Heike Ullrich: "Menschenrechte sind nicht verhandelbar"

Heike Ullrich, stellvertretende Generalsekretärin des DFB und Direktorin Verbände, Vereine und Ligen, war als Mitglied der UEFA Working Group zu Besuch in Katar, Austragungsland der FIFA Weltmeisterschaft 2022. Im Anschluss an ihre Reise spricht sie im DFB.de-Interview über ihre Eindrücke von den Veränderungen im Land in Bezug auf die wichtigen Themen Menschen-, Arbeits- und Frauenrechte

DFB.de: Frau Ullrich, Sie waren gerade als Mitglied der UEFA Working Group zum ersten Mal in Katar, dem Austragungsland der FIFA Weltmeisterschaft 2022. Was macht diese Arbeitsgruppe und warum sind Sie nach Doha gereist?

Heike Ullrich: Es geht der UEFA und dem DFB darum, ein möglichst echtes und differenziertes Bild von dem Ausrichterland der FIFA WM 2022 und der Situation vor Ort zu bekommen. Demnach wollen wir lernen und Hinweise aufnehmen, wie die UEFA und ihre Mitgliedsverbände helfen können, positive Entwicklungen vor Ort zum Beispiel in Bezug auf Menschen- und Arbeitsrechte zu stabilisieren und zu fördern. Gleichzeitig wollen wir bestehende Risiken analysieren und verstehen, wie Reformen auch wirklich nachhaltig umgesetzt werden können. Wir sind als DFB bereits seit einiger Zeit in einem intensiven Austausch mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und mit unabhängigen Expert*innen aus dem Sport, der Politik und anderen Bereichen der Gesellschaft zur Lage in Katar und nehmen verschiedene Sichtweisen und Beurteilungen der dort herrschenden Bedingungen wahr. Es ist wichtig, einen möglichst differenzierten und auch sachlichen Blick auf dieses Land zu entwickeln. Und dafür ist es unablässig, in den direkten Austausch mit den Menschen und Organisationen vor Ort zu treten, ihnen zuzuhören, sie live zu erleben und sich breit zu informieren. Dazu war die von der UEFA initiierte Reise gemeinsam mit anderen europäischen Nationalverbänden wertvoll, denn die Fußballfamilie hat eine starke Stimme, wenn es etwa um die Achtung von Menschen-, Arbeits- und Frauenrechten geht. Denn die sind, wie der DFB auch in seiner Menschenrechts-Policy und in seinem Positionspapier zu Katar klar und unmissverständlich festgehalten hat, universell gültig und nicht verhandelbar.

DFB.de: Wie waren Ihre persönlichen Eindrücke vor Ort?

Ullrich: Ich habe bei unserem Kurzbesuch ein Land wahrgenommen, das sich in einem starken "Change-Prozess" befindet. Nicht nur ganz offensichtlich durch zahlreiche Baustellen im Bereich der Infrastruktur des Landes. Auch die Menschen vor Ort, mit denen wir uns ausgetauscht haben, machten deutlich, dass derzeit sehr viel in Bewegung ist in diesem Land.  

DFB.de: Sie haben sich in Katar außer mit dem lokalen Organisationskomitee auch mit Vertreter*innen der Internationalen Arbeitsorganisation, der Gewerkschaft Bau- und Holzarbeiter Internationale, dem Nationalen Menschenrechtskomitee sowie persönlich mit Arbeitsmigrant*innen getroffen und ausgetauscht. Welchen Eindruck haben Sie dabei gewonnen?

Ullrich: Ich persönlich - und die Organisationen vor Ort haben diesen Eindruck bekräftigt – beschreibe ein Land mitten im Wandel. Es hat sich in Katar nach übereinstimmender Meinung von Expert*innen gerade in den letzten Jahren viel getan - und ja, es soll und muss sich noch mehr tun. Gerade auch mithilfe des Fußballs – vielleicht sogar mit Strahlkraft in die ganze Region. Um es klar zu sagen: Es ist noch längst nicht alles gut in Katar, auch das bestätigen die Stakeholder. Man kann sich aber die Frage stellen: Hätte es einige konkrete Verbesserungen in den vergangenen Jahren auch ohne die WM-Vergabe nach Katar gegeben? 

DFB.de: Haben Sie denn das Gefühl, dass Sie auch einen verlässlichen und authentischen Einblick haben gewinnen können?

Ullrich: Neben Zahlen, Daten und Fakten war es mir persönlich sehr wichtig, auch den direkten Austausch mit den Menschen vor Ort zu suchen und ihre Stimmen zu hören. Es ist schon viel passiert, gleichzeitig gibt es noch sehr viel Veränderungspotenzial. Die Abschaffung des Kafala-Systems ist beispielsweise ein sehr wichtiger Schritt gewesen oder auch die Einführung des Mindestlohns. Das sind großartige Erfolge. Wichtig ist, dass diese Veränderungen auch flächendeckend und in allen Arbeitsbereichen und Dienstleistungen für alle Bevölkerungsgruppen um- und durchgesetzt werden.   

DFB.de: Sie haben sich nicht erst in Doha mit Organisationen aus verschiedenen Bereichen ausgetauscht, sondern sind auch hier in Deutschland im ständigen Dialog. Wie ist die Sicht von NGOs auf das Turnier? Sprechen sie sich für einen Boykott aus?

Ullrich: Die Botschaft, die wir überwiegend vernehmen, ist: Ein Boykott bringt das Land und die Menschen im Land nicht voran. Der Sport und der Fußball sollten eher ihre Kraft nutzen und Motor für Veränderung sein. Es können nur Missstände aufgedeckt und Verbesserungen erreicht werden, wenn die Öffentlichkeit hinschaut. Und das tut sie ganz besonders, weil in Katar im kommenden Jahr die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. Diese Gelegenheit sollten wir nutzen, indem wir weiter genau hinsehen und den direkten Dialog führen.  

DFB.de: Wie kann der Fußball konkret helfen?

Ullrich: Indem sich die Fußballfamilie vor Ort selbst ein Bild von den Entwicklungen macht, wo es bereits sehr gute Entwicklungen gibt und wo noch Potenziale für wichtige Veränderungen liegen und diese anspricht. Ich denke auch, die Fußballfamilie kann einen wichtigen Beitrag leisten, dass auch nach der WM die erzielten Veränderungen nachhaltig wirken und weiter Bestand haben werden. Wir haben als UEFA Working Group im Anschluss an die Besichtigungen Handlungsempfehlungen formuliert. Dazu zählt erstens, dass Nationalverbände darauf achten, nur mit solchen Firmen und Geschäftspartnern vor Ort Verträge zu schließen, die eine Einhaltung gewisser Mindeststandards an Arbeitsrechten nachweisen. Wichtig ist hierbei die Miteinbeziehung von Arbeitnehmer*innen. Und die Einhaltung der Mindeststandards in den Geschäftsbeziehungen sollte regelmäßig auditiert beziehungsweise überprüft werden. Zweitens, sollte im Zuge weiterer Besuche in Katar die Zusammenarbeit und der direkte Austausch mit den lokalen Institutionen und Organisationen gestärkt werden. Der Fokus sollte auf einer nachhaltigen und dauerhaften Entwicklung auch über die WM hinaus liegen. Wir werben demnach dafür, dass sich die Fußballfamilie in einen direkten Informationsaustausch mit den Organisationen vor Ort begibt, um sich ein echtes und differenziertes Bild vor Ort machen zu können. Drittens soll geprüft werden, wie der Fußball die Einrichtung von sogenannten "Workers' Rights Centres" in Katar unterstützen kann. Diese Zentren könnten sicherstellen, dass den Gastarbeiter*innen auch nach der WM weiterhin Serviceleistungen und Schulungen zur Verfügung stehen. Zudem hat die Working Group festgestellt, dass bei zukünftigen Besuchen die Einbeziehung von europäischen Medienvertreter*innen wichtig wäre, um die Entwicklungen vor Ort zu vermitteln. Das alles sind erste Schritte. Weitere werden und müssen folgen.

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Heike Ullrich, stellvertretende Generalsekretärin des DFB und Direktorin Verbände, Vereine und Ligen, war als Mitglied der UEFA Working Group zu Besuch in Katar, Austragungsland der FIFA Weltmeisterschaft 2022. Im Anschluss an ihre Reise spricht sie im DFB.de-Interview über ihre Eindrücke von den Veränderungen im Land in Bezug auf die wichtigen Themen Menschen-, Arbeits- und Frauenrechte

DFB.de: Frau Ullrich, Sie waren gerade als Mitglied der UEFA Working Group zum ersten Mal in Katar, dem Austragungsland der FIFA Weltmeisterschaft 2022. Was macht diese Arbeitsgruppe und warum sind Sie nach Doha gereist?

Heike Ullrich: Es geht der UEFA und dem DFB darum, ein möglichst echtes und differenziertes Bild von dem Ausrichterland der FIFA WM 2022 und der Situation vor Ort zu bekommen. Demnach wollen wir lernen und Hinweise aufnehmen, wie die UEFA und ihre Mitgliedsverbände helfen können, positive Entwicklungen vor Ort zum Beispiel in Bezug auf Menschen- und Arbeitsrechte zu stabilisieren und zu fördern. Gleichzeitig wollen wir bestehende Risiken analysieren und verstehen, wie Reformen auch wirklich nachhaltig umgesetzt werden können. Wir sind als DFB bereits seit einiger Zeit in einem intensiven Austausch mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und mit unabhängigen Expert*innen aus dem Sport, der Politik und anderen Bereichen der Gesellschaft zur Lage in Katar und nehmen verschiedene Sichtweisen und Beurteilungen der dort herrschenden Bedingungen wahr. Es ist wichtig, einen möglichst differenzierten und auch sachlichen Blick auf dieses Land zu entwickeln. Und dafür ist es unablässig, in den direkten Austausch mit den Menschen und Organisationen vor Ort zu treten, ihnen zuzuhören, sie live zu erleben und sich breit zu informieren. Dazu war die von der UEFA initiierte Reise gemeinsam mit anderen europäischen Nationalverbänden wertvoll, denn die Fußballfamilie hat eine starke Stimme, wenn es etwa um die Achtung von Menschen-, Arbeits- und Frauenrechten geht. Denn die sind, wie der DFB auch in seiner Menschenrechts-Policy und in seinem Positionspapier zu Katar klar und unmissverständlich festgehalten hat, universell gültig und nicht verhandelbar.

DFB.de: Wie waren Ihre persönlichen Eindrücke vor Ort?

Ullrich: Ich habe bei unserem Kurzbesuch ein Land wahrgenommen, das sich in einem starken "Change-Prozess" befindet. Nicht nur ganz offensichtlich durch zahlreiche Baustellen im Bereich der Infrastruktur des Landes. Auch die Menschen vor Ort, mit denen wir uns ausgetauscht haben, machten deutlich, dass derzeit sehr viel in Bewegung ist in diesem Land.  

DFB.de: Sie haben sich in Katar außer mit dem lokalen Organisationskomitee auch mit Vertreter*innen der Internationalen Arbeitsorganisation, der Gewerkschaft Bau- und Holzarbeiter Internationale, dem Nationalen Menschenrechtskomitee sowie persönlich mit Arbeitsmigrant*innen getroffen und ausgetauscht. Welchen Eindruck haben Sie dabei gewonnen?

Ullrich: Ich persönlich - und die Organisationen vor Ort haben diesen Eindruck bekräftigt – beschreibe ein Land mitten im Wandel. Es hat sich in Katar nach übereinstimmender Meinung von Expert*innen gerade in den letzten Jahren viel getan - und ja, es soll und muss sich noch mehr tun. Gerade auch mithilfe des Fußballs – vielleicht sogar mit Strahlkraft in die ganze Region. Um es klar zu sagen: Es ist noch längst nicht alles gut in Katar, auch das bestätigen die Stakeholder. Man kann sich aber die Frage stellen: Hätte es einige konkrete Verbesserungen in den vergangenen Jahren auch ohne die WM-Vergabe nach Katar gegeben? 

DFB.de: Haben Sie denn das Gefühl, dass Sie auch einen verlässlichen und authentischen Einblick haben gewinnen können?

Ullrich: Neben Zahlen, Daten und Fakten war es mir persönlich sehr wichtig, auch den direkten Austausch mit den Menschen vor Ort zu suchen und ihre Stimmen zu hören. Es ist schon viel passiert, gleichzeitig gibt es noch sehr viel Veränderungspotenzial. Die Abschaffung des Kafala-Systems ist beispielsweise ein sehr wichtiger Schritt gewesen oder auch die Einführung des Mindestlohns. Das sind großartige Erfolge. Wichtig ist, dass diese Veränderungen auch flächendeckend und in allen Arbeitsbereichen und Dienstleistungen für alle Bevölkerungsgruppen um- und durchgesetzt werden.   

DFB.de: Sie haben sich nicht erst in Doha mit Organisationen aus verschiedenen Bereichen ausgetauscht, sondern sind auch hier in Deutschland im ständigen Dialog. Wie ist die Sicht von NGOs auf das Turnier? Sprechen sie sich für einen Boykott aus?

Ullrich: Die Botschaft, die wir überwiegend vernehmen, ist: Ein Boykott bringt das Land und die Menschen im Land nicht voran. Der Sport und der Fußball sollten eher ihre Kraft nutzen und Motor für Veränderung sein. Es können nur Missstände aufgedeckt und Verbesserungen erreicht werden, wenn die Öffentlichkeit hinschaut. Und das tut sie ganz besonders, weil in Katar im kommenden Jahr die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet. Diese Gelegenheit sollten wir nutzen, indem wir weiter genau hinsehen und den direkten Dialog führen.  

DFB.de: Wie kann der Fußball konkret helfen?

Ullrich: Indem sich die Fußballfamilie vor Ort selbst ein Bild von den Entwicklungen macht, wo es bereits sehr gute Entwicklungen gibt und wo noch Potenziale für wichtige Veränderungen liegen und diese anspricht. Ich denke auch, die Fußballfamilie kann einen wichtigen Beitrag leisten, dass auch nach der WM die erzielten Veränderungen nachhaltig wirken und weiter Bestand haben werden. Wir haben als UEFA Working Group im Anschluss an die Besichtigungen Handlungsempfehlungen formuliert. Dazu zählt erstens, dass Nationalverbände darauf achten, nur mit solchen Firmen und Geschäftspartnern vor Ort Verträge zu schließen, die eine Einhaltung gewisser Mindeststandards an Arbeitsrechten nachweisen. Wichtig ist hierbei die Miteinbeziehung von Arbeitnehmer*innen. Und die Einhaltung der Mindeststandards in den Geschäftsbeziehungen sollte regelmäßig auditiert beziehungsweise überprüft werden. Zweitens, sollte im Zuge weiterer Besuche in Katar die Zusammenarbeit und der direkte Austausch mit den lokalen Institutionen und Organisationen gestärkt werden. Der Fokus sollte auf einer nachhaltigen und dauerhaften Entwicklung auch über die WM hinaus liegen. Wir werben demnach dafür, dass sich die Fußballfamilie in einen direkten Informationsaustausch mit den Organisationen vor Ort begibt, um sich ein echtes und differenziertes Bild vor Ort machen zu können. Drittens soll geprüft werden, wie der Fußball die Einrichtung von sogenannten "Workers' Rights Centres" in Katar unterstützen kann. Diese Zentren könnten sicherstellen, dass den Gastarbeiter*innen auch nach der WM weiterhin Serviceleistungen und Schulungen zur Verfügung stehen. Zudem hat die Working Group festgestellt, dass bei zukünftigen Besuchen die Einbeziehung von europäischen Medienvertreter*innen wichtig wäre, um die Entwicklungen vor Ort zu vermitteln. Das alles sind erste Schritte. Weitere werden und müssen folgen.

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