weiß die Welt wenigstens, was die Deutschen machen, wenn sie am Boden liegen." (The Independent/England)

"Matthäus kommt rein, Deutschland atmet durch." (Le Parisien/Frankreich)

"Es wir schwer, diese Deutschen zu eliminieren." (Ouest France/Frankreich)

"Das erste große Spiel dieser WM." (El Mundo/Spanien)

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