"Ich strebe beides an: Titel und Begeisterung"

Menschen erreichen, positive Emotionen wecken, Freude verbreiten. Im Jahr 2010 ist dies der deutschen Nationalmannschaft gelungen. In Südafrika hat das deutsche Team die Fans aus aller Welt für ihre Art des Fußballs begeistert und neue Freunde gewonnen.

Zuständig dafür war und ist Joachim Löw, der zwischen Pretoria und Kapstadt zum ersten Mal bei einer Weltmeisterschaft als Bundestrainer in der Verantwortung stand.

Im zweiten von drei Teilen des großen DFB.de-Gesprächs der Woche mit Onlineredakteur Steffen Lüdeke redet Löw über die Erkenntnisse der WM und die Trauer, die der Tod von Robert Enke noch immer bei ihm und den Nationalspielern bewirkt.

DFB.de: 2010 war für Sie ein Jahr mit vielen Höhen, viel Begeisterung und viel Euphorie. Es gab aber auch stille Momente. Am 10. November haben Sie gemeinsam mit Dr. Theo Zwanziger und Oliver Bierhoff am Grab von Robert Enke gestanden und seiner am Jahrestag seines Todes gedacht. Können Sie in Worte fassen, was Ihnen in diesen Minuten durch den Kopf gegangen ist?

Löw: Es waren Momente von großer Trauer und einer tiefen Betroffenheit. Bis heute ist es für mich unfassbar, dass er nicht mehr bei uns ist. Er war ein wichtiger Bestandteil unserer Mannschaft, auch menschlich, Robert fehlt uns allen. Selbst bei der WM hatten wir im internen Kreis immer wieder Momente, in denen wir uns an ihn erinnert haben. Als wir am Grab standen, habe ich an die gemeinsame Zeit gedacht und an die Zeit, die wir leider nicht gemeinsam hatten.

DFB.de: Viele sagen, dass sein Tod nichts bewirkt hat. Viele behaupten, dass es im Fußball nach wie vor unmöglich sei, eigene Schwächen einzugestehen. Wie sehen Sie das? Haben Sie das Gefühl, dass der Tod von Robert Enke zu einem Umdenken geführt hat?

Löw: Keiner konnte erwarten, dass sich innerhalb von wenigen Monaten viele Dinge drastisch ändern. Das ist ein Prozess, der lange andauert, der aber begonnen hat. Ich habe durchaus das Gefühl, dass das Bewusstsein für die Krankheit Depression größer geworden ist, es hat eine gewisse Aufklärung stattgefunden. Ich glaube auch, dass die Trainer heute sensibler als früher sind und versuchen, Stimmungen von Spielern zu erkennen und ihnen klar machen, dass sie auch mal eine Schwäche zeigen können und dass dies sogar manchmal etwas Gutes sein kann. Es gibt viele gute Dinge, die angelaufen sind. Ich würde deswegen nicht sagen, dass sich im vergangenen Jahr nichts verändert hat.

DFB.de: Die Nationalmannschaft und die sportliche Leitung haben in diesem Jahr den Bambi und die Goldene Henne gewonnen, wurden von den deutschen Sportjournalistischen zur "Mannschaft des Jahres" gewählt. Sie persönlich wurden mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet, zuletzt hat sie die renommierte französische Sportzeitung L´Equipe als "Manager des Jahres" geehrt. Und das, obwohl Sie keinen Titel gewonnen haben. Ist dies für Sie kein Widerspruch?



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Menschen erreichen, positive Emotionen wecken, Freude verbreiten. Im Jahr 2010 ist dies der deutschen Nationalmannschaft gelungen. In Südafrika hat das deutsche Team die Fans aus aller Welt für ihre Art des Fußballs begeistert und neue Freunde gewonnen.

Zuständig dafür war und ist Joachim Löw, der zwischen Pretoria und Kapstadt zum ersten Mal bei einer Weltmeisterschaft als Bundestrainer in der Verantwortung stand.

Im zweiten von drei Teilen des großen DFB.de-Gesprächs der Woche mit Onlineredakteur Steffen Lüdeke redet Löw über die Erkenntnisse der WM und die Trauer, die der Tod von Robert Enke noch immer bei ihm und den Nationalspielern bewirkt.

DFB.de: 2010 war für Sie ein Jahr mit vielen Höhen, viel Begeisterung und viel Euphorie. Es gab aber auch stille Momente. Am 10. November haben Sie gemeinsam mit Dr. Theo Zwanziger und Oliver Bierhoff am Grab von Robert Enke gestanden und seiner am Jahrestag seines Todes gedacht. Können Sie in Worte fassen, was Ihnen in diesen Minuten durch den Kopf gegangen ist?

Löw: Es waren Momente von großer Trauer und einer tiefen Betroffenheit. Bis heute ist es für mich unfassbar, dass er nicht mehr bei uns ist. Er war ein wichtiger Bestandteil unserer Mannschaft, auch menschlich, Robert fehlt uns allen. Selbst bei der WM hatten wir im internen Kreis immer wieder Momente, in denen wir uns an ihn erinnert haben. Als wir am Grab standen, habe ich an die gemeinsame Zeit gedacht und an die Zeit, die wir leider nicht gemeinsam hatten.

DFB.de: Viele sagen, dass sein Tod nichts bewirkt hat. Viele behaupten, dass es im Fußball nach wie vor unmöglich sei, eigene Schwächen einzugestehen. Wie sehen Sie das? Haben Sie das Gefühl, dass der Tod von Robert Enke zu einem Umdenken geführt hat?

Löw: Keiner konnte erwarten, dass sich innerhalb von wenigen Monaten viele Dinge drastisch ändern. Das ist ein Prozess, der lange andauert, der aber begonnen hat. Ich habe durchaus das Gefühl, dass das Bewusstsein für die Krankheit Depression größer geworden ist, es hat eine gewisse Aufklärung stattgefunden. Ich glaube auch, dass die Trainer heute sensibler als früher sind und versuchen, Stimmungen von Spielern zu erkennen und ihnen klar machen, dass sie auch mal eine Schwäche zeigen können und dass dies sogar manchmal etwas Gutes sein kann. Es gibt viele gute Dinge, die angelaufen sind. Ich würde deswegen nicht sagen, dass sich im vergangenen Jahr nichts verändert hat.

DFB.de: Die Nationalmannschaft und die sportliche Leitung haben in diesem Jahr den Bambi und die Goldene Henne gewonnen, wurden von den deutschen Sportjournalistischen zur "Mannschaft des Jahres" gewählt. Sie persönlich wurden mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet, zuletzt hat sie die renommierte französische Sportzeitung L´Equipe als "Manager des Jahres" geehrt. Und das, obwohl Sie keinen Titel gewonnen haben. Ist dies für Sie kein Widerspruch?

Löw: Diese Ehrungen nehme ich nur stellvertretend für Mannschaft, Trainer, Betreuer und Fans entgegen. Wir haben zwar keinen Titel gewonnen, aber das Auftreten der Mannschaft war insgesamt enorm positiv. Die Mannschaft hat es geschafft, die Fans mit einer attraktiven Spielweise zu überzeugen. Ein wichtiger Punkt war außerdem das Auftreten außerhalb des Platzes. Die Mannschaft hat sehr viel Teamgeist, sehr viel Ehrgeiz und sehr viel Disziplin gezeigt. Außerdem hat sie Integration auf die beste Art und Weise gelebt. Das gesamte Verhalten unserer multikulturellen Mannschaft war vorbildlich. Es war aber nichts, was wir dem Team von Außen so auferlegt hätten, dieses Verhalten war nicht Teil einer Kampagne oder einer Marketing-Strategie. Die Mannschaft hat sich einfach nur gegeben, wie sie ist. Und damit die Herzen gewonnen.

DFB.de: Also war 2010 auch ohne den Weltmeistertitel ein sehr erfolgreiches Jahr?

Löw: Natürlich wären wir gerne Weltmeister geworden. Mir ist es aber auch wichtig, dass wir mit unserem Fußball Emotionen wecken. Das haben wir geschafft. Fans auf der ganzen Welt haben sich für unser Spiel begeistert. Bei vergangenen Turnieren hat man immer gesagt: "Die Deutschen, die kämpfen sich so durchs Turnier und kommen immer relativ weit." Wir wurden dafür respektiert, aber nicht geliebt. Das hat sich geändert.

DFB.de: Ist Ihnen eine offensive, attraktive Spielweise sogar wichtiger als der Gewinn eines Titels?

Löw: Ich bin davon überzeugt, dass das eine nicht ohne das andere geht. Wenn man ein großes Turnier gewinnen will, muss ich eine Mannschaft haben, die agiert und deren Spielweise damit offensiv ausgerichtet ist. Der Fußball hat sich da in den vergangenen Jahren noch einmal entwickelt. Was ich auf keinen Fall will, sind Titel mit einem Fußball, der niemandem gefällt und völlig destruktiv ist. Das ist nicht meine Vorstellung vom Fußball, und das ist auch nicht mehr zeitgemäß. Ich bin davon überzeugt, dass man mit so einer Spielweise heute keinen Erfolg mehr hätte.

DFB.de: Die Italiener sind 2006 Weltmeister geworden, ohne dass Fußballromantiker über deren Spielweise in Verzückung geraten wären...

Löw: Die Italiener hatten bei der WM in Deutschland eine Mannschaft mit großer Erfahrung, mit viel Potenzial in der Defensive. Sie waren routiniert und reif. Sicher hat ihnen aber Esprit gefehlt. Mein Weg sieht anders aus. Ich strebe beides an: Titel und Begeisterung. Unter diesem Aspekt treffe ich meine Entscheidungen, unter diesem Aspekt stelle ich meinen Kader zusammen.

DFB.de: Die Spieler, die Sie ins Nationalteam holen, sind alle gute Fußballer. Welche Fähigkeiten muss ein Spieler neben den fußballerischen haben, damit er von Ihnen nominiert werden kann?

Löw: Im Vorfeld einer Nominierung gibt es immer viele Diskussionen, viele Sympathien für einzelne Spieler, von Seiten der Medien, aus den Vereinen. Das muss man einordnen und auch die Kritik aushalten können. Meine Idee ist es, die 20 Spieler zu nominieren, die am besten zusammenpassen und die am besten die Aufgaben in unserem System erfüllen. Das müssen also nicht zwingend die besten 20 Spieler sein. Für mich ist entscheidend, dass ich mit den Spielern unsere persönlichen Vorstellungen vom Fußball umsetzen kann. In dieser Vorgehensweise lasse ich mich auch von niemandem beeinflussen. Ich habe da klare Vorstellungen, ein klares Bild, ich gehe meinen Weg.

DFB.de: Gibt es Entscheidungen, die Sie während der WM getroffen haben, die Sie im Rückblick bereuen: Würden Sie beispielsweise heute andere Worte an die Mannschaft richten, wenn Sie die Chance bekämen, die Ansprache vor dem Halbfinale gegen Spanien zu wiederholen? Oder würden Sie andere personelle oder taktische Entscheidungen treffen?

Löw: Nein. Meine Ansprachen sind ja nicht lange vorbereitet, die kommen spontan aus dem Inneren und unmittelbar vor dem Spiel aus einem emotionalen Zustand heraus. Und auch personell oder taktisch würde ich nichts anders machen. Denn in den Momenten, als die Entscheidungen vor einem Spiel gefällt worden sind, waren sie ja wohlüberlegt und aufgrund vieler Eindrücke begründet. Ich habe gelernt, zu den Entscheidungen, die ich getroffen habe, auch zu stehen. Und wenn man sich die Ergebnisse und Analysen anschaut, sieht man, dass wir so viel nicht falsch gemacht haben können. Bei vielen Parametern sind wir inzwischen ganz vorne dabei. Die Dinge, an denen wir intensiv mit der Mannschaft gearbeitet haben, haben alle funktioniert.

DFB.de: Umschalten, Ballkontaktzeiten, Laufwege, Zweikampfwerte - all das wird mittlerweile statistisch erfasst. Wo steht Deutschland da im internationalen Vergleich?

Löw: Es gab nach der WM mehrere Analysen, die uns in unserer Arbeit bestätigen und belegen, dass wir auf einem guten Weg sind. In Südafrika waren wir die Mannschaft mit den wenigsten Fouls. Wir haben die meisten Zweikämpfe gewonnen. Wir waren das Team, das nach dem Ballgewinn am schnellsten zum Abschluss kam. Auch was die Ballkontaktzeiten betraf, war unser Spiel auf höchstem Niveau. Im Jahr 2005 haben wir damit begonnen zu erfassen, wie lange die einzelnen Spieler zwischen Ballannahme und Abspiel benötigen. Da waren die Messungen bei 2,8 Sekunden. Man hat also relativ lange gebraucht, bis der Ball von einem Spieler zum anderen Spieler gepasst worden ist. Das Spiel war langsam, in die Breite angelegt und mit viel Zeitverlust verbunden. 2008 waren es bei der EM 1,8 Sekunden, in Südafrika lag unser Schnitt bei 1,1 Sekunden. Nur Spanien hatte noch einen besseren Wert. Auch in der Gesamtlaufleistung waren wir mit durchschnittlich 12,8 Kilometern mit Spanien und Uruguay absolut in der Spitze.

DFB.de: Topwerte also in vielen Bereichen - warum hat es gegen Spanien dennoch nicht zum Sieg gereicht?

Löw: Unser Spiel war in der Offensive nicht das, was wir uns vorgenommen hatten. Defensiv war es gut, wir waren in der Lage, kaum eine Chance zuzulassen - die Spanier haben das Siegtor aus einer Standardsituation gemacht. Wir haben es aber versäumt, sie in der Offensive unter Druck zu setzen. Sie haben uns mit ihrer Pass- und Ballsicherheit den Nerv gezogen. Wir hatten nicht den Mut, uns bei Ballgewinnen selber schnell zu lösen und auch mal ein Risiko einzugehen. Wir waren froh, dass wir den Ball hatten, haben dann zu langsam und zu umständlich gespielt. Wir konnten sie nicht überraschen, und deshalb haben wir gegen die stets gut postierten Spanier kaum eine Chance bekommen.

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DFB.de: Wenn Sie auf das Jahr zurückblicken und einen Nationalspieler des Jahres benennen müssten: Wer wäre das?

Löw: Es würde den anderen nicht gerecht werden, wenn ich einen einzelnen Spieler nennen würde. Wir haben als Mannschaft insgesamt überzeugt. Einige Spieler haben ihre Aufgabe im Kreise der Mannschaft bravourös erfüllt, obwohl sie nicht permanent gespielt haben. Viele Spieler waren überragend, einen einzelnen unter ihnen werde ich aber nicht gesondert hervorheben.

DFB.de: Können Sie dafür ein Spiel des Jahres nennen?

Löw: Ich glaube, das Spiel gegen Argentinien war das beste. Argentinien ist eine Mannschaft, die mit Weltklassespielern bestückt ist. Und dennoch haben wir diesen Gegner über 90 Minuten dominiert. Argentinien war für mich einer der Topfavoriten auf den Titel. Diese Mannschaft mit 4:0 zu deklassieren, das war schon absolut top.