Vor 40 Jahren: Der erste Triumph von Rom

Mit dem Olympiastadion Rom verbindet die Nationalmannschaft sehr gute Erinnerungen: 1990 wurde die von Franz Beckenbauer trainierte Mannschaft dort Weltmeister. Zehn Jahre zuvor sicherte sich die Auswahl von Jupp Derwall an selber Stelle den Europameistertitel. Der "erste Triumph von Rom" jährt sich heute zum 40. Mal. Für DFB.de blickt Udo Muras auf das Turnier in Italien zurück.

Am 21. Juni 1977 traf das Exekutivkomitee der UEFA eine folgenschwere Entscheidung, der der Fußball viel zu verdanken hat. Die Europameisterschaft wurde attraktiver, denn die Endrunde sollte nicht länger nur von vier Mannschaften im K.o.-System ausgetragen werden. Konkret wurde beschlossen, dass an der Endrunde im Juni 1980 acht Mannschaften teilnehmen sollten, die in zwei Vierer-Gruppen die Finalisten ermitteln sollten. Dafür gab es keine Halbfinals mehr, womit die bisherigen Endrunden gleich angefangen hatten. Weil es also mehr zu organisieren gab, erschien es sinnvoll, den Gastgeber schon weit früher als bisher festzulegen und ihm auch die Qualifikation zu ersparen.

Italien sticht Deutschland aus

Sechs Länder bewarben sich darum, drei kamen in die engere Auswahl: Italien, die Schweiz und Deutschland. UEFA-Präsident Franchi sagte, für eine solche Veranstaltung käme nur "eine große Fußballnation" in Frage, womit die Schweiz klammheimlich abserviert worden war. Und gegen Deutschland sprach, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine WM (1974) bekommen hatte. Und so ging die Europameisterschaft in das Land, aus dem der UEFA-Präsident stammte. Das hatte zwar einen kleinen Beigeschmack, doch mehr sprach vorläufig nicht gegen Italien – was sich ändern sollte, als es schon zu spät war. Auch dass die Italiener bereits zum zweiten Mal (nach 1968) Gastgeber waren, war kein Hindernis.

Das Turnier versprach ja attraktiv zu werden, denn als am 16. Januar 1980 in Rom die Lose gezogen wurden, waren alle großen Namen in der Trommel. Alle bisherigen Weltmeister des Kontinents (Italien, Deutschland, England), der zweimalige Vizeweltmeister Niederlande, Ex-Europameister Spanien und Titelverteidiger Tschechoslowakei, der nicht automatisch qualifiziert war, hatten es geschafft. Als Exoten ohne besondere Ambitionen wurden Belgien und Griechenland, ein absoluter Neuling bei internationalen Turnieren, zur Kenntnis genommen. Teilweise mit Spott, weshalb die Griechen mit Philosophie zurückschlugen. Trainer Aketas Panagoulias: "Jeder Mensch bekommt in seinem Leben eine bestimmte Anzahl Gelegenheiten, es kommt nur darauf an, sie zu nutzen."

England nach zehn Jahren wieder dabei

Die Engländer mussten zehn Jahre auf die Gelegenheit warten, wieder zu einem Turnier zu fahren. So glorreich ihre Klubs in den Siebzigern international agierten, so schlecht war die Nationalmannschaft. Doch unter Trainer Ron Greenwood war sie auferstanden, hatte sieben von acht Qualifikationsspielen gewonnen und natürliche große Ziele. Von 1977 bis 1980 war der Europacup der Landesmeister stets auf die britische Insel gegangen, nun sollte auch der Silberpokal, der nach Henry Delaunay benannt wurde, in eine englische Vitrine. Greenwood versprach zumindest Spektakel: "So lange ich Teamchef bin, wird unsere Nationalelf offensiven Fußball auf breiter Front spielen."

Das hatte man den Niederländern seit Anfang der Siebziger nachsagen dürfen und auch ohne den in die Jahre gekommenen Johan Cruyff, dessen Comebackangebot Trainer Zwartkruis dankend ablehnte, marschierte "Oranje" nach Italien. Aber im letzten Moment wären die Holländer fast gescheitert – an der DDR. Die erlebte am 21. November 1979 im Leipziger Zentralstadion eine kleine Tragödie im entscheidenden Spiel. Beide Teams lagen punktgleich vorne, das Torverhältnis sprach für die Gäste. Die DDR musste also gewinnen und wusste 100.000 Anhänger auf den Rängen hinter sich. Nach 33 Minuten hieß es nach Treffern von Rüdiger Schnuphase und Joachim Streich 2:0, die Sensation lag in der Luft.

Dann gerieten Konrad Weise und La Ling aneinander und beide flogen vom Platz. Mit dem Pausenpfiff verkürzten die Gäste und die DDR-Spieler bekamen Angst vor der eigenen Courage. "Leute, besinnt euch. Noch führt ihr. Die Niederländer wanken schon", flehte Trainer Georg Buschner in der Kabine, das Unheil wohl schon ahnend. Es kam mit tödlicher Präzision. Die Holländer wirbelten nun wie man es von ihnen kannte und aus der Vielzahl von Chancen entsprangen noch zwei Tore von Kist und René van de Kerkhof. Nie war die DDR näher an einer EM-Teilnahme dran als an jenem November-Tag anno 1979. Somit war Ost-Europa, bis dato sehr erfolgreich bei den EM-Turnieren, nur mit einer Mannschaft vertreten – den Tschechen.

DFB-Team mit blauen Augen nach Italien

Sechs Europameister von 1976 standen noch im Team und einige von ihnen waren besonders motiviert. Wer die 30 überschritten hatte, durfte in ein westliches Land wechseln, sofern die Tschechen unter die ersten Vier kämen, verhieß der Verband. Sonderprämien in Zeiten des Kalten Krieges, als es in Europa noch einen Eisernen Vorhang gab. So marschierten die Tschechen, die die WM in Argentinien verpasst hatten, durch ihre Qualifikations-Gruppe und gewannen fünf von sechs Spielen.

Nicht ganz so souverän lösten die Spanier ihr Ticket, nach dem 1:0-Heimsieg gegen Rumänien hagelte es in Valencia sogar Orangen auf die Sieger. Letztlich rettete sich der Europameister von 1964 nach einem 3:1 auf Zypern mit einem Punkt vor den Jugoslawen ins Ziel. Neben England blieben noch zwei Teams ungeschlagen. Deutschland und – Belgien. Die Belgier kamen in ihrer Gruppe mit Österreich, Portugal und Schottland für alles in Frage, nur nicht für den Sieg. Doch nachdem sie zunächst vier Unentschieden aneinandergereiht hatten, schalteten sie einen Gang höher und kamen noch zu vier Siegen. Europa staunte.

Derwall leitet Umbruch ein

Weniger über Deutschland, das zwar auch ungeschlagen durch die Mühen der Vorausscheidung ging. Aber nicht ohne blaue Augen. Bundestrainer Jupp Derwall war nach der WM-Enttäuschung 1978, nach der nur sieben Nationalspieler im Kader blieben, zum Umbruch gezwungen. Der forderte seinen Tribut. Im Frühjahr 1979 enttäuschte die Elf die Nation mit Nullnummern auf Malta und in der Türkei.

Auf Schlüsselpositionen herrschte lange Unklarheit: nach Sepp Maiers Autounfall im Juli 1979 testete Derwall drei Torhüter und erst der Letzte, Toni Schumacher vom 1. FC Köln, machte das Rennen. Mit der "Erfahrung" von drei Länderspielen flog er als neue Nummer eins nach Italien. Der Abwehrchef wurde lange gesucht, auch weil Topkandidat Ulli Stielike bei Real Madrid spielte und es keine Verpflichtung zur Freigabe gab. Bis zuletzt hielt Derwall deshalb am Kölner Bernd Cullmann fest, neben Rainer Bonhof der letzte Verbliebene aus dem Weltmeister-Kader von 1974.

Aus der Not eine Tugend gemacht

Rund lief es immer noch nicht und nach dem vorentscheidenden Spiel gegen die Türkei (2:0 in Gelsenkirchen) gab es wieder Pfiffe. Der kicker analysierte: "Weder bei Eckbällen, noch bei Freistößen oder Einwürfen war auch nur einmal eine überraschende Idee zu spüren." Derwall stellte ernüchtert fest: "Wir sind die Favoritenrolle für die EM losgeworden." Doch im Frühjahr 1980 änderte sich einiges zum Guten. Aus der Not, die durch den Beinbruch von Schalkes Mittelstürmer Klaus Fischer noch größer zu werden schien, machte Derwall eine Tugend.

Die Bundesliga produzierte 1979/1980 Talente am Fließband. Viele von Derwalls Fixsternen waren unter 25: Vorstopper Karl-Heinz Förster (21), Mittelfeldrackerer Hans-Peter Briegel (24), die Spielmacher Bernd Schuster (20) und Hansi Müller (22) sowie die Stürmer Klaus Allofs (23) und Karl-Heinz Rummenigge (24) waren allesamt noch titelhungrig. Geführt wurden sie von den Leitwölfen Bernard Dietz und Ulli Stielike.

Selten soll die Kameradschaft in der Nationalelf besser gewesen sein als in jenen Monaten vor und bei der EM 1980 und das war auch auf dem Platz zu sehen. Nach dem 3:1 im letzten EM-Test über die Polen im Mai attestierte der kicker auf Seite eins: "Unsere Nationalelf ist für die EM gerüstet." In einer Umfrage unter den acht EM-Trainern tippten immerhin zwei auf den Europameister Deutschland. Einen Topfavoriten gab es nicht.

Italien nach Wettskandal geschwächt

Der automatische Reflex, auf den Gastgeber zu setzen, blieb 1980 jedenfalls weitgehend aus. Denn Italien war in den Strudel eines Wettskandals geraten, betroffen waren etliche Nationalspieler – darunter Paolo Rossi, der für drei Jahre gesperrt und kurz vor der WM 1982 begnadigt wurde. Im März 1980 aber kannte der Verband keine Gnade, schließlich wurden sechs Nationalspieler von der Polizei verhaftet. Trainer Enzo Bearzot war gezwungen, in Windeseile einen neuen Kader zusammen zu stellen. Da die Härte des Gesetzes vor allem Mailänder Spieler traf und die ebenfalls teilweise in den Skandal verstrickten kicker von Meister Juventus Turin davon kamen, öffnete das die Gräben zwischen Nord und Süd noch ein Stück weiter. Auf ungeteilte Liebe würde die Squadra Azzurra nicht in allen Stadien treffeh. Das war klar und so sollte es auch kommen.

Noch eine Sorge trieb die Gastgeber vor dem Eröffnungsspiel am 11. Juni: englische Hooligans hatten ihr Kommen angekündigt. Wozu sie imstande waren, hatten sie zur Genüge im Europapokal bewiesen. Die Sorgen der Deutschen waren da kleiner und ganz anderer Art. Als der Tross am 9. Juni mit der Lufthansa-Maschine 292 von Frankfurt gen Rom aufbrach, gab es bereits einen ersten Ausfall: Weltmeister Rainer Bonhof musste wegen seiner Achillessehnenverletzung absagen. Und als der Kölner Herbert Zimmermann am Morgen des Eröffnungsspiels gegen die Tschechen aufstand, musste er sich gleich wieder hinlegen – der Ischiasnerv meldete sich. Auch er fiel für die EM aus, Derwall blieben nur noch 20 Spieler.

Aber von Frust keine Spur im Hotel Holiday Inn zu Rom. Auch hier starteten Reporter eine Umfrage: alle Spieler erwarteten die Final-Teilnahme und immerhin zehn den Titel. DFB-Präsident Hermann Neuberger sprach nicht von Titeln, sondern vom Image. "Nach der blamablen WM ist es unsere verdammte Pflicht, in der EM unseren Ruf wieder aufzupolieren."

Müder Kick im Eröffnungsspiel

Das Eröffnungsspiel war dazu freilich nicht geeignet. Gleich zum Auftakt der Gruppe 1, in der sich auch Erzrivale Niederlande und die Griechen befanden, kam es zur Revanche von Belgrad. Das Finale von 1976 war die Eröffnung von 1980 und diesmal boten Deutschen und Tschechen kein Drama, sondern "ein Trauerspiel vor dürftiger Kulisse" (Süddeutsche Zeitung). Die Angst, das erste Spiel lähmte wie so oft die Beine der Akteure. Zum Glück war der Stuttgarter Hansi Müller in der 55. Minute dennoch zu einem exakten Pass auf Karl-Heinz Rummenigge von Meister Bayern München in der Lage. Vor dem zögerlichen Torwart Netolicka kam der "Kalle", der gerade erstmals Torschützenkönig der Bundesliga geworden war, mit dem Kopf an den Ball. Tor, 1:0 – Sieg.

Und doch waren diese 90 Minuten ein einziges Plädoyer für die Abschaffung von Eröffnungsspielen, zumal wenn sie keiner sehen will. Im Olympiastadion zu Rom fanden 96.000 Menschen Platz, aber nur 10.500 kamen – ein Vorbote für das erneute Zuschauerdesaster. Frankreichs Sportblatt L’Equipe mäkelte: "Dieses Eröffnungsspiel war eines der unerträglichsten und zähesten aller Spiele dieser Art, von denen man seit fast zwanzig Jahren weiß, dass sie todlangweilig sind."

"Man muss doch reden mit den Leuten"

Nicht besser machten es Niederländer und Griechen am Abend in Neapel. Erst ein geschenkter Elfmeter ließ die Niederländer jubeln (1:0), es sollte nicht der einzige bleiben. Italia 1980 sollte auch als Turnier der falschen Elfmeter in die Annalen eingehen. Als der tschechische Schiedsrichter Prokop abpfiff, war niemand zufrieden. Die Griechen sprachen offen von Betrug und die Niederländer spürten, dass sie keine große Mannschaft hatten. Der kicker richtete: "Wenn die deutsche Nationalelf am Samstag nach Neapel kommt und auf Holland trifft, dann braucht sie keine Angst vor dieser Mannschaft zu haben."

Doch eine Steigerung tat Not. Das forderte zumindest die Heimat. Jupp Derwall musste nach eigenen Angaben jeden Tag rund 50 Fans am Telefon besänftigen, die die Rezeption auf sein Zimmer durchstellte. Eine TV-Zeitschrift hatte die Telefonnummer veröffentlicht und der joviale Derwall stellte sich den vielen heimlichen Bundestrainern. "Man muss doch reden mit den Leuten". Andere Zeiten.

Die Sternstunde des Klaus Allofs

Zeitlos dagegen die oft schonungslose Kritik in den Boulevardblättern. "Drei müssen fliegen, damit wir siegen!", forderte die Bild-Zeitung. Derwall war nicht ganz dieser Meinung. Zwar nahm er Bernd Cullmann und Bernd Förster tatsächlich aus der Sieger-Elf, um sie gegen Bernd Schuster und Horst Hrubesch einzutauschen. Den Düsseldorfer Klaus Allofs aber ließ er im Team. Es war eine seiner besten Entscheidungen, denn Allofs erlebte am 14. Juni 1980 seine größte Sternstunde im DFB-Dress.

Belebt vom 20 Jahre alten Kölner Schuster, war das deutsche Mittelfeld weit kreativer als in Rom. "Endlich mal Offensivfußball, wie er den Zuschauern in Neapel und vor allem daheim an den Fernsehern Spaß machte", lobte der kicker nun. Nach 20 Minuten wurde die deutsche Überlegenheit belohnt: nach Schusters Pfostenschuss staubte Allofs ab zum 1:0. Zehn starke Minuten der Niederländer, bei denen ein gewisser Huub Stevens zu den Besten gehörte, galt es zu überstehen. Mit 1:0 ging es in die Pause.

Ehrgeiziger Matthäus sorgte für Spannung

Dann suchte die Derwall-Auswahl die Entscheidung: Hansi Müller bediente mit einem Rückpass Allofs – 2:0 (60.). Der eingewechselte Felix Magath prüfte mit seiner ersten Aktion Piit Schrijvers im Tor der Niederländer, wo es nach 66 Minuten schon wieder einschlug: wieder war Schuster der Vorbereiter, wieder traf Allofs – 3:0. Im Gefühl des sicheren Sieges verhalf Derwall dem 19 Jahre alten Lothar Matthäus zu seinem Länderspieldebüt. Der ehrgeizige Mönchengladbacher sorgte noch mal für Spannung. Sein Foul an Johnny Rep war zwar deutlich außerhalb des Strafraums, aber der Franzose Robert Wurtz zeigte zur Mitte. Rep schoss selbst – 3:1 (80.).

Nervosität machte sich breit in der unerfahrenen Elf, in der sieben Spieler ihr erstes Turnier spielten. Willy van de Kerkhof gelang noch das 3:2 (86.), doch dabei blieb es. Das war schon die halbe Miete für das Finale, nur eine Niederlage gegen die Griechen konnte das noch abwenden – aber auch nur wenn das Parallelspiel einen Sieger hatte. In den Katakomben scharten sich die Reporter um Allofs, der erleichtert zugab: "Das war meine letzte Chance! Hätte ich dieses Mal auch wieder nichts gebracht, wäre ich wohl weggewesen vom Fenster."

Derwall lobte: "Endlich hat der Klaus das begriffen. Endlich hat er den Unterschied zwischen Klub und Nationalelf gepackt und sich richtig verhalten." Sich selbst lobte er nicht, dabei hatte er nun die Elf gefunden, die Europameister werden sollte: mit Ulli Stielike als Abwehrchef, daneben Manfred Kaltz, Karl-Heinz Förster und Bernard Dietz in der Viererkette, mit Schuster und Rummenigge (!) neben Müller und Hans-Peter Briegel im Mittelfeld, mit Allofs und Hrubesch im Sturm.

0:0 gegen Griechenland reicht fürs Finale

Dass die Elf am 17. Juni gegen die Griechen trotzdem wieder ganz anders aussah, hatte gute Gründe. Denn das Finale war eine Stunde vor Anpfiff in Turin bereits erreicht. Die Tschechen, gegen Griechenland noch 3:1-Sieger, und die Niederländer beraubten sich gegenseitig ihrer letzten Chance (1:1). Da die Spiele trotz schlechter Erfahrungen zum Beispiel bei der WM in Argentinien noch immer nicht zeitgleich stattfanden, standen nun also 90 bedeutungslose Minuten bevor.

Derwall reagierte sofort und nachvollziehbar: er nahm die drei von einer Gelb-Sperre bedrohten Spieler – Bernard Dietz, Bernd Schuster und Klaus Allofs – heraus und gab den Reservisten Cullmann, Bernd Förster und Caspar Memering eine Chance. Als Einwechselspieler kamen auch Mirko Votava und Calle Del’Haye zu ihrer EM-Premiere. Für sie ein besonderer Moment, für alle anderen Beobachter ein Spiel zum Vergessen.

14.000 Zuschauer bereuten ihr Kommen. Tore fielen nicht, die Griechen trafen in der 70. Minute sogar den Pfosten – sonst wären die Deutschen nach einer Blamage ins Finale eingezogen. Beifall bekamen sie auch so nicht, die in Berlin erscheinende Fußball-Woche ließ die Fläche für den Spielbericht frei. Begründung: "Auch wir haben uns die Einstellung der Nationalmannschaft zu eigen gemacht und uns für die Endspiel-Ausgabe geschont." Jupp Derwall hatte für derlei Spott und Kritik nicht viel Verständnis. Auf der Pressekonferenz wurde er ungewohnt fuchtig: "Menschenskinder, ich glaub', ich bin hier auf einer Beerdigung. Meine Herren, wir stehen im Europameisterschaftsendspiel. Wer hätte uns das vor einem Jahr nach unseren 0:0-Spielen gegen Malta und die Türkei schon zugetraut?"

Außenseiter Belgien überrascht die Konkurrenz

Im Finale von Rom wartete überraschend Außenseiter Belgien. Wie das? Waren die Spiele in Gruppe 1 schon nicht sonderlich erbauend, so regierte in Gruppe 2 der Minimalismus. Eigentlich eine Spezialität der Italiener, die wie 1970 in Mexiko die Gruppe mit dem Torverhältnis von 1:0 (einziger Sieg gegen England) überstanden. Was damals reichte, war nun zu wenig. Denn die Belgier konnten auch auf Kommando 0:0 spielen, was sie dank ihrer alle verblüffenden Abseitsfalle im entscheidenden Spiel gegen die Italiener schafften.

Da sie zuvor gegen England (1:1) und Spanien (2:1) auch ins Tor trafen, kamen sie dank der höheren Toranzahl (3:2) nicht sonderlich ruhmreich ins Finale. Italiens Trainer Enzo Bearzot verweigerte Kollege Guy Thys die Gratulation. Und schalt Belgien "eine schmutzige Mannschaft". Damit stand er freilich allein, die Belgier hatten noch die meiste Farbe in diese Gruppe gebracht. Nicht umsonst wurde Stürmer Jan Ceulemans zum zweitbesten Spieler des Turniers gewählt – hinter Bernd Schuster.

Ärger bereiteten sie höchstens ihrem Verband, als sie kurz vor dem Italien-Spiel in Streik traten. Sie forderten und bekamen höhere Prämien für den Turniersieg. Italien dagegen bekam nichts außer Spott und Pfiffen. Die Zerrissenheit des italienischen Fußballs spiegelte die Tatsache wider, dass kein einziges EM-Spiel der Gastgeber ausverkauft war und dass Spieler wie Francesco Graziani bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen wurden.

"Kommt zu uns, Tifosi!"

Der vierte Platz, der ihnen nach einer 9:10-Niederlage im Elfmeterschießen gegen die Tschechen zuteil wurde, war gewiss kein Balsam auf die Seele. Dass hier der kommende Weltmeister spielen würde, ahnte niemand. Die Spanier, Gastgeber der kommenden WM, bereuten es, die EM quasi ohne Spieler von Meister Real Madrid bestritten zu haben. Trainer Kubala und sein Verbandspräsident traten nach drei Spielen ohne Sieg und mit nur einem Punkt zurück.

Und England? Wollte "zumindest unter die letzten Vier" (Greenwood), wurde aber nur Randale-Europameister. Das erste Spiel gegen Belgien (1:1) musste unterbrochen werden, weil das gegen englische Hooligans eingesetzte Tränengas auf dem Platz waberte und Torwart Ray Clemence nichts mehr sehen konnte. Nach 36 Verhaftungen am Vortag nach Schlägereien in der Innenstadt von Turin eskalierte die Lage im Stadion, es gab weitere Verhaftungen. Neun Italiener kamen teils nach Messerattacken ins Krankenhaus. "Ich schäme mich, ein Engländer zu sein", sagte Kevin Keegan und Bobby Charlton fragte erschüttert: "Sind das die Kinder, die wir großgezogen haben?"

Die UEFA belegte den daran unschuldigen englischen Verband mit einer Strafe von 30.000 Schweizer Franken. Auch eine Methode, die Kassen zu füllen. Denn die Stadien waren unerwartet leer geblieben, im Schnitt sahen nur 25.045 Zuschauer in Stadien mit der dreifachen Kapazität die Spiele. Damit das beim Finale am 22. Juni in Rom nicht auch so werde, appellierte Jupp Derwall am Vortag: "Kommt zu uns, Tifosi!".

"Stolperbruder" Hrubesch: Im Kopfballspiel unschlagbar

Es waren dann immerhin 47.860 Zuschauer, die sich um 20.30 Uhr eingefunden hatten. Sie sollten ihr Kommen nicht bereuen, denn das Finale, da waren sich die Beobachter einig, war das beste Spiel des Turniers. Wie es ja auch sein sollte. Deutschland spielte wieder mit der Elf, die die Niederländer geschlagen hatte, obwohl Derwall noch überlegte, Horst Hrubesch draußen zu lassen. Wieder traf er die richtige Entscheidung und ließ den langen Hamburger im Team. Es sollte sein größter Tag als Fußballer werden.

Schon nach zehn Minuten lohnte sich Derwalls Geduld mit dem Hünen, der von sich selbst sagte: "Ich weiß, dass ich neben den anderen oft wie ein Stolperbruder wirke." Seine Stärke war das Kopfballspiel, aber wenn es sein musste, ging es auch mit dem Fuß. Nach zehn Minuten nahm er einen Schuster-Pass mit der Brust an und drosch ihn aus 17 Metern ein – 1:0.

Jean-Marie Pfaff, später Bayern-Torwart, war machtlos. Chancen auf beiden Seiten folgen, die Torhüter haben viel zu tun. Dass es nur mit 1:0 in die Kabinen geht, ist im Grunde unverständlich. Toni Schumacher rannte allen vorweg: "Schnell noch eine - ich gehe kaputt vor Schmerzen." Die Wirkung der Spritze für seine Hand hatte nachgelassen, Professor Heß musste noch mal nachladen. Gleich nach Wiederanpfiff foulte Rene Vandereycken den Pfälzer Hans-Peter Briegel, der alsbald ausgetauscht werden musste gegen Cullmann. Ein Bruch im deutschen Spiel, die Belgier kamen allein zwischen der 58. und 72. Minute zu sechs Chancen. Dann half ihnen der Schiedsrichter: nach Stielikes Foul an Franky van der Elst, eindeutig im Halbkreis am Strafraum, zeigte der Rumäne Reinea auf den Punkt. Schon der zweite unberechtigte Elfmeter gegen die Deutschen – und wieder war Schumacher chancenlos. Vandereycken traf zum 1:1.

"Stellt scharf, jetzt knallt's!"

Sollte es wie 1976 wieder eine Verlängerung geben? Beide Teams wollten das bei der drückenden Hitze verhindern. Dann die 89. Minute. Ecke für Deutschland. Rummenigge holte sich den Ball und rief den Fotografen noch zu: "Stellt scharf, jetzt knallt's!". Wie wahr. Horst Hrubesch rannte dem Ball ein Stück entgegen, stieg am höchsten und köpfte das umjubelte Siegtor. Um 22.20 Uhr stemmte der Duisburger Bernard Dietz als Kapitän dieser Elf den Pokal in die Höhe. Es war der jüngste Europameister aller Zeiten und ein würdiger dazu.

UEFA-Generalsekretär Bangerter sagte: "Die Deutschen haben diese EM gerettet!" Oder war es doch ein Pole? Horst Hrubesch erzählt noch immer gern die Geschichte seines Vatikan-Besuchs vor dem Griechenland-Spiel. Mit den Kollegen Magath und Memering war er auf einer öffentlichen Audienz von Johannes Paul II. Um die Gläubigen zu segnen, spreizte der Papst wie gewöhnlich zwei Finger. "Horst, dass heißt: du machst zwei Dinger", witzelte ein Hamburger Journalist.

Dann kam das 0:0 gegen die Griechen. "Es kann doch nicht sein, dass der Papst auch noch lügt", unkte Hrubesch. Aber nach dem Finale war alles klar. Der Journalist eilte von der Tribüne herunter und rief Hrubesch zu: "Siehste Horst, der Papst lügt doch nicht, er hat das Finale gemeint."

[um]

Mit dem Olympiastadion Rom verbindet die Nationalmannschaft sehr gute Erinnerungen: 1990 wurde die von Franz Beckenbauer trainierte Mannschaft dort Weltmeister. Zehn Jahre zuvor sicherte sich die Auswahl von Jupp Derwall an selber Stelle den Europameistertitel. Der "erste Triumph von Rom" jährt sich heute zum 40. Mal. Für DFB.de blickt Udo Muras auf das Turnier in Italien zurück.

Am 21. Juni 1977 traf das Exekutivkomitee der UEFA eine folgenschwere Entscheidung, der der Fußball viel zu verdanken hat. Die Europameisterschaft wurde attraktiver, denn die Endrunde sollte nicht länger nur von vier Mannschaften im K.o.-System ausgetragen werden. Konkret wurde beschlossen, dass an der Endrunde im Juni 1980 acht Mannschaften teilnehmen sollten, die in zwei Vierer-Gruppen die Finalisten ermitteln sollten. Dafür gab es keine Halbfinals mehr, womit die bisherigen Endrunden gleich angefangen hatten. Weil es also mehr zu organisieren gab, erschien es sinnvoll, den Gastgeber schon weit früher als bisher festzulegen und ihm auch die Qualifikation zu ersparen.

Italien sticht Deutschland aus

Sechs Länder bewarben sich darum, drei kamen in die engere Auswahl: Italien, die Schweiz und Deutschland. UEFA-Präsident Franchi sagte, für eine solche Veranstaltung käme nur "eine große Fußballnation" in Frage, womit die Schweiz klammheimlich abserviert worden war. Und gegen Deutschland sprach, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine WM (1974) bekommen hatte. Und so ging die Europameisterschaft in das Land, aus dem der UEFA-Präsident stammte. Das hatte zwar einen kleinen Beigeschmack, doch mehr sprach vorläufig nicht gegen Italien – was sich ändern sollte, als es schon zu spät war. Auch dass die Italiener bereits zum zweiten Mal (nach 1968) Gastgeber waren, war kein Hindernis.

Das Turnier versprach ja attraktiv zu werden, denn als am 16. Januar 1980 in Rom die Lose gezogen wurden, waren alle großen Namen in der Trommel. Alle bisherigen Weltmeister des Kontinents (Italien, Deutschland, England), der zweimalige Vizeweltmeister Niederlande, Ex-Europameister Spanien und Titelverteidiger Tschechoslowakei, der nicht automatisch qualifiziert war, hatten es geschafft. Als Exoten ohne besondere Ambitionen wurden Belgien und Griechenland, ein absoluter Neuling bei internationalen Turnieren, zur Kenntnis genommen. Teilweise mit Spott, weshalb die Griechen mit Philosophie zurückschlugen. Trainer Aketas Panagoulias: "Jeder Mensch bekommt in seinem Leben eine bestimmte Anzahl Gelegenheiten, es kommt nur darauf an, sie zu nutzen."

England nach zehn Jahren wieder dabei

Die Engländer mussten zehn Jahre auf die Gelegenheit warten, wieder zu einem Turnier zu fahren. So glorreich ihre Klubs in den Siebzigern international agierten, so schlecht war die Nationalmannschaft. Doch unter Trainer Ron Greenwood war sie auferstanden, hatte sieben von acht Qualifikationsspielen gewonnen und natürliche große Ziele. Von 1977 bis 1980 war der Europacup der Landesmeister stets auf die britische Insel gegangen, nun sollte auch der Silberpokal, der nach Henry Delaunay benannt wurde, in eine englische Vitrine. Greenwood versprach zumindest Spektakel: "So lange ich Teamchef bin, wird unsere Nationalelf offensiven Fußball auf breiter Front spielen."

Das hatte man den Niederländern seit Anfang der Siebziger nachsagen dürfen und auch ohne den in die Jahre gekommenen Johan Cruyff, dessen Comebackangebot Trainer Zwartkruis dankend ablehnte, marschierte "Oranje" nach Italien. Aber im letzten Moment wären die Holländer fast gescheitert – an der DDR. Die erlebte am 21. November 1979 im Leipziger Zentralstadion eine kleine Tragödie im entscheidenden Spiel. Beide Teams lagen punktgleich vorne, das Torverhältnis sprach für die Gäste. Die DDR musste also gewinnen und wusste 100.000 Anhänger auf den Rängen hinter sich. Nach 33 Minuten hieß es nach Treffern von Rüdiger Schnuphase und Joachim Streich 2:0, die Sensation lag in der Luft.

Dann gerieten Konrad Weise und La Ling aneinander und beide flogen vom Platz. Mit dem Pausenpfiff verkürzten die Gäste und die DDR-Spieler bekamen Angst vor der eigenen Courage. "Leute, besinnt euch. Noch führt ihr. Die Niederländer wanken schon", flehte Trainer Georg Buschner in der Kabine, das Unheil wohl schon ahnend. Es kam mit tödlicher Präzision. Die Holländer wirbelten nun wie man es von ihnen kannte und aus der Vielzahl von Chancen entsprangen noch zwei Tore von Kist und René van de Kerkhof. Nie war die DDR näher an einer EM-Teilnahme dran als an jenem November-Tag anno 1979. Somit war Ost-Europa, bis dato sehr erfolgreich bei den EM-Turnieren, nur mit einer Mannschaft vertreten – den Tschechen.

DFB-Team mit blauen Augen nach Italien

Sechs Europameister von 1976 standen noch im Team und einige von ihnen waren besonders motiviert. Wer die 30 überschritten hatte, durfte in ein westliches Land wechseln, sofern die Tschechen unter die ersten Vier kämen, verhieß der Verband. Sonderprämien in Zeiten des Kalten Krieges, als es in Europa noch einen Eisernen Vorhang gab. So marschierten die Tschechen, die die WM in Argentinien verpasst hatten, durch ihre Qualifikations-Gruppe und gewannen fünf von sechs Spielen.

Nicht ganz so souverän lösten die Spanier ihr Ticket, nach dem 1:0-Heimsieg gegen Rumänien hagelte es in Valencia sogar Orangen auf die Sieger. Letztlich rettete sich der Europameister von 1964 nach einem 3:1 auf Zypern mit einem Punkt vor den Jugoslawen ins Ziel. Neben England blieben noch zwei Teams ungeschlagen. Deutschland und – Belgien. Die Belgier kamen in ihrer Gruppe mit Österreich, Portugal und Schottland für alles in Frage, nur nicht für den Sieg. Doch nachdem sie zunächst vier Unentschieden aneinandergereiht hatten, schalteten sie einen Gang höher und kamen noch zu vier Siegen. Europa staunte.

Derwall leitet Umbruch ein

Weniger über Deutschland, das zwar auch ungeschlagen durch die Mühen der Vorausscheidung ging. Aber nicht ohne blaue Augen. Bundestrainer Jupp Derwall war nach der WM-Enttäuschung 1978, nach der nur sieben Nationalspieler im Kader blieben, zum Umbruch gezwungen. Der forderte seinen Tribut. Im Frühjahr 1979 enttäuschte die Elf die Nation mit Nullnummern auf Malta und in der Türkei.

Auf Schlüsselpositionen herrschte lange Unklarheit: nach Sepp Maiers Autounfall im Juli 1979 testete Derwall drei Torhüter und erst der Letzte, Toni Schumacher vom 1. FC Köln, machte das Rennen. Mit der "Erfahrung" von drei Länderspielen flog er als neue Nummer eins nach Italien. Der Abwehrchef wurde lange gesucht, auch weil Topkandidat Ulli Stielike bei Real Madrid spielte und es keine Verpflichtung zur Freigabe gab. Bis zuletzt hielt Derwall deshalb am Kölner Bernd Cullmann fest, neben Rainer Bonhof der letzte Verbliebene aus dem Weltmeister-Kader von 1974.

Aus der Not eine Tugend gemacht

Rund lief es immer noch nicht und nach dem vorentscheidenden Spiel gegen die Türkei (2:0 in Gelsenkirchen) gab es wieder Pfiffe. Der kicker analysierte: "Weder bei Eckbällen, noch bei Freistößen oder Einwürfen war auch nur einmal eine überraschende Idee zu spüren." Derwall stellte ernüchtert fest: "Wir sind die Favoritenrolle für die EM losgeworden." Doch im Frühjahr 1980 änderte sich einiges zum Guten. Aus der Not, die durch den Beinbruch von Schalkes Mittelstürmer Klaus Fischer noch größer zu werden schien, machte Derwall eine Tugend.

Die Bundesliga produzierte 1979/1980 Talente am Fließband. Viele von Derwalls Fixsternen waren unter 25: Vorstopper Karl-Heinz Förster (21), Mittelfeldrackerer Hans-Peter Briegel (24), die Spielmacher Bernd Schuster (20) und Hansi Müller (22) sowie die Stürmer Klaus Allofs (23) und Karl-Heinz Rummenigge (24) waren allesamt noch titelhungrig. Geführt wurden sie von den Leitwölfen Bernard Dietz und Ulli Stielike.

Selten soll die Kameradschaft in der Nationalelf besser gewesen sein als in jenen Monaten vor und bei der EM 1980 und das war auch auf dem Platz zu sehen. Nach dem 3:1 im letzten EM-Test über die Polen im Mai attestierte der kicker auf Seite eins: "Unsere Nationalelf ist für die EM gerüstet." In einer Umfrage unter den acht EM-Trainern tippten immerhin zwei auf den Europameister Deutschland. Einen Topfavoriten gab es nicht.

Italien nach Wettskandal geschwächt

Der automatische Reflex, auf den Gastgeber zu setzen, blieb 1980 jedenfalls weitgehend aus. Denn Italien war in den Strudel eines Wettskandals geraten, betroffen waren etliche Nationalspieler – darunter Paolo Rossi, der für drei Jahre gesperrt und kurz vor der WM 1982 begnadigt wurde. Im März 1980 aber kannte der Verband keine Gnade, schließlich wurden sechs Nationalspieler von der Polizei verhaftet. Trainer Enzo Bearzot war gezwungen, in Windeseile einen neuen Kader zusammen zu stellen. Da die Härte des Gesetzes vor allem Mailänder Spieler traf und die ebenfalls teilweise in den Skandal verstrickten kicker von Meister Juventus Turin davon kamen, öffnete das die Gräben zwischen Nord und Süd noch ein Stück weiter. Auf ungeteilte Liebe würde die Squadra Azzurra nicht in allen Stadien treffeh. Das war klar und so sollte es auch kommen.

Noch eine Sorge trieb die Gastgeber vor dem Eröffnungsspiel am 11. Juni: englische Hooligans hatten ihr Kommen angekündigt. Wozu sie imstande waren, hatten sie zur Genüge im Europapokal bewiesen. Die Sorgen der Deutschen waren da kleiner und ganz anderer Art. Als der Tross am 9. Juni mit der Lufthansa-Maschine 292 von Frankfurt gen Rom aufbrach, gab es bereits einen ersten Ausfall: Weltmeister Rainer Bonhof musste wegen seiner Achillessehnenverletzung absagen. Und als der Kölner Herbert Zimmermann am Morgen des Eröffnungsspiels gegen die Tschechen aufstand, musste er sich gleich wieder hinlegen – der Ischiasnerv meldete sich. Auch er fiel für die EM aus, Derwall blieben nur noch 20 Spieler.

Aber von Frust keine Spur im Hotel Holiday Inn zu Rom. Auch hier starteten Reporter eine Umfrage: alle Spieler erwarteten die Final-Teilnahme und immerhin zehn den Titel. DFB-Präsident Hermann Neuberger sprach nicht von Titeln, sondern vom Image. "Nach der blamablen WM ist es unsere verdammte Pflicht, in der EM unseren Ruf wieder aufzupolieren."

Müder Kick im Eröffnungsspiel

Das Eröffnungsspiel war dazu freilich nicht geeignet. Gleich zum Auftakt der Gruppe 1, in der sich auch Erzrivale Niederlande und die Griechen befanden, kam es zur Revanche von Belgrad. Das Finale von 1976 war die Eröffnung von 1980 und diesmal boten Deutschen und Tschechen kein Drama, sondern "ein Trauerspiel vor dürftiger Kulisse" (Süddeutsche Zeitung). Die Angst, das erste Spiel lähmte wie so oft die Beine der Akteure. Zum Glück war der Stuttgarter Hansi Müller in der 55. Minute dennoch zu einem exakten Pass auf Karl-Heinz Rummenigge von Meister Bayern München in der Lage. Vor dem zögerlichen Torwart Netolicka kam der "Kalle", der gerade erstmals Torschützenkönig der Bundesliga geworden war, mit dem Kopf an den Ball. Tor, 1:0 – Sieg.

Und doch waren diese 90 Minuten ein einziges Plädoyer für die Abschaffung von Eröffnungsspielen, zumal wenn sie keiner sehen will. Im Olympiastadion zu Rom fanden 96.000 Menschen Platz, aber nur 10.500 kamen – ein Vorbote für das erneute Zuschauerdesaster. Frankreichs Sportblatt L’Equipe mäkelte: "Dieses Eröffnungsspiel war eines der unerträglichsten und zähesten aller Spiele dieser Art, von denen man seit fast zwanzig Jahren weiß, dass sie todlangweilig sind."

"Man muss doch reden mit den Leuten"

Nicht besser machten es Niederländer und Griechen am Abend in Neapel. Erst ein geschenkter Elfmeter ließ die Niederländer jubeln (1:0), es sollte nicht der einzige bleiben. Italia 1980 sollte auch als Turnier der falschen Elfmeter in die Annalen eingehen. Als der tschechische Schiedsrichter Prokop abpfiff, war niemand zufrieden. Die Griechen sprachen offen von Betrug und die Niederländer spürten, dass sie keine große Mannschaft hatten. Der kicker richtete: "Wenn die deutsche Nationalelf am Samstag nach Neapel kommt und auf Holland trifft, dann braucht sie keine Angst vor dieser Mannschaft zu haben."

Doch eine Steigerung tat Not. Das forderte zumindest die Heimat. Jupp Derwall musste nach eigenen Angaben jeden Tag rund 50 Fans am Telefon besänftigen, die die Rezeption auf sein Zimmer durchstellte. Eine TV-Zeitschrift hatte die Telefonnummer veröffentlicht und der joviale Derwall stellte sich den vielen heimlichen Bundestrainern. "Man muss doch reden mit den Leuten". Andere Zeiten.

Die Sternstunde des Klaus Allofs

Zeitlos dagegen die oft schonungslose Kritik in den Boulevardblättern. "Drei müssen fliegen, damit wir siegen!", forderte die Bild-Zeitung. Derwall war nicht ganz dieser Meinung. Zwar nahm er Bernd Cullmann und Bernd Förster tatsächlich aus der Sieger-Elf, um sie gegen Bernd Schuster und Horst Hrubesch einzutauschen. Den Düsseldorfer Klaus Allofs aber ließ er im Team. Es war eine seiner besten Entscheidungen, denn Allofs erlebte am 14. Juni 1980 seine größte Sternstunde im DFB-Dress.

Belebt vom 20 Jahre alten Kölner Schuster, war das deutsche Mittelfeld weit kreativer als in Rom. "Endlich mal Offensivfußball, wie er den Zuschauern in Neapel und vor allem daheim an den Fernsehern Spaß machte", lobte der kicker nun. Nach 20 Minuten wurde die deutsche Überlegenheit belohnt: nach Schusters Pfostenschuss staubte Allofs ab zum 1:0. Zehn starke Minuten der Niederländer, bei denen ein gewisser Huub Stevens zu den Besten gehörte, galt es zu überstehen. Mit 1:0 ging es in die Pause.

Ehrgeiziger Matthäus sorgte für Spannung

Dann suchte die Derwall-Auswahl die Entscheidung: Hansi Müller bediente mit einem Rückpass Allofs – 2:0 (60.). Der eingewechselte Felix Magath prüfte mit seiner ersten Aktion Piit Schrijvers im Tor der Niederländer, wo es nach 66 Minuten schon wieder einschlug: wieder war Schuster der Vorbereiter, wieder traf Allofs – 3:0. Im Gefühl des sicheren Sieges verhalf Derwall dem 19 Jahre alten Lothar Matthäus zu seinem Länderspieldebüt. Der ehrgeizige Mönchengladbacher sorgte noch mal für Spannung. Sein Foul an Johnny Rep war zwar deutlich außerhalb des Strafraums, aber der Franzose Robert Wurtz zeigte zur Mitte. Rep schoss selbst – 3:1 (80.).

Nervosität machte sich breit in der unerfahrenen Elf, in der sieben Spieler ihr erstes Turnier spielten. Willy van de Kerkhof gelang noch das 3:2 (86.), doch dabei blieb es. Das war schon die halbe Miete für das Finale, nur eine Niederlage gegen die Griechen konnte das noch abwenden – aber auch nur wenn das Parallelspiel einen Sieger hatte. In den Katakomben scharten sich die Reporter um Allofs, der erleichtert zugab: "Das war meine letzte Chance! Hätte ich dieses Mal auch wieder nichts gebracht, wäre ich wohl weggewesen vom Fenster."

Derwall lobte: "Endlich hat der Klaus das begriffen. Endlich hat er den Unterschied zwischen Klub und Nationalelf gepackt und sich richtig verhalten." Sich selbst lobte er nicht, dabei hatte er nun die Elf gefunden, die Europameister werden sollte: mit Ulli Stielike als Abwehrchef, daneben Manfred Kaltz, Karl-Heinz Förster und Bernard Dietz in der Viererkette, mit Schuster und Rummenigge (!) neben Müller und Hans-Peter Briegel im Mittelfeld, mit Allofs und Hrubesch im Sturm.

0:0 gegen Griechenland reicht fürs Finale

Dass die Elf am 17. Juni gegen die Griechen trotzdem wieder ganz anders aussah, hatte gute Gründe. Denn das Finale war eine Stunde vor Anpfiff in Turin bereits erreicht. Die Tschechen, gegen Griechenland noch 3:1-Sieger, und die Niederländer beraubten sich gegenseitig ihrer letzten Chance (1:1). Da die Spiele trotz schlechter Erfahrungen zum Beispiel bei der WM in Argentinien noch immer nicht zeitgleich stattfanden, standen nun also 90 bedeutungslose Minuten bevor.

Derwall reagierte sofort und nachvollziehbar: er nahm die drei von einer Gelb-Sperre bedrohten Spieler – Bernard Dietz, Bernd Schuster und Klaus Allofs – heraus und gab den Reservisten Cullmann, Bernd Förster und Caspar Memering eine Chance. Als Einwechselspieler kamen auch Mirko Votava und Calle Del’Haye zu ihrer EM-Premiere. Für sie ein besonderer Moment, für alle anderen Beobachter ein Spiel zum Vergessen.

14.000 Zuschauer bereuten ihr Kommen. Tore fielen nicht, die Griechen trafen in der 70. Minute sogar den Pfosten – sonst wären die Deutschen nach einer Blamage ins Finale eingezogen. Beifall bekamen sie auch so nicht, die in Berlin erscheinende Fußball-Woche ließ die Fläche für den Spielbericht frei. Begründung: "Auch wir haben uns die Einstellung der Nationalmannschaft zu eigen gemacht und uns für die Endspiel-Ausgabe geschont." Jupp Derwall hatte für derlei Spott und Kritik nicht viel Verständnis. Auf der Pressekonferenz wurde er ungewohnt fuchtig: "Menschenskinder, ich glaub', ich bin hier auf einer Beerdigung. Meine Herren, wir stehen im Europameisterschaftsendspiel. Wer hätte uns das vor einem Jahr nach unseren 0:0-Spielen gegen Malta und die Türkei schon zugetraut?"

Außenseiter Belgien überrascht die Konkurrenz

Im Finale von Rom wartete überraschend Außenseiter Belgien. Wie das? Waren die Spiele in Gruppe 1 schon nicht sonderlich erbauend, so regierte in Gruppe 2 der Minimalismus. Eigentlich eine Spezialität der Italiener, die wie 1970 in Mexiko die Gruppe mit dem Torverhältnis von 1:0 (einziger Sieg gegen England) überstanden. Was damals reichte, war nun zu wenig. Denn die Belgier konnten auch auf Kommando 0:0 spielen, was sie dank ihrer alle verblüffenden Abseitsfalle im entscheidenden Spiel gegen die Italiener schafften.

Da sie zuvor gegen England (1:1) und Spanien (2:1) auch ins Tor trafen, kamen sie dank der höheren Toranzahl (3:2) nicht sonderlich ruhmreich ins Finale. Italiens Trainer Enzo Bearzot verweigerte Kollege Guy Thys die Gratulation. Und schalt Belgien "eine schmutzige Mannschaft". Damit stand er freilich allein, die Belgier hatten noch die meiste Farbe in diese Gruppe gebracht. Nicht umsonst wurde Stürmer Jan Ceulemans zum zweitbesten Spieler des Turniers gewählt – hinter Bernd Schuster.

Ärger bereiteten sie höchstens ihrem Verband, als sie kurz vor dem Italien-Spiel in Streik traten. Sie forderten und bekamen höhere Prämien für den Turniersieg. Italien dagegen bekam nichts außer Spott und Pfiffen. Die Zerrissenheit des italienischen Fußballs spiegelte die Tatsache wider, dass kein einziges EM-Spiel der Gastgeber ausverkauft war und dass Spieler wie Francesco Graziani bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen wurden.

"Kommt zu uns, Tifosi!"

Der vierte Platz, der ihnen nach einer 9:10-Niederlage im Elfmeterschießen gegen die Tschechen zuteil wurde, war gewiss kein Balsam auf die Seele. Dass hier der kommende Weltmeister spielen würde, ahnte niemand. Die Spanier, Gastgeber der kommenden WM, bereuten es, die EM quasi ohne Spieler von Meister Real Madrid bestritten zu haben. Trainer Kubala und sein Verbandspräsident traten nach drei Spielen ohne Sieg und mit nur einem Punkt zurück.

Und England? Wollte "zumindest unter die letzten Vier" (Greenwood), wurde aber nur Randale-Europameister. Das erste Spiel gegen Belgien (1:1) musste unterbrochen werden, weil das gegen englische Hooligans eingesetzte Tränengas auf dem Platz waberte und Torwart Ray Clemence nichts mehr sehen konnte. Nach 36 Verhaftungen am Vortag nach Schlägereien in der Innenstadt von Turin eskalierte die Lage im Stadion, es gab weitere Verhaftungen. Neun Italiener kamen teils nach Messerattacken ins Krankenhaus. "Ich schäme mich, ein Engländer zu sein", sagte Kevin Keegan und Bobby Charlton fragte erschüttert: "Sind das die Kinder, die wir großgezogen haben?"

Die UEFA belegte den daran unschuldigen englischen Verband mit einer Strafe von 30.000 Schweizer Franken. Auch eine Methode, die Kassen zu füllen. Denn die Stadien waren unerwartet leer geblieben, im Schnitt sahen nur 25.045 Zuschauer in Stadien mit der dreifachen Kapazität die Spiele. Damit das beim Finale am 22. Juni in Rom nicht auch so werde, appellierte Jupp Derwall am Vortag: "Kommt zu uns, Tifosi!".

"Stolperbruder" Hrubesch: Im Kopfballspiel unschlagbar

Es waren dann immerhin 47.860 Zuschauer, die sich um 20.30 Uhr eingefunden hatten. Sie sollten ihr Kommen nicht bereuen, denn das Finale, da waren sich die Beobachter einig, war das beste Spiel des Turniers. Wie es ja auch sein sollte. Deutschland spielte wieder mit der Elf, die die Niederländer geschlagen hatte, obwohl Derwall noch überlegte, Horst Hrubesch draußen zu lassen. Wieder traf er die richtige Entscheidung und ließ den langen Hamburger im Team. Es sollte sein größter Tag als Fußballer werden.

Schon nach zehn Minuten lohnte sich Derwalls Geduld mit dem Hünen, der von sich selbst sagte: "Ich weiß, dass ich neben den anderen oft wie ein Stolperbruder wirke." Seine Stärke war das Kopfballspiel, aber wenn es sein musste, ging es auch mit dem Fuß. Nach zehn Minuten nahm er einen Schuster-Pass mit der Brust an und drosch ihn aus 17 Metern ein – 1:0.

Jean-Marie Pfaff, später Bayern-Torwart, war machtlos. Chancen auf beiden Seiten folgen, die Torhüter haben viel zu tun. Dass es nur mit 1:0 in die Kabinen geht, ist im Grunde unverständlich. Toni Schumacher rannte allen vorweg: "Schnell noch eine - ich gehe kaputt vor Schmerzen." Die Wirkung der Spritze für seine Hand hatte nachgelassen, Professor Heß musste noch mal nachladen. Gleich nach Wiederanpfiff foulte Rene Vandereycken den Pfälzer Hans-Peter Briegel, der alsbald ausgetauscht werden musste gegen Cullmann. Ein Bruch im deutschen Spiel, die Belgier kamen allein zwischen der 58. und 72. Minute zu sechs Chancen. Dann half ihnen der Schiedsrichter: nach Stielikes Foul an Franky van der Elst, eindeutig im Halbkreis am Strafraum, zeigte der Rumäne Reinea auf den Punkt. Schon der zweite unberechtigte Elfmeter gegen die Deutschen – und wieder war Schumacher chancenlos. Vandereycken traf zum 1:1.

"Stellt scharf, jetzt knallt's!"

Sollte es wie 1976 wieder eine Verlängerung geben? Beide Teams wollten das bei der drückenden Hitze verhindern. Dann die 89. Minute. Ecke für Deutschland. Rummenigge holte sich den Ball und rief den Fotografen noch zu: "Stellt scharf, jetzt knallt's!". Wie wahr. Horst Hrubesch rannte dem Ball ein Stück entgegen, stieg am höchsten und köpfte das umjubelte Siegtor. Um 22.20 Uhr stemmte der Duisburger Bernard Dietz als Kapitän dieser Elf den Pokal in die Höhe. Es war der jüngste Europameister aller Zeiten und ein würdiger dazu.

UEFA-Generalsekretär Bangerter sagte: "Die Deutschen haben diese EM gerettet!" Oder war es doch ein Pole? Horst Hrubesch erzählt noch immer gern die Geschichte seines Vatikan-Besuchs vor dem Griechenland-Spiel. Mit den Kollegen Magath und Memering war er auf einer öffentlichen Audienz von Johannes Paul II. Um die Gläubigen zu segnen, spreizte der Papst wie gewöhnlich zwei Finger. "Horst, dass heißt: du machst zwei Dinger", witzelte ein Hamburger Journalist.

Dann kam das 0:0 gegen die Griechen. "Es kann doch nicht sein, dass der Papst auch noch lügt", unkte Hrubesch. Aber nach dem Finale war alles klar. Der Journalist eilte von der Tribüne herunter und rief Hrubesch zu: "Siehste Horst, der Papst lügt doch nicht, er hat das Finale gemeint."

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