Jessicas langer Weg zum Ich

Irgendwann durfte sie nicht mehr Floorball spielen. "Warum eigentlich nicht?", fragt sie sich bis heute. Heute feiert die weltweite Bewegung der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen (LSBTI+) den Global Pride Day. Michaela Jessica Tschitschke wird mitfeiern. Auch weil das Präsidium des Berliner Fußball-Verbands die 43 Jahre alte Vermessungstechnikerin gerade als Beraterin für Sexuelle Vielfalt verpflichtet hat. Für sie markiert die Berufung eine erfüllende Station auf ihrem langen Weg zum Ich.

1977 hatte Tschitschke als Michael das Licht der Welt erblickt und als sie 28 wurde, begann sie mit der Hormonbehandlung. Fünf Jahre später war Jessica Tschitschke eine Frau, medizinisch und auch juristisch. Der Schlusspunkt unter diesem durch das 1981 in Kraft getretene Transsexuellengesetz geregelten Verfahren ist die Personenstandsänderung. Aus Michael war Michaela geworden, aus einem unglücklichen und rastlosen Mann eine zufriedene Frau. Vieles hatte sich verändert, doch dem Floorball, einer Indoor-Variante des Hockey, wollte sie nun doch treu bleiben. Nur der Floorball-Verband wollte nicht mehr.

"Die haben mir einen körperlichen Vorteil unterstellt, dabei attestierten meine Ärzte, dass schon nach zwei Jahren Hormonbehandlung keinerlei physische Bevorteilung mehr vorgelegen habe. Der Personenstand interessierte den Floorball-Verband Deutschland damals gar nicht. Die beriefen sich auf irgendwelche medizinischen Gutachten", berichtet sie. "Das war schon bitter, denn Floorball war doch mein Sport“, sagte sie und bis heute betont sie dabei das  "mein“. Damals, im Jahr 2012, ließ sie es erstmal sein. Sie war erstmal genug gerannt und hatte genug gekämpft. Die Ausgrenzungserfahrung im Floorball aber sollte nicht ihr letztes Negativerlebnis im Sport bleiben. Als sie wieder anfangen wollte, machte es ihr auch der Fußball nicht leicht.

Appell: "Tut Euer Bestes"

Der Arzt Dr. Christian Hamburger, der in den 50er-Jahren die US-Amerikanerin Christine Jorgensen behandelt hatte – der erste Fall einer hormonellen und operativen Geschlechtsanpassung – berichtete später von hunderten Briefen, die ihm Transsexuelle geschickt hatten: "Diese persönlichen Briefe von fast 500 zutiefst unglücklichen Menschen hinterlassen einen überwältigenden Eindruck. Eine tragische Existenz reiht sich an die andere; sie schreien nach Hilfe und Verständnis. Es ist niederschmetternd zu realisieren, wie wenig zu ihrer Hilfe getan werden kann. Man empfindet es als Pflicht, an die medizinische Profession und an die verantwortliche Legislative zu appellieren: Tut Euer Bestes.“

Auch wenn der Tonfall heute etwas mitleidig und weinerlich wirkt, vermittelt Hamburgers Zitat die repressive Stimmung der 50er-Jahre. Jorgensen war nicht der*die erste. Zu Beginn der 30er Jahre hatte sich die dänische Künstlerin Lili Elbe in Berlin und Dresden mehreren Operationen unterzogen. Erstmals wurde an ihr die Transplantation von Eierstöcken versucht. Elbe verstarb an den OP-Folgen. Für ihre Darstellung von Elbes Frau in "The Danish Girl" (2002) wurde Alicia Vikander mit dem Oscar ausgezeichnet. Michael Redmayne, der die Rolle der Lili spielte, war für den Oscar als Hauptdarsteller nominiert.

Definitionsfrage

Um was es geht, wird oft beschrieben als ein "im falschen Körper geboren" sein. Die Zahlen der vorliegenden Studien variieren stark, von 0,015 Prozent bis 0,61 Prozent, die in Deutschland Transsexuelle seien. In der NDR-Dokumentation "Testosterongesteuert“ berichtet eine Transfrau von "50 Fällen in Hamburg", während Jessica Tschitschke diese Zahl für Berlin zumindest im Fußball als deutlich zu hoch einschätzt. Wichtig für das Verständnis: Transsexualität beschreibt nicht eine sexuelle Orientierung, sondern die geschlechtliche Identität eines Menschen. "Als es soweit war, fühlte es sich an wie eine Befreiung", sagt Jessica Tschitschke.

Während der Geschlechtsangleichung müssen Betroffene einen "Transidenten Lebenslauf" verfassen. "Als ich damals mein Leben aufschrieb und mit meiner Psychologin aufarbeitete, verstand ich besser, dass ich mich schon mit sieben, acht Jahren als Mädchen gefühlt hatte. Man weiß in dem Alter natürlich gar nicht, was da nicht stimmt.“ Im Teenageralter wurde es dann zu einer Gewissheit. Doch bis Jessica Tschitschke in die Hormonbehandlung einstieg, vergingen nochmal mehr als zehn Jahre. Sie war damals 28. Heute sagt sie: "Ich habe mich lange Jahre in eine Rolle pressen lassen.“ Das Durchschnittsalter für Geschlechtsanpassungen in Deutschland liegt bei 38 Jahren, sinkt aber seit geraumer Zeit.

Ablehnung zunächst auch im Fußball

Sie begann so rund 2012 in einem Frauenteam in Brandenburg Fußball zu spielen. Das lief mehr schlecht als recht. Einige Mitspielerinnen feindeten sie unverhohlen an. Nach einem halben Jahr wurde ihr gesagt, sie müsse jetzt nicht mehr zum Training kommen. Ohne eine Begründung, keine Mitspielerin stand ihr zur Seite. Wieder mal aussortiert. Alle schauten auf die Schuhspitzen und schwiegen. "Heute weiß ich, ich war nie richtig angekommen in diesem Team. Als Transfrau muss man sich das auch ein Stückchen erarbeiten."

Jessica Tschitschke wechselte fußballerisch ins nahegelegene Berlin, wurde 2014 Spielerin beim Frauenklub DFC Berlin in Kreuzberg. Sie betrachten sich als erster komplett von Frauen organisierter Fußballklub in Berlin. Seit ein paar Jahren trainiert sie dort die offene Trainingsgruppe, zwischen 20 und 25 Frauen treffen sich einmal pro Woche auf dem Platz an der Lobeckstraße. "Wir sind eine bunte Truppe", sagt sie. Der Verein ist ihre sportliche Heimat geworden. Aber auch hier musste sie Anfeindungen entgegentreten. "In einem Spiel fielen die ganze Zeit blöde Sprüche. Und nach Abpfiff kam der Schiedsrichter und wollte bei mir noch einmal den Spielerpass und meinen Personalausweis kontrollieren. Dabei hatten wir verloren. Das war aus meiner Sicht reine Schikane." Für das Rückspiel schickte der BFV einen Beobachter.

Geschlecht nicht das einzige Identitätsmerkmal

Jessica Tschitschke hat sich nur hormonell, nicht operativ behandeln lassen. Sie fürchtet Entzündungen, betrachtet die nötigen operativen Eingriffe bis heute als "nicht ausgereift". Überwiegend fühlt sie sich angekommen, im Fußball und auch sonst im Leben. "Im Beruf habe ich keine Probleme. Einige wenige Freunde von früher sind weggegangen, aber die meisten eben nicht. Mein Vater ist schon verstorben, meine Mutter steht voll hinter mir." Dass Menschen ihr manchmal mit Unsicherheit begegnen, versteht sie, sagt aber auch: "Geschlecht ist ein wichtiges Identitätsmerkmal, aber doch nicht das einzige. Am eigentlichen Menschen ändert sich doch nichts."

Und sie ist überzeugt: "Es würde viel mehr Transgender-Menschen geben, die Sport treiben und in einen Verein gehen. Doch das verlangt immer noch eine enorme Überwindung." Daran will Michaela Jessica Tschitschke jetzt etwas ändern.

[th]

Irgendwann durfte sie nicht mehr Floorball spielen. "Warum eigentlich nicht?", fragt sie sich bis heute. Heute feiert die weltweite Bewegung der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen (LSBTI+) den Global Pride Day. Michaela Jessica Tschitschke wird mitfeiern. Auch weil das Präsidium des Berliner Fußball-Verbands die 43 Jahre alte Vermessungstechnikerin gerade als Beraterin für Sexuelle Vielfalt verpflichtet hat. Für sie markiert die Berufung eine erfüllende Station auf ihrem langen Weg zum Ich.

1977 hatte Tschitschke als Michael das Licht der Welt erblickt und als sie 28 wurde, begann sie mit der Hormonbehandlung. Fünf Jahre später war Jessica Tschitschke eine Frau, medizinisch und auch juristisch. Der Schlusspunkt unter diesem durch das 1981 in Kraft getretene Transsexuellengesetz geregelten Verfahren ist die Personenstandsänderung. Aus Michael war Michaela geworden, aus einem unglücklichen und rastlosen Mann eine zufriedene Frau. Vieles hatte sich verändert, doch dem Floorball, einer Indoor-Variante des Hockey, wollte sie nun doch treu bleiben. Nur der Floorball-Verband wollte nicht mehr.

"Die haben mir einen körperlichen Vorteil unterstellt, dabei attestierten meine Ärzte, dass schon nach zwei Jahren Hormonbehandlung keinerlei physische Bevorteilung mehr vorgelegen habe. Der Personenstand interessierte den Floorball-Verband Deutschland damals gar nicht. Die beriefen sich auf irgendwelche medizinischen Gutachten", berichtet sie. "Das war schon bitter, denn Floorball war doch mein Sport“, sagte sie und bis heute betont sie dabei das  "mein“. Damals, im Jahr 2012, ließ sie es erstmal sein. Sie war erstmal genug gerannt und hatte genug gekämpft. Die Ausgrenzungserfahrung im Floorball aber sollte nicht ihr letztes Negativerlebnis im Sport bleiben. Als sie wieder anfangen wollte, machte es ihr auch der Fußball nicht leicht.

Appell: "Tut Euer Bestes"

Der Arzt Dr. Christian Hamburger, der in den 50er-Jahren die US-Amerikanerin Christine Jorgensen behandelt hatte – der erste Fall einer hormonellen und operativen Geschlechtsanpassung – berichtete später von hunderten Briefen, die ihm Transsexuelle geschickt hatten: "Diese persönlichen Briefe von fast 500 zutiefst unglücklichen Menschen hinterlassen einen überwältigenden Eindruck. Eine tragische Existenz reiht sich an die andere; sie schreien nach Hilfe und Verständnis. Es ist niederschmetternd zu realisieren, wie wenig zu ihrer Hilfe getan werden kann. Man empfindet es als Pflicht, an die medizinische Profession und an die verantwortliche Legislative zu appellieren: Tut Euer Bestes.“

Auch wenn der Tonfall heute etwas mitleidig und weinerlich wirkt, vermittelt Hamburgers Zitat die repressive Stimmung der 50er-Jahre. Jorgensen war nicht der*die erste. Zu Beginn der 30er Jahre hatte sich die dänische Künstlerin Lili Elbe in Berlin und Dresden mehreren Operationen unterzogen. Erstmals wurde an ihr die Transplantation von Eierstöcken versucht. Elbe verstarb an den OP-Folgen. Für ihre Darstellung von Elbes Frau in "The Danish Girl" (2002) wurde Alicia Vikander mit dem Oscar ausgezeichnet. Michael Redmayne, der die Rolle der Lili spielte, war für den Oscar als Hauptdarsteller nominiert.

Definitionsfrage

Um was es geht, wird oft beschrieben als ein "im falschen Körper geboren" sein. Die Zahlen der vorliegenden Studien variieren stark, von 0,015 Prozent bis 0,61 Prozent, die in Deutschland Transsexuelle seien. In der NDR-Dokumentation "Testosterongesteuert“ berichtet eine Transfrau von "50 Fällen in Hamburg", während Jessica Tschitschke diese Zahl für Berlin zumindest im Fußball als deutlich zu hoch einschätzt. Wichtig für das Verständnis: Transsexualität beschreibt nicht eine sexuelle Orientierung, sondern die geschlechtliche Identität eines Menschen. "Als es soweit war, fühlte es sich an wie eine Befreiung", sagt Jessica Tschitschke.

Während der Geschlechtsangleichung müssen Betroffene einen "Transidenten Lebenslauf" verfassen. "Als ich damals mein Leben aufschrieb und mit meiner Psychologin aufarbeitete, verstand ich besser, dass ich mich schon mit sieben, acht Jahren als Mädchen gefühlt hatte. Man weiß in dem Alter natürlich gar nicht, was da nicht stimmt.“ Im Teenageralter wurde es dann zu einer Gewissheit. Doch bis Jessica Tschitschke in die Hormonbehandlung einstieg, vergingen nochmal mehr als zehn Jahre. Sie war damals 28. Heute sagt sie: "Ich habe mich lange Jahre in eine Rolle pressen lassen.“ Das Durchschnittsalter für Geschlechtsanpassungen in Deutschland liegt bei 38 Jahren, sinkt aber seit geraumer Zeit.

Ablehnung zunächst auch im Fußball

Sie begann so rund 2012 in einem Frauenteam in Brandenburg Fußball zu spielen. Das lief mehr schlecht als recht. Einige Mitspielerinnen feindeten sie unverhohlen an. Nach einem halben Jahr wurde ihr gesagt, sie müsse jetzt nicht mehr zum Training kommen. Ohne eine Begründung, keine Mitspielerin stand ihr zur Seite. Wieder mal aussortiert. Alle schauten auf die Schuhspitzen und schwiegen. "Heute weiß ich, ich war nie richtig angekommen in diesem Team. Als Transfrau muss man sich das auch ein Stückchen erarbeiten."

Jessica Tschitschke wechselte fußballerisch ins nahegelegene Berlin, wurde 2014 Spielerin beim Frauenklub DFC Berlin in Kreuzberg. Sie betrachten sich als erster komplett von Frauen organisierter Fußballklub in Berlin. Seit ein paar Jahren trainiert sie dort die offene Trainingsgruppe, zwischen 20 und 25 Frauen treffen sich einmal pro Woche auf dem Platz an der Lobeckstraße. "Wir sind eine bunte Truppe", sagt sie. Der Verein ist ihre sportliche Heimat geworden. Aber auch hier musste sie Anfeindungen entgegentreten. "In einem Spiel fielen die ganze Zeit blöde Sprüche. Und nach Abpfiff kam der Schiedsrichter und wollte bei mir noch einmal den Spielerpass und meinen Personalausweis kontrollieren. Dabei hatten wir verloren. Das war aus meiner Sicht reine Schikane." Für das Rückspiel schickte der BFV einen Beobachter.

Geschlecht nicht das einzige Identitätsmerkmal

Jessica Tschitschke hat sich nur hormonell, nicht operativ behandeln lassen. Sie fürchtet Entzündungen, betrachtet die nötigen operativen Eingriffe bis heute als "nicht ausgereift". Überwiegend fühlt sie sich angekommen, im Fußball und auch sonst im Leben. "Im Beruf habe ich keine Probleme. Einige wenige Freunde von früher sind weggegangen, aber die meisten eben nicht. Mein Vater ist schon verstorben, meine Mutter steht voll hinter mir." Dass Menschen ihr manchmal mit Unsicherheit begegnen, versteht sie, sagt aber auch: "Geschlecht ist ein wichtiges Identitätsmerkmal, aber doch nicht das einzige. Am eigentlichen Menschen ändert sich doch nichts."

Und sie ist überzeugt: "Es würde viel mehr Transgender-Menschen geben, die Sport treiben und in einen Verein gehen. Doch das verlangt immer noch eine enorme Überwindung." Daran will Michaela Jessica Tschitschke jetzt etwas ändern.

###more###