Italien beendet Traum vom Heimtitel

Dortmund-Bonus ohne Wirkung

Spielbericht:

Es kann eine lange Fußball-Nacht werden, der Anpfiff an diesem Hochsommer-Dienstag (30 Grad) erfolgt erst um 21 Uhr. Die Ränge sind natürlich vollbesetzt, man sieht nur Menschen in weißen oder blauen Trikots. Bei dieser WM spielen die Fans buchstäblich mit. Auf einem Transparent steht: "Unsere Welle trägt euch ins Finale", auf einem anderen "Unschlagbar in Dortmund!" Die Kulisse ist so laut, dass 31,31 Millionen Fernseh-Zuschauer den ZDF-Kommentator Bela Rethy in den ersten Minuten kaum verstehen. Ganz Deutschland will ins Finale. Für den ersten Aufreger sorgt Francesco Totti mit einem frechen 32-Meter-Freistoß, den Jens Lehmann sicher fängt. Die deutsche Mannschaft braucht etwas, um zu ihrem Spiel zu finden, kein Wunder bei zwei neuen Spielern im Mittelfeld. Außerdem sind alle von der "überraschenden Offensive der Italiener" (Rethy) beeindruckt. So forsch hat man sie bei diesem Turnier noch nicht gesehen, wenngleich auch ihnen kaum große Chancen zu teil werden.

Nach 16 Minuten will Michael Ballack einen Handelfmeter haben, er hat Andrea Pirlo angeköpft, aber aus so kurzer Entfernung kann man nicht von Absicht sprechen – findet auch Schiedsrichterexperte Urs Meier im ZDF-Studio. Als Podolski einen Volleyschuss übers Tor setzt, fordert er das ohnehin lärmende Publikum zu noch mehr Unterstützung auf. Und die Dortmunder singen, beweisen auch Humor. "Ihr seid nur ein Pizza-Lieferant", schleudern sie den Italienern entgegen ungeachtet dessen, dass die das kaum verstehen dürften. Auch Luca Toni nicht, der erst ein Jahr später zu den Bayern wechseln wird. In der 34. Minute haben 60.000 den Torschrei auf den Lippen. Nach einem italienischen Ballverlust bedient Klose den rechts freistehenden Bernd Schneider, der in 70 Länderspielen erst ein Tor geschossen hat – bei der WM 2002 gegen Saudi-Arabien. Hebt er sich seine Tore nur für Weltmeisterschaften auf? Es wäre zu schön, doch er donnert den Ball aus 14 Metern übers Tor. Auf Leinwand läuft sogleich die Wiederholung und die Menge raunt, als sie sieht wie knapp es gewesen ist. Das Spiel wird härter. Eben noch stellt Rethy fest, dass Schiedsrichter Benito Archundia aus Mexiko "viel laufen lässt", da zückt er die erste Gelbe. Tim Borowski sieht sie nicht zu Unrecht für ein Foul von hinten an Totti. Zur Halbzeit steht es 0:0. Vier Monate zuvor hat Italien da schon 3:0 geführt, deshalb erkennt Rethy aus deutscher Sicht "einen Quantensprung". Im ZDF-Studio fasst der Mainzer Bundesligatrainer Jürgen Klopp das Geschehen so zusammen: "Ein komisches Spiel. Sehr intensiv, wenig Chancen – und doch ging es ruckzuck rum."

Aber es geht ja noch ein bisschen weiter. Die Kreativität der Zuschauer ist noch nicht erschöpft, kurz nach Wiederanpfiff wird die Nationalhymne gesungen. Unbefangener Patriotismus, der sich einfach nur gut anfühlt, auch das bringt der WM-Sommer 2006 mit sich. Nur den Titel bringt er nicht, denn gegen Italien fallen wieder mal keine Tore. Klose tankt sich durch, wird im letzten Moment von Gianluigi Buffon gestoppt. Der Torwart von Zwangsabsteiger Juventus Turin – das Urteil wegen Spielmanipulation im großen Stil erfahren die Nationalspieler unmittelbar vor diesem Halbfinale – hält auch Podolskis Drehschuss aus fünf Metern, ansonsten bekommt er nichts zu tun. Gegenüber Jens Lehmann geht es nicht anders, abgesehen von einem riskanten Flugeinlage in der 85. Minute, als er vor dem durchgebrochenen Simone Perotta klärt. Klinsmann hat zwei Mal gewechselt in der zweiten Hälfte, beide Joker (Bastian Schweinsteiger von den Bayern und Lokalmatador David Odonkor) werden euphorisch begrüßt. Das Publikum wird seinem Ruf gerecht, das beste zu sein bei deutschen Länderspielen. Und doch droht eine beachtliche Serie zu reißen. Erstmals nach 20 Heimspielen unter Klinsmann hat Deutschland nicht getroffen. Doch es gibt noch eine halbstündige Zulage.

In der Pause werden Ballacks Beine gleich von zwei Masseuren geknetet, dann steht er auf und hält in der Mitte des Kreises, den der ganze Kader bildet, eine kurze Ansprache. "Haben Sie das Gesicht von Ballack gesehen? Wilde Entschlossenheit!", staunt Bela Rethy. Italien bringt mit Vincenzo Iaquinta einen frischen Stürmer, mit Camoranesi geht ein Mittelfeldspieler. Marcelo Lippi scheint sich nicht nach einem Elfmeterschießen gegen die in dieser Disziplin bei WM-Endrunden ungeschlagenen Deutschen zu sehnen. Der Start in die Verlängerung ist furios, Fortuna spielt nun bei den Deutschen mit. Sowohl als Gilardino nach bereits 40 Sekunden sein Solo mit einem Pfostenschuss abschließt, als auch eine Minute später, da Gianluca Zambrotta aus 17 Metern die Latte anvisiert. Im Kontrast dazu die Reaktion von den Rängen: "Die Nummer eins der Welt sind wir." Den Beweis bleibt die tapfere deutsche Elf, bei der sichtlich die Kräfte schwinden, schuldig. Italien drängt geradezu ins Finale, Lippi bringt mit Alessandro del Piero einen vierten Stürmer. "Lippi sucht die Entscheidung", stellt Bela Rethy fest. Und Deutschland sucht den verlorenen Spielfaden. Und doch bietet sich in der 105. Minute die Führungschance: Wie gegen Polen zieht Wirbelwind Odonkor von rechts eine Flanke in den Fünfmeterraum, wo Podolski frei steht. Mit dem Kopf trifft er den Ball nicht richtig – zwei Meter vorbei. Das Publikum aber ist dankbar für die erste Chance nach fast 25 Minuten.

Ein letztes Mal werden die Seiten gewechselt. Lahm versucht eine Kopie seines Treffers gegen Costa Rica, setzt seinen Schlenzer aber etwas zu hoch an. Joker del Piero richtet allerlei Verwirrung an, einmal bremsen sie ihn mit vereinten Kräften, beim zweiten Mal verfehlt er das von Lehmann leichtfertig verlassene Tor deutlich. Dazwischen liegt die zweitgrößte deutsche Chance: nach einem Konter bedient Schweinsteiger Podolski, der den Ball im Strafraum auf seinen starken linken Fuß bekommt und sofort abzieht. Buffon macht sich lang und wehrt zur Ecke ab. Gleiches leistet Lehmann bei Pirlos 18-Meter-Hammer. Italiens Führung wäre verdient, man wird 10:5 Chancen und 57% Ballbesitz für die Azzuri ermitteln. Noch aber heißt es 0:0. Zwei Minuten bleiben. Gerade sagt Rethy noch: "Den Chancen nach muss die deutsche Mannschaft froh sein, diese Verlängerung überstanden zu haben. Bisher…"

Da kommt die Ecke, Arne Friedrich köpft den Ball aus dem Strafraum zu Pirlo. Der läuft parallel zur Strafraumlinie, zieht zwei Gegner auf sich und sticht dann durch zum freistehenden Linksverteidiger Fabio Grosso. Der Mann aus Palermo, der sich im Starensemble der Turiner, Mailänder und Römer ein bisschen verloren vorkommen mag, macht den Schuss seines Lebens. Mit links zirkelt er den Ball unhaltbar für Lehmann neben den Pfosten. "Grosso trifft uns ins Herz", titelt die Bild am nächsten Tag. Denn es ist die Entscheidung, so kurz vor Schluss. Ein Tor gegen führende Italiener in 60 Sekunden, das war zu allen Zeiten illusorisch. Sie versuchen es trotzdem, aber Podolski springt der Ball von der Brust zwei Meter weg, Italien kontert wie aus dem Lehrbuch. Eine Co-Produktion der Joker Alberto Gilardino und del Piero führt zum 2:0. Der Schiedsrichter pfeift gar nicht mehr an. Der deutsche Titeltraum zerplatzt. Nicht jedes Märchen hat ein glückliches Ende, aber das deutsche Sommermärchen rührt jeden an, der es erlebt hat. Die Zuschauer applaudieren und singen weiter, als wäre nichts geschehen. Ballack und Odonkor weinen auf dem Platz, schämen müssen sie sich ihrer Tränen nicht. Die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident kommen in die Kabine. Horst Köhler sagt: "Das Land ist stolz auf Sie." Wer von höchster Stelle Trost erfährt, geht mit dem Gefühl nach Hause Großes geleistet zu haben. Als sie nachts um vier Uhr in ihrem Berlin Hotel ankommen, spüren sie das noch einmal: dort warten 100 Fans, um Danke zu sagen. Danke für eine große WM.

Aufstellung: Lehmann – Friedrich, Mertesacker, Metzelder, Lahm – Schneider (83. Odonkor), Borowski (73. Schweinsteiger), Kehl, Ballack – Klose (111. Neuville), Podolski.

Tore: 0:1 Grosso (119.), 0:2 del Piero (121.).

Zuschauer: 65.000 in Dortmund



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

30. Juni 2006 in Dortmund - Halbfinale: Deutschland - Italien 0:2 n.V.

Vor dem Spiel:

Das Nachspiel des Viertelfinales gegen Argentinien hatte Folgen. Ausgerechnet italienische TV-Kameras entlarvten Torsten Frings, der im allgemeinen Tumult nach dem Elfmeterschießen Argentiniens Julio Cruz einen Schlag versetzt haben soll. Obwohl Cruz ihn entlastet ("Ich habe nichts gespürt") und dessen Provokation (er schlug zuerst) berücksichtigt wurde, sperrte die FIFA Frings, bis dahin unverzichtbar im defensiven Mittelfeld, einen Tag vor dem Spiel. Hinzu kamen 5000 Schweizer Franken und ein Spiel auf Bewährung. Bild kommentierte empört: "Dieses Urteil ist wirklich ein Schlag ins Gesicht." So kam Sebastian Kehl, Lokalmatador in Dortmund, zum Startelf-Debüt bei der Heim-WM. Auch Tim Borowski rückte ins Team, Bundestrainer Jürgen Klinsmann war mit Bastian Schweinsteiger nicht so zufrieden gewesen.

Das Ziel stand fest: Italien erstmals bei einem Turnier schlagen und das Finale von Berlin erreichen. Gegen die fatale Turnierbilanz gegen Italien sollte der Dortmund-Bonus helfen: 14 Spiele, 13 Siege, 1 Remis. Aber noch frisch war die Erinnerung an das 1:4-Debakel von Florenz im März, nach dem eine große Debatte über die Qualität der Nationalelf entbrannt war. Die war nach den bisherigen WM-Auftritten verstummt. Zehn deutsche Spieler, die in Florenz mitwirkten, bekamen nun die Chance zur Revanche, nur Kehl ging sozusagen unbelastet in dieses Duell. Christoph Metzelder machte deutlich: "Es geht nicht um Rache für das 1:4, es geht um das Finale!" Das wollten auch die Italiener erreichen. Noch ungeschlagen bei dieser WM, bewiesen auch sie ihren Ruf als Turniermannschaft erneut. Glanzlos in der Vorrunde, aber abgeklärt und defensivstark wie seit je her, hatte das ausschließlich aus heimischen Serie A-Spielern bestehende Ensemble im Viertelfinale den höchsten Sieg eingefahren – 3:0 gegen die Ukraine.

Als DFB-Co-Trainer Joachim Löw Scout Urs Siegenthaler nach Schwächen der Italiener befragte, musste der passen. "Es wird schwer, die lassen sich durch nichts aus der Ruhe bringen", sagte der Schweizer im deutschen Trainerstab. Auch die Statistik sprach Bände: das Team von Trainer Marcello Lippi war seit 23 Spielen ungeschlagen. Jürgen Klinsmann interessierte das alles wenig, der Dauer-Optimist sagte: "Wir wollen und werden die Hürde Italien nehmen." Dass ausgerechnet italienische TV-Bilder die Sperre von Frings bewirkten, sorgte für zusätzliche Brisanz. Die Bild-Zeitung stellte die Partie unter das Motto: "Jetzt erst recht! Siegt für Frings und schenkt uns das Finale."

Ganz unbeschäftigt blieb Torsten Frings übrigens nicht. Wie vor jeder Partie bei dieser WM bildeten die Spieler einen Kreis und einer, der von Anfang an nicht mit dabei sein durfte, hielt eine kurze Ansprache. Diesmal traf es Frings. Was er sagte, ist dank des Kino-Films von Sönke Wortmann (Deutschland, ein Sommermärchen) dokumentiert. Eine Kostprobe: "Männer, vier Gründe, warum wir hier heute gewinnen. Nummer 1: Kampf! Absoluter Kampf bis zur totalen Erschöpfung. Nummer 2: Absoluter Wille! Keinen Ball verloren geben, jedem Zweikampf hinterher. Nummer 3: Mut! So spielen wie wir können und wir sind verdammt gut, Männer! Nummer 4: Wir sind ein Team! Und wir gewinnen das Spiel zusammen. Wir gehen jetzt raus und hauen die Scheißer weg!" Fußballersprache…

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Dortmund-Bonus ohne Wirkung

Spielbericht:

Es kann eine lange Fußball-Nacht werden, der Anpfiff an diesem Hochsommer-Dienstag (30 Grad) erfolgt erst um 21 Uhr. Die Ränge sind natürlich vollbesetzt, man sieht nur Menschen in weißen oder blauen Trikots. Bei dieser WM spielen die Fans buchstäblich mit. Auf einem Transparent steht: "Unsere Welle trägt euch ins Finale", auf einem anderen "Unschlagbar in Dortmund!" Die Kulisse ist so laut, dass 31,31 Millionen Fernseh-Zuschauer den ZDF-Kommentator Bela Rethy in den ersten Minuten kaum verstehen. Ganz Deutschland will ins Finale. Für den ersten Aufreger sorgt Francesco Totti mit einem frechen 32-Meter-Freistoß, den Jens Lehmann sicher fängt. Die deutsche Mannschaft braucht etwas, um zu ihrem Spiel zu finden, kein Wunder bei zwei neuen Spielern im Mittelfeld. Außerdem sind alle von der "überraschenden Offensive der Italiener" (Rethy) beeindruckt. So forsch hat man sie bei diesem Turnier noch nicht gesehen, wenngleich auch ihnen kaum große Chancen zu teil werden.

Nach 16 Minuten will Michael Ballack einen Handelfmeter haben, er hat Andrea Pirlo angeköpft, aber aus so kurzer Entfernung kann man nicht von Absicht sprechen – findet auch Schiedsrichterexperte Urs Meier im ZDF-Studio. Als Podolski einen Volleyschuss übers Tor setzt, fordert er das ohnehin lärmende Publikum zu noch mehr Unterstützung auf. Und die Dortmunder singen, beweisen auch Humor. "Ihr seid nur ein Pizza-Lieferant", schleudern sie den Italienern entgegen ungeachtet dessen, dass die das kaum verstehen dürften. Auch Luca Toni nicht, der erst ein Jahr später zu den Bayern wechseln wird. In der 34. Minute haben 60.000 den Torschrei auf den Lippen. Nach einem italienischen Ballverlust bedient Klose den rechts freistehenden Bernd Schneider, der in 70 Länderspielen erst ein Tor geschossen hat – bei der WM 2002 gegen Saudi-Arabien. Hebt er sich seine Tore nur für Weltmeisterschaften auf? Es wäre zu schön, doch er donnert den Ball aus 14 Metern übers Tor. Auf Leinwand läuft sogleich die Wiederholung und die Menge raunt, als sie sieht wie knapp es gewesen ist. Das Spiel wird härter. Eben noch stellt Rethy fest, dass Schiedsrichter Benito Archundia aus Mexiko "viel laufen lässt", da zückt er die erste Gelbe. Tim Borowski sieht sie nicht zu Unrecht für ein Foul von hinten an Totti. Zur Halbzeit steht es 0:0. Vier Monate zuvor hat Italien da schon 3:0 geführt, deshalb erkennt Rethy aus deutscher Sicht "einen Quantensprung". Im ZDF-Studio fasst der Mainzer Bundesligatrainer Jürgen Klopp das Geschehen so zusammen: "Ein komisches Spiel. Sehr intensiv, wenig Chancen – und doch ging es ruckzuck rum."

Aber es geht ja noch ein bisschen weiter. Die Kreativität der Zuschauer ist noch nicht erschöpft, kurz nach Wiederanpfiff wird die Nationalhymne gesungen. Unbefangener Patriotismus, der sich einfach nur gut anfühlt, auch das bringt der WM-Sommer 2006 mit sich. Nur den Titel bringt er nicht, denn gegen Italien fallen wieder mal keine Tore. Klose tankt sich durch, wird im letzten Moment von Gianluigi Buffon gestoppt. Der Torwart von Zwangsabsteiger Juventus Turin – das Urteil wegen Spielmanipulation im großen Stil erfahren die Nationalspieler unmittelbar vor diesem Halbfinale – hält auch Podolskis Drehschuss aus fünf Metern, ansonsten bekommt er nichts zu tun. Gegenüber Jens Lehmann geht es nicht anders, abgesehen von einem riskanten Flugeinlage in der 85. Minute, als er vor dem durchgebrochenen Simone Perotta klärt. Klinsmann hat zwei Mal gewechselt in der zweiten Hälfte, beide Joker (Bastian Schweinsteiger von den Bayern und Lokalmatador David Odonkor) werden euphorisch begrüßt. Das Publikum wird seinem Ruf gerecht, das beste zu sein bei deutschen Länderspielen. Und doch droht eine beachtliche Serie zu reißen. Erstmals nach 20 Heimspielen unter Klinsmann hat Deutschland nicht getroffen. Doch es gibt noch eine halbstündige Zulage.

In der Pause werden Ballacks Beine gleich von zwei Masseuren geknetet, dann steht er auf und hält in der Mitte des Kreises, den der ganze Kader bildet, eine kurze Ansprache. "Haben Sie das Gesicht von Ballack gesehen? Wilde Entschlossenheit!", staunt Bela Rethy. Italien bringt mit Vincenzo Iaquinta einen frischen Stürmer, mit Camoranesi geht ein Mittelfeldspieler. Marcelo Lippi scheint sich nicht nach einem Elfmeterschießen gegen die in dieser Disziplin bei WM-Endrunden ungeschlagenen Deutschen zu sehnen. Der Start in die Verlängerung ist furios, Fortuna spielt nun bei den Deutschen mit. Sowohl als Gilardino nach bereits 40 Sekunden sein Solo mit einem Pfostenschuss abschließt, als auch eine Minute später, da Gianluca Zambrotta aus 17 Metern die Latte anvisiert. Im Kontrast dazu die Reaktion von den Rängen: "Die Nummer eins der Welt sind wir." Den Beweis bleibt die tapfere deutsche Elf, bei der sichtlich die Kräfte schwinden, schuldig. Italien drängt geradezu ins Finale, Lippi bringt mit Alessandro del Piero einen vierten Stürmer. "Lippi sucht die Entscheidung", stellt Bela Rethy fest. Und Deutschland sucht den verlorenen Spielfaden. Und doch bietet sich in der 105. Minute die Führungschance: Wie gegen Polen zieht Wirbelwind Odonkor von rechts eine Flanke in den Fünfmeterraum, wo Podolski frei steht. Mit dem Kopf trifft er den Ball nicht richtig – zwei Meter vorbei. Das Publikum aber ist dankbar für die erste Chance nach fast 25 Minuten.

Ein letztes Mal werden die Seiten gewechselt. Lahm versucht eine Kopie seines Treffers gegen Costa Rica, setzt seinen Schlenzer aber etwas zu hoch an. Joker del Piero richtet allerlei Verwirrung an, einmal bremsen sie ihn mit vereinten Kräften, beim zweiten Mal verfehlt er das von Lehmann leichtfertig verlassene Tor deutlich. Dazwischen liegt die zweitgrößte deutsche Chance: nach einem Konter bedient Schweinsteiger Podolski, der den Ball im Strafraum auf seinen starken linken Fuß bekommt und sofort abzieht. Buffon macht sich lang und wehrt zur Ecke ab. Gleiches leistet Lehmann bei Pirlos 18-Meter-Hammer. Italiens Führung wäre verdient, man wird 10:5 Chancen und 57% Ballbesitz für die Azzuri ermitteln. Noch aber heißt es 0:0. Zwei Minuten bleiben. Gerade sagt Rethy noch: "Den Chancen nach muss die deutsche Mannschaft froh sein, diese Verlängerung überstanden zu haben. Bisher…"

Da kommt die Ecke, Arne Friedrich köpft den Ball aus dem Strafraum zu Pirlo. Der läuft parallel zur Strafraumlinie, zieht zwei Gegner auf sich und sticht dann durch zum freistehenden Linksverteidiger Fabio Grosso. Der Mann aus Palermo, der sich im Starensemble der Turiner, Mailänder und Römer ein bisschen verloren vorkommen mag, macht den Schuss seines Lebens. Mit links zirkelt er den Ball unhaltbar für Lehmann neben den Pfosten. "Grosso trifft uns ins Herz", titelt die Bild am nächsten Tag. Denn es ist die Entscheidung, so kurz vor Schluss. Ein Tor gegen führende Italiener in 60 Sekunden, das war zu allen Zeiten illusorisch. Sie versuchen es trotzdem, aber Podolski springt der Ball von der Brust zwei Meter weg, Italien kontert wie aus dem Lehrbuch. Eine Co-Produktion der Joker Alberto Gilardino und del Piero führt zum 2:0. Der Schiedsrichter pfeift gar nicht mehr an. Der deutsche Titeltraum zerplatzt. Nicht jedes Märchen hat ein glückliches Ende, aber das deutsche Sommermärchen rührt jeden an, der es erlebt hat. Die Zuschauer applaudieren und singen weiter, als wäre nichts geschehen. Ballack und Odonkor weinen auf dem Platz, schämen müssen sie sich ihrer Tränen nicht. Die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident kommen in die Kabine. Horst Köhler sagt: "Das Land ist stolz auf Sie." Wer von höchster Stelle Trost erfährt, geht mit dem Gefühl nach Hause Großes geleistet zu haben. Als sie nachts um vier Uhr in ihrem Berlin Hotel ankommen, spüren sie das noch einmal: dort warten 100 Fans, um Danke zu sagen. Danke für eine große WM.

Aufstellung: Lehmann – Friedrich, Mertesacker, Metzelder, Lahm – Schneider (83. Odonkor), Borowski (73. Schweinsteiger), Kehl, Ballack – Klose (111. Neuville), Podolski.

Tore: 0:1 Grosso (119.), 0:2 del Piero (121.).

Zuschauer: 65.000 in Dortmund

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Klinsmann: "Sie haben ein ganzes Land stolz gemacht"

Stimmen zum Spiel:

Angela Merkel (Bundeskanzlerin): "Schade. Es war ein Superspiel. Leider hat es nicht ganz gereicht, aber diese Mannschaft kann noch viel schaffen."

Horst Köhler (Bundespräsident): "Es hat nicht gereicht – aber sie haben sich trotzdem in die Herzen der Deutschen gespielt. Ich bin sicher, dass sie bei der nächsten EM wieder Großes leisten werden."

Josef Blatter (FIFA-Präsident): "Hätten beide Mannschaften so wie in der Verlängerung gespielt, hätten wir ein großartiges Halbfinale gesehen. In der regulären Spielzeit haben sie sich praktisch neutralisiert."

Oliver Bierhoff (Teammanager): "Wir haben lobende Worte für die Mannschaft gefunden. Wir sind wahnsinnig stolz auf sie und ich bin sicher, ganz Deutschland ist stolz darauf, wie sie hier aufgetreten ist."

Jürgen Klinsmann: "Solch ein K.o. kurz vor Schluss tut sehr, sehr weh. Die Spieler waren am Boden zerstört. Aber ich habe ihnen gleich in der Kabine gesagt, dass sie riesig stolz auf sich sein können. Sie haben Phantastisches geleistet, ein ganzes Land stolz gemacht. Wir müssen die Pille schlucken und werden versuchen, den Leuten ein weiteres gutes Spiel zu liefern. Das Turnier ist für uns noch nicht zu Ende."

Franz Beckenbauer (WM-OK-Chef): "Unsere Mannschaft hätte auch den Sieg verdient gehabt, aber die anderen waren cleverer."

Michael Ballack: "Der Eckball war doch längst abgewehrt, aber dann macht es Pirlo sehr, sehr gut, läuft quer zum Strafraum. Mit drei Mann konnten wir den Pass in die Tiefe nicht verhindern. Grosso trifft den Ball optimal. Italiens Sieg ist nicht unverdient, eine Minute vor Schluss ist es so bitter. Es sollte nicht sein."

Philipp Lahm: "Vor dem Turnier wäre man vielleicht zufrieden gewesen mit dem Halbfinale, aber wenn man das dann verliert, ist die Enttäuschung natürlich groß."

Christoph Metzelder: "Wir haben den Italienern einen großen Fight geboten. So spät zu verlieren ist unheimlich bitter. Aber in einem solchen Turnier geht es eben auch um Glück und Schicksal – es ging um eine Szene. Im Moment ist die Enttäuschung groß, aber in einiger Zeit werden wir stolz sein auf das Geleistete."

Lukas Podolski: "So ist Fußball. Wir haben ein Superspiel gemacht und hätten den Sieg verdient gehabt. Allein ich hatte drei hundertprozentige Chancen, von denen eine hätte drin sein müssen."

Marcello Lippi (Trainer Italiens): "Wenn eine Mannschaft das Finale verdient hat, dann sind wir es. Meine Jungs sind einfach phantastisch. Sie haben ihre Liebe in das Spiel reingesteckt und eine absolute Top-Leistung gezeigt."

"Wir weinen mit Euch. Ihr seid trotzdem Helden!" (Bild)

"Fast vier Wochen WM haben die Nationalmannschaft zu einem Titelfavoriten verklärt, der sie nie war. Mit Begeisterung, Heimvorteil, enormen Einsatz und manchmal auch ein bißchen Glück hat es die DFB-Auswahl geschafft, ‚daß wir wieder mit den besten Teams mithalten können‘, sagt Teamchef Oliver Bierhoff. Unter den besten Vier der WM gewesen zu sein, ist ein großer Erfolg. Aber es heißt nicht, daß die Auswahl von Klinsmann zur absoluten Weltklasse gehört." (Die Welt)

"Mögen Manager Oliver Bierhoff ‚eine unendliche Leere‘ und Christoph Metzelder ‚eine riesige Enttäuschung‘ beklagen, so hat diese Auswahl ihre Fans begeistert und viele neue aquiriert. Sie verzauberte ein ganzes Land mit ihrem beschwingten Spiel und löste in ihren WM-Stammsitz in Berlin eine befreite Stimmung wie bei der Wiedervereinigung aus." (Kicker)

"Zwei großartige Tore und Italien kommt ins Finale. Deutsche Tränen und Festa Azzura in allen Städten." (Corriere della Sera/Italien)

"Die Deutschen gewinnen immer, wenn es zum Elfmeterschießen kommt. Aber vorher schlagen die Italiener die Deutschen." (Daily Mail/England)

"Das deutsche Team ist als ein Team mit Angriffslust neu aufgestellt worden und das Land ist ein fröhliches geworden, das seine Flagge wiedergewonnen hat." (Times/England)

"Italien kam als böser Geist und Hassobjekt zur WM und hat nun mehr erreicht, als man erträumen konnte. Die Italiener spielten für ihre Ehre, die Deutschen für ein Volk in Ekstase." (Aftonbladet/Schweden)

"Der Sieg der Azzuri war unbestritten verdient, auch wenn Deutschland vor der Verlängerung den Sieg streifte." (El Pais/Spanien)

"Deutsche und Italiener haben das beste bisherige Spiel der WM geboten. Es hatte alles: eine fantastische Atmosphäre, ein unglaubliches Tempo, herausragende Spieler. Weisheit und Tapferkeit brachten den Italienern den Triumph. Für die Deutschen war am Ende der Verlust der Konzentration verhängnisvoll." (Vecernje novosti/Serbien)