Inklusionsvorbild Ibbenbürener Kickers: Am Anfang war eine Idee

Vor zehn Jahren startete die DFB-Stiftung Sepp Herberger ihre Inklusionsinitiative. Fußball für Menschen mit einer Behinderung im "Verein um die Ecke" anzubieten, dieses und viele andere ambitionierte Inklusionsziele werden mit großem Engagement verfolgt, das bestätigt das Beispiel der Familie Grabow aus dem westfälischen Ibbenbüren.

Eine Idee ist kein schlechter Beginn, wenn man etwas erreichen will. Pep Guardiolas Idee vom radikalen Ballbesitzfußball reichte in drei Jahren zu ebenso vielen Meistertiteln des FC Barcelona und zwei Champions-League-Siegen. Guardiolas Idee hieß Xavi, Iniesta und später hieß sie Thiago. Jogi Löws Idee hieß Mesut Özil, Marco Reus und Ilkay Gündogan. Ralf Rangnicks Idee war es, möglichst selten den Ball zu haben. Ohne Ralf Rangnick persönlich kennengelernt zu haben, brachte Mark Twain die Sache mal so auf den Punkt: "Wer eine neue Idee hat, ist ein Spinner, bis die Idee eingeschlagen hat."

Vor drei Jahren hatte Marcel Grabow eine Idee. Man kann Grabows Idee für den Fußball in einem Wort ausdrücken und braucht nur ein paar mehr, um sie zu erklären. Spaß - am Fußball, am Miteinander, am Leben. Klingt banal - nur ist für Marcel Grabow der Spaß kein Mitnahmeeffekt. Im westfälischen Ibbenbüren traten der heute 52-jährige Mediendesigner und seine Frau Inga 2019 an, um "einfach Fußball zu spielen, ohne Leistungsdruck und egal, wie gut oder eben schlecht man ist." Erstmals verwirklichte man die Idee am 4. Mai 2019. Zwei Monate nach dem allerersten Training folgten der von den Grabows entwickelten Idee – bald mischten auch seine Söhne Timm und Nico mit - regelmäßig 40 Fußballer*innen, die auf dem Platz einfach nur Fußball spielen wollten. Heute sind es 80.

"Zukunftspreis" nach Ibbenbüren

Rein statistisch kennt jeder von uns einen Menschen mit Behinderung. 7,8 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung leben in Deutschland. Hinzu kommen noch einmal rund 17 Millionen Erwachsene, die gesundheitliche Beeinträchtigungen oder chronische Krankheiten haben. Die Ibbenbürener Kickers liegen über Schnitt, sieben von zehn gehen mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung auf den Platz, die jüngste Fußballerin im Team ist fünf, der älteste 71 Jahre alt. Der habe "ein bisschen Rücken", meint Marcel Grabow mit einem Augenzwinkern. Inzwischen haben sich die Ibbenbürener Kickers dem Verein Cheruskia Laggenbeck angeschlossen, auch aus versicherungstechnischen Gründen. Nachdem man anfangs jeden aufgenommen hat, und jede selbstverständlich auch, ohne groß Fragen zu stellen, füllt ein neues Mitglied heute erstmal einen etwas längeren Fragebogen aus. "Das war mir anfangs unangenehm, aber wir müssen einfach manche Sachen wissen, etwa auch welche Notfallmedikamente eingesetzt werden", sagt Inga Grabow. "Wir lernen immer noch dazu." Zuletzt zeichnete das Netzwerk "Fußball stiftet Zukunft", dem etwa auch die Stiftungen der Weltmeister Toni Kroos, Lukas Podolski und Manuel Neuer angehören, die Ibbenbürener Kickers mit dem "Zukunftspreis" aus.

Lob und Unterstützung, wie beispielsweise auch durch den Fußball- und Leichtathletikverband Westfalen, bestärken die ohnehin überzeugten Ibbenbürener Kickers. Der Ansporn kommt vor allem von den Spielerinnen und Spielern selbst. Eine ehrenamtliche Trainerin berichtet, wie erfüllend es sei, wenn ein Fußballer mit Handicap beim ersten Training gerade fünf Minuten und nach ein paar Einheiten eine Stunde mitmachen kann. Stefan und Jan, beides Spieler, sind per Selbstdefinition Fußball-Verrückte. Das wöchentliche Training ist ihnen viel zu wenig. Für die meisten anderen Kickers passt es aber genauso. Auch weil der Anreiseradius 60 Kilometer beträgt.

Natürlich geht es darum, die Lebensqualität von Fußballer*innen mit Behinderungen zu verbessern. Auch ein paar PlayStation-Junkies sind bei den Ibbenbürenern mittlerweile eingestiegen. Doch Marcel Grabows Idee hat eine weitere Ebene. "Irgendwann war es einfach zu viel Druck, vom Trainer und von den Eltern. Wir Spieler standen uns gegenseitig im Weg", erzählt der 15-jährige Timm von seinen Erfahrungen in anderen Vereinen. Heute leitet er eine Gruppe beim wöchentlichen Training der Ibbenbürener Kickers. Die große Gruppe wird zu Beginn aufgeteilt. Die mit fußballerischen Grundlagen heißen "Ronaldos", die ohne "Messis". "Wenn ich das schulische Pensum meiner Kinder anschaue oder auch die berufliche Beanspruchung, dann muss man doch erkennen, wie umfassend heute Leistung eingefordert wird. Wir wollen, dass Fußballspielen nur Spaß macht. Das ist unser Grundgedanke, den ziehen wir gnadenlos durch, an dem orientieren wir jede unserer Entscheidungen."

Fußballangebote für Menschen mit einer Behinderung gibt es in den Fußballvereinen und den DFB-Landesverbänden bereits seit vielen Jahren, mitunter auch seit Jahrzehnten. Vor genau zehn Jahren startete die DFB-Stiftung Sepp Herberger ihre Inklusionsinitiative. Als zentrale strukturelle Maßnahme wurden in jedem der 21 Landesverbände ein/e Inklusionsbeauftragte/r eingerichtet. Heute machen mehrere hundert "normale" Fußballvereine Sportangebote für Menschen mit einer Behinderung. Die älteste deutsche Fußballstiftung organisiert (und co-finanziert) außerdem die jährliche Deutsche Meisterschaft der Werkstätten und die Blindenfußball-Bundesliga. Von den rund 700 Werkstätten in Deutschland qualifizieren sich immer im Herbst 16 Mannschaften für die Endrunde in der DFB-Sportschule Duisburg-Wedau. Die nationale Fußballliga für blinde und sehbehinderte Menschen endete im September mit einem Finale vor dem Kölner Dom. Der große Zuschauerandrang blieb aufgrund Dauerregens aus, aber auch die nächsten zwei Jahre trägt man den finalen Spieltag auf dem Roncalliplatz in Köln aus.

Menschen mit Behinderung sollen ihr "Zuhause" finden

"Unser Antrieb ist, dass Menschen mit Behinderungen in der Struktur des organisierten Fußballs ihr 'Zuhause' finden können", sagt DFB-Vizepräsident Ralph-Uwe Schaffert. Erstmals in der bisher 122-jährigen Verbandsgeschichte ist das Thema "Inklusion" im Präsidium das Thema vertreten. Der Niedersachse ist zudem Vorsitzender des Vorstandes der DFB-Stiftung Sepp Herberger. "Wir sehen die Menschen als 'echte' Fußballerinnen und Fußballer. Sie sind mit ihren Stärken und Potentialen eine Verstärkung auf und neben dem Spielfeld", so Schaffert.

Politisch wurden mit dem Bundesteilhabegesetz und der UN-Behindertenrechtskonvention ohnehin längst schon die Weichen gestellt. Behinderung wird nicht mehr als individuelle Eigenschaft verstanden. Behinderung entsteht vor allem ausgelöst durch Hindernisse in der Umwelt. Ein Verständnis, das "wir teilen, zu 200 Prozent", sagt Inga Grabow.

Auch Marc Schrameyer, Bürgermeister der 54.000 Einwohner-Stadt, ist ein Fan der Ibbenbürener Kickers: "Die Trainerinnen und Trainer sind mit wahnsinnig viel Herzblut dabei, aber auch die Eltern, die Betreuer. Das ist ein sehr starkes Miteinander." Und das alles mit einer großen Portion Spaß.

[th]

Vor zehn Jahren startete die DFB-Stiftung Sepp Herberger ihre Inklusionsinitiative. Fußball für Menschen mit einer Behinderung im "Verein um die Ecke" anzubieten, dieses und viele andere ambitionierte Inklusionsziele werden mit großem Engagement verfolgt, das bestätigt das Beispiel der Familie Grabow aus dem westfälischen Ibbenbüren.

Eine Idee ist kein schlechter Beginn, wenn man etwas erreichen will. Pep Guardiolas Idee vom radikalen Ballbesitzfußball reichte in drei Jahren zu ebenso vielen Meistertiteln des FC Barcelona und zwei Champions-League-Siegen. Guardiolas Idee hieß Xavi, Iniesta und später hieß sie Thiago. Jogi Löws Idee hieß Mesut Özil, Marco Reus und Ilkay Gündogan. Ralf Rangnicks Idee war es, möglichst selten den Ball zu haben. Ohne Ralf Rangnick persönlich kennengelernt zu haben, brachte Mark Twain die Sache mal so auf den Punkt: "Wer eine neue Idee hat, ist ein Spinner, bis die Idee eingeschlagen hat."

Vor drei Jahren hatte Marcel Grabow eine Idee. Man kann Grabows Idee für den Fußball in einem Wort ausdrücken und braucht nur ein paar mehr, um sie zu erklären. Spaß - am Fußball, am Miteinander, am Leben. Klingt banal - nur ist für Marcel Grabow der Spaß kein Mitnahmeeffekt. Im westfälischen Ibbenbüren traten der heute 52-jährige Mediendesigner und seine Frau Inga 2019 an, um "einfach Fußball zu spielen, ohne Leistungsdruck und egal, wie gut oder eben schlecht man ist." Erstmals verwirklichte man die Idee am 4. Mai 2019. Zwei Monate nach dem allerersten Training folgten der von den Grabows entwickelten Idee – bald mischten auch seine Söhne Timm und Nico mit - regelmäßig 40 Fußballer*innen, die auf dem Platz einfach nur Fußball spielen wollten. Heute sind es 80.

"Zukunftspreis" nach Ibbenbüren

Rein statistisch kennt jeder von uns einen Menschen mit Behinderung. 7,8 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung leben in Deutschland. Hinzu kommen noch einmal rund 17 Millionen Erwachsene, die gesundheitliche Beeinträchtigungen oder chronische Krankheiten haben. Die Ibbenbürener Kickers liegen über Schnitt, sieben von zehn gehen mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung auf den Platz, die jüngste Fußballerin im Team ist fünf, der älteste 71 Jahre alt. Der habe "ein bisschen Rücken", meint Marcel Grabow mit einem Augenzwinkern. Inzwischen haben sich die Ibbenbürener Kickers dem Verein Cheruskia Laggenbeck angeschlossen, auch aus versicherungstechnischen Gründen. Nachdem man anfangs jeden aufgenommen hat, und jede selbstverständlich auch, ohne groß Fragen zu stellen, füllt ein neues Mitglied heute erstmal einen etwas längeren Fragebogen aus. "Das war mir anfangs unangenehm, aber wir müssen einfach manche Sachen wissen, etwa auch welche Notfallmedikamente eingesetzt werden", sagt Inga Grabow. "Wir lernen immer noch dazu." Zuletzt zeichnete das Netzwerk "Fußball stiftet Zukunft", dem etwa auch die Stiftungen der Weltmeister Toni Kroos, Lukas Podolski und Manuel Neuer angehören, die Ibbenbürener Kickers mit dem "Zukunftspreis" aus.

Lob und Unterstützung, wie beispielsweise auch durch den Fußball- und Leichtathletikverband Westfalen, bestärken die ohnehin überzeugten Ibbenbürener Kickers. Der Ansporn kommt vor allem von den Spielerinnen und Spielern selbst. Eine ehrenamtliche Trainerin berichtet, wie erfüllend es sei, wenn ein Fußballer mit Handicap beim ersten Training gerade fünf Minuten und nach ein paar Einheiten eine Stunde mitmachen kann. Stefan und Jan, beides Spieler, sind per Selbstdefinition Fußball-Verrückte. Das wöchentliche Training ist ihnen viel zu wenig. Für die meisten anderen Kickers passt es aber genauso. Auch weil der Anreiseradius 60 Kilometer beträgt.

Natürlich geht es darum, die Lebensqualität von Fußballer*innen mit Behinderungen zu verbessern. Auch ein paar PlayStation-Junkies sind bei den Ibbenbürenern mittlerweile eingestiegen. Doch Marcel Grabows Idee hat eine weitere Ebene. "Irgendwann war es einfach zu viel Druck, vom Trainer und von den Eltern. Wir Spieler standen uns gegenseitig im Weg", erzählt der 15-jährige Timm von seinen Erfahrungen in anderen Vereinen. Heute leitet er eine Gruppe beim wöchentlichen Training der Ibbenbürener Kickers. Die große Gruppe wird zu Beginn aufgeteilt. Die mit fußballerischen Grundlagen heißen "Ronaldos", die ohne "Messis". "Wenn ich das schulische Pensum meiner Kinder anschaue oder auch die berufliche Beanspruchung, dann muss man doch erkennen, wie umfassend heute Leistung eingefordert wird. Wir wollen, dass Fußballspielen nur Spaß macht. Das ist unser Grundgedanke, den ziehen wir gnadenlos durch, an dem orientieren wir jede unserer Entscheidungen."

Fußballangebote für Menschen mit einer Behinderung gibt es in den Fußballvereinen und den DFB-Landesverbänden bereits seit vielen Jahren, mitunter auch seit Jahrzehnten. Vor genau zehn Jahren startete die DFB-Stiftung Sepp Herberger ihre Inklusionsinitiative. Als zentrale strukturelle Maßnahme wurden in jedem der 21 Landesverbände ein/e Inklusionsbeauftragte/r eingerichtet. Heute machen mehrere hundert "normale" Fußballvereine Sportangebote für Menschen mit einer Behinderung. Die älteste deutsche Fußballstiftung organisiert (und co-finanziert) außerdem die jährliche Deutsche Meisterschaft der Werkstätten und die Blindenfußball-Bundesliga. Von den rund 700 Werkstätten in Deutschland qualifizieren sich immer im Herbst 16 Mannschaften für die Endrunde in der DFB-Sportschule Duisburg-Wedau. Die nationale Fußballliga für blinde und sehbehinderte Menschen endete im September mit einem Finale vor dem Kölner Dom. Der große Zuschauerandrang blieb aufgrund Dauerregens aus, aber auch die nächsten zwei Jahre trägt man den finalen Spieltag auf dem Roncalliplatz in Köln aus.

Menschen mit Behinderung sollen ihr "Zuhause" finden

"Unser Antrieb ist, dass Menschen mit Behinderungen in der Struktur des organisierten Fußballs ihr 'Zuhause' finden können", sagt DFB-Vizepräsident Ralph-Uwe Schaffert. Erstmals in der bisher 122-jährigen Verbandsgeschichte ist das Thema "Inklusion" im Präsidium das Thema vertreten. Der Niedersachse ist zudem Vorsitzender des Vorstandes der DFB-Stiftung Sepp Herberger. "Wir sehen die Menschen als 'echte' Fußballerinnen und Fußballer. Sie sind mit ihren Stärken und Potentialen eine Verstärkung auf und neben dem Spielfeld", so Schaffert.

Politisch wurden mit dem Bundesteilhabegesetz und der UN-Behindertenrechtskonvention ohnehin längst schon die Weichen gestellt. Behinderung wird nicht mehr als individuelle Eigenschaft verstanden. Behinderung entsteht vor allem ausgelöst durch Hindernisse in der Umwelt. Ein Verständnis, das "wir teilen, zu 200 Prozent", sagt Inga Grabow.

Auch Marc Schrameyer, Bürgermeister der 54.000 Einwohner-Stadt, ist ein Fan der Ibbenbürener Kickers: "Die Trainerinnen und Trainer sind mit wahnsinnig viel Herzblut dabei, aber auch die Eltern, die Betreuer. Das ist ein sehr starkes Miteinander." Und das alles mit einer großen Portion Spaß.

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