Gumbrecht: "Uns fehlt das hautnahe, emotionale Erleben"

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature, Emeritus, an der Stanford University. Außerdem haben ihm zwölf Universitäten in Europa und Amerika die Ehrendoktorwürde verliehen. In wenigen Wochen erscheint sein neues Buch "Stadium Crowds" im Vittorio Klostermann Verlag. Was fehlt uns, wenn der Fußball fehlt? Darüber spricht der Literaturwissenschaftler und Borussia-Dortmund-Fan im  DFB.de-Interview.

DFB.de: Herr Gumbrecht, was fehlt uns dadurch, dass wir seit Wochen nicht mehr ins Stadion gehen und die Spiele nicht mehr im Fernsehen verfolgen können? Dass man sonst fünf Tage zittert, wie der eigene Verein wohl spielen wird, und dann entweder sehr glücklich oder sehr unglücklich sein durfte. Was fehlt uns also, wenn der Fußball fehlt?

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Erfahrung der Kontingenz, also der offenen Zukunft, auf die man setzt, lässt sich ersatzweise auch beim Glücksspiel abholen. Diese spezielle Begeisterung entwickelte sich übrigens erst seit dem 18. Jahrhundert. Erst seit jener Zeit - denken Sie an die Aufklärung, an die Französische Revolution – stellen wir uns die Zukunft als grundlegend offen vor. Plötzlich war nicht mehr alles von Gott bestimmt oder auf Jahrhunderte festgelegt.

DFB.de: Die Ungewissheit des Ausgangs gibt es also auch anderswo. Was fehlt uns dann, wenn kein Fußball gespielt wird?

Gumbrecht: Vielen von uns Sportfans fehlt das hautnahe, emotionale Erleben von Sport.

DFB.de: Bitte beschreiben Sie uns, was dieses Erlebnis so besonders macht.

Gumbrecht: Obwohl unser Planet heute dichter besiedelt ist als je zuvor, ist doch die Präsenz von 40.000 Menschen oder mehr an einem Ort etwas Atemberaubendes, und wahrscheinlich noch deutlicher ein Ausnahmemoment als früher. Das volle Stadion ist also mehr denn je ein Ritual, vielleicht das einzige Ritual von Präsenz, oft ein Moment von populärer Erhabenheit. Mir fehlt derzeit dieses Gefühl, Teil der Masse zu sein, was weniger mit gefühlter Solidarität zu tun hat als mit einer körperlichen Erfahrung. Dieses Ritual von Präsenz, diese gesellschaftliche Verdichtung, ist ein solcher Wert geworden, weil wir uns immer mehr an digitale Communities gewöhnen, an elektronisches Zusammensein. Man wird die Saison nur mit Geisterspielen zu Ende führen können, das ist auch in Ordnung und aus wirtschaftlicher Sicht dringend geboten. Aber das große Erlebnis kommt erst zurück, wenn die Menschen wieder in die Stadien strömen.

DFB.de: Macht die Art des Stadions einen Unterschied?

Gumbrecht: Warum sind Stadien wie an der Anfield Road, in Dortmund oder das La Bombonera in Buenos Aires einfach so gut, und warum war ein so schönes Stadion wie das alte Münchner Olympiastadion für Rituale von Präsenz so wenig geeignet? Schwer zu sagen. Stadien haben Charisma – oder eben nicht. Es gibt Stadien, da hat man das Gefühl, sie werden schwarz vor Masse. Die Stadien, die von berühmten Architekten gebaut wurden, funktionieren meistens nicht. Charismatisch sind eher Arenen, die durch immer neue Renovierungen entstanden sind, asymmetrisch, verwinkelt, etwas verbaut. Im La Bombonera im Stadtteil La Bocca sitzen an der offenen Seite des Hufeisens fast keine Zuschauer. Und gerade dort geht total die Post ab.

DFB.de: Nun wird es noch Monate dauern, bis wieder Zuschauer an der Anfield Road, im Signal Iduna Park oder bei Ihnen in der Arena von Stanford sitzen. Aber aktuell fehlt den Menschen in Deutschland der Fußball, im Stadion aber auch als TV-Erlebnis.

Gumbrecht: Das ist ja nicht schwer zu verstehen. In Deutschland ist Fußball gewiss die beliebteste Unterhaltung. Und keine Übertragung aus der Konserve kann die Ungewissheit des Ausgangs ersetzen, die schon einen großen Teil der Faszination ausmacht. Uns alle ärgert außerdem auch die Unterbrechung der Geschichte. Als Fan von Jürgen Klopp möchte ich jetzt endlich erleben, dass Liverpool tatsächlich Meister wird. Und als BVB-Anhänger möchte ich sehen, wie die Bayern nicht zum achten Mal in Folge Meister werden.

DFB.de: Kann es sein, dass uns gerade der Profisport Vorbilder der Resilienz liefert? Dass uns Emre Can eher verständlich macht, wie hart man für den Erfolg fighten muss als das etwa jede politische oder wirtschaftliche Geschichte zu vermitteln vermag? Selbst wenn dort sicher auch sehr hart gefochten wird.

Gumbrecht: Generell denke ich ja nicht, dass der Sport eine Institution moralischer Belehrung sein soll. Aber Bilder der Resilllienz? Ja, das gefällt mir. Es sind Bilder, die wir körperlich nachvollziehen. Und auch die fehlen uns gerade.

DFB.de: Bitte erklären Sie uns das genauer.

Gumbrecht: Ich habe damals in den frühen sechziger Jahren eine Verletzung von Uwe Seeler selbst im alten Waldstadion erlebt, bei einem Spiel von Eintracht Frankfurt gegen den HSV. Ich sehe noch, wie er eine Flanke quer in der Luft liegend abnimmt und das Tor schießt. In dem Moment reißt Seeler die Achillessehne. Den Moment sehe ich bis heute klar vor mir, obwohl seitdem so viele Jahrzehnte vergangen sind. Es ist nicht nur Seelers Technik, es ist die Gleichzeitigkeit von Erfolg und Schmerz in der Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens. Oder Gesten von Adi Preissler auf dem Spielfeld der Kampfbahn Rote Erde, die mir präsent sind wie keine andere Erfahrung aus dem Jahr 1956, als ich selbst keine zehn Jahre alt war. Wir erleben den Sport mit geschärften Sinnen, hoch emotionalisiert. Dadurch brennen sich diese Bilder so fest. Es ist nicht nur Emre Cans Resilienz, es ist mein Erleben dieser Resilienz, die so unmittelbar ist. Philosophen sprechen von transitiver Aufmerksamkeit. Wir lernen nichts aus diesen Momenten, und doch sind sie existenziell wichtig.

DFB.de: Wie ist das Virus inzwischen in Kalifornien angekommen?

Gumbrecht: Die Situation ist wohl vergleichbar zu den EU-Ländern. Seit dem 15. März sind Homeoffice, Kontaktbegrenzungen, Absage von größeren Festivitäten, Schließung von Restaurants und Bars sowie die Abstandsregelungen auch hier bei uns angeordnet. Unsere Statistiken, was also Infektionen und Todeszahlen angeht, ähneln eher Europa und weniger den USA insgesamt.

DFB.de: Wie geht es Ihnen mit der Erfahrung der Sozialen Distanzierung?

Gumbrecht: Ich vermisse den Sport als Live-Erlebnis. Vor Corona saß ich einmal pro Woche irgendwo im Stadion oder in einer Halle, das kann beim Baseball oder Basketball, seltener beim Fußball oder im Herbst beim Football sein. Ich lebe auf dem Stanford Campus, und wir sind, ganz anders als unsere akademischen Konkurrenten in Harvard, Yale oder Princeton, auch die beste "Sport-Universität" im Land.

DFB.de: Binnen kurzer Zeit konnte die Verdopplungszeit in Deutschland von zwei auf 31 Tage angehoben werden. Haben die Menschen in Deutschland im Umgang mit COVID-19 aus Ihrer Sicht einen im sportlichen Sinne guten Mannschaftsgeist bewiesen?

Gumbrecht: Ich bin tatsächlich erstaunt, wie einvernehmlich weltweit die Menschen die Distanzierungsregeln akzeptieren, wie gut das Social Distancing funktioniert. Man könnte darin einen gewissen Akt von Solidarität sehen, in dem Sinn, dass die Jungen, obwohl gesundheitlich kaum gefährdet, sich auf Social Distancing einlassen. Mannschaften dagegen sollten eher nicht aus Akten der Solidarität bestehen, oder? Ich werte die Reaktion auf Corona also nicht als Hinweis auf einen intakten nationalen Mannschaftsgeist. Nein, da würden wir Äpfel mit Orangen vergleichen.

DFB.de: Der Fußball hat auch an vielen Stellen geholfen. Joshua Kimmich und Leon Goretzka etwa haben "We kick Corona" gegründet. Der DFB und die Nationalmannschaft spendeten Millionen Euro und zuletzt tausend Laptops für die Altersheime. Ganz generell: Wachsen wir in Krisen enger zusammen?

Gumbrecht: Und Cristiano Ronaldo hat in einer Dimension gespendet, die selbst für sein Bankkonto, sagen wir mal, nah an die Schmerzgrenze gehen muss. Mir hat das alles sehr, sehr imponiert. Als BVB-Fan habe ich sonst für Kimmich und Goretzka nicht unbedingt Primärsympathien, aber alle Hilfsaktionen des Fußballs, ob durch einzelne Spieler, durch den DFB oder die Bundesligavereine, haben mich sehr beeindruckt. Aber lassen Sie mich auch etwas Negatives sagen.

DFB.de: Immer.

Gumbrecht: Diese Aufregung über Liverpool als Unternehmen, das staatliche Hilfe beantragt, eine Aufregung, die beinahe auf Jürgen Klopp abgefärbt hat, oder den Druck, dass jetzt alle Profis verpflichtend spenden oder etwas Gutes tun müssen, finde ich unerträglich. Erstens, weil genau das ja Großzügigkeit unmöglich macht. Die Schönheit des Aktes der Großzügigkeit liegt darin, dass er keiner Verpflichtung folgt. Bei Gehaltszahlungen hingegen handelt es sich um vertragliche Verpflichtungen, die es erstmal prinzipiell einzuhalten gilt. Wenn jemand Spenden möchte, sollte dies eine individuelle Angelegenheit bleiben. Sonst wird es ja fast eine Art von neuer Steuer, die da eingeführt wird.

Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu den bekanntesten Sportphilosophen, in Deutschland wie den USA. Sein 2016 erschienenes Buch "Lob des Sports" sorgte für viele angeregte Diskussionen. Im Februar 2017 diskutierte er mit Thomas Tuchel im Rahmen einer Podiumsdiskussion der DFB-Kulturstiftung über die tiefere Bedeutung des Fußballs.

[dfb]

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature, Emeritus, an der Stanford University. Außerdem haben ihm zwölf Universitäten in Europa und Amerika die Ehrendoktorwürde verliehen. In wenigen Wochen erscheint sein neues Buch "Stadium Crowds" im Vittorio Klostermann Verlag. Was fehlt uns, wenn der Fußball fehlt? Darüber spricht der Literaturwissenschaftler und Borussia-Dortmund-Fan im  DFB.de-Interview.

DFB.de: Herr Gumbrecht, was fehlt uns dadurch, dass wir seit Wochen nicht mehr ins Stadion gehen und die Spiele nicht mehr im Fernsehen verfolgen können? Dass man sonst fünf Tage zittert, wie der eigene Verein wohl spielen wird, und dann entweder sehr glücklich oder sehr unglücklich sein durfte. Was fehlt uns also, wenn der Fußball fehlt?

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Erfahrung der Kontingenz, also der offenen Zukunft, auf die man setzt, lässt sich ersatzweise auch beim Glücksspiel abholen. Diese spezielle Begeisterung entwickelte sich übrigens erst seit dem 18. Jahrhundert. Erst seit jener Zeit - denken Sie an die Aufklärung, an die Französische Revolution – stellen wir uns die Zukunft als grundlegend offen vor. Plötzlich war nicht mehr alles von Gott bestimmt oder auf Jahrhunderte festgelegt.

DFB.de: Die Ungewissheit des Ausgangs gibt es also auch anderswo. Was fehlt uns dann, wenn kein Fußball gespielt wird?

Gumbrecht: Vielen von uns Sportfans fehlt das hautnahe, emotionale Erleben von Sport.

DFB.de: Bitte beschreiben Sie uns, was dieses Erlebnis so besonders macht.

Gumbrecht: Obwohl unser Planet heute dichter besiedelt ist als je zuvor, ist doch die Präsenz von 40.000 Menschen oder mehr an einem Ort etwas Atemberaubendes, und wahrscheinlich noch deutlicher ein Ausnahmemoment als früher. Das volle Stadion ist also mehr denn je ein Ritual, vielleicht das einzige Ritual von Präsenz, oft ein Moment von populärer Erhabenheit. Mir fehlt derzeit dieses Gefühl, Teil der Masse zu sein, was weniger mit gefühlter Solidarität zu tun hat als mit einer körperlichen Erfahrung. Dieses Ritual von Präsenz, diese gesellschaftliche Verdichtung, ist ein solcher Wert geworden, weil wir uns immer mehr an digitale Communities gewöhnen, an elektronisches Zusammensein. Man wird die Saison nur mit Geisterspielen zu Ende führen können, das ist auch in Ordnung und aus wirtschaftlicher Sicht dringend geboten. Aber das große Erlebnis kommt erst zurück, wenn die Menschen wieder in die Stadien strömen.

DFB.de: Macht die Art des Stadions einen Unterschied?

Gumbrecht: Warum sind Stadien wie an der Anfield Road, in Dortmund oder das La Bombonera in Buenos Aires einfach so gut, und warum war ein so schönes Stadion wie das alte Münchner Olympiastadion für Rituale von Präsenz so wenig geeignet? Schwer zu sagen. Stadien haben Charisma – oder eben nicht. Es gibt Stadien, da hat man das Gefühl, sie werden schwarz vor Masse. Die Stadien, die von berühmten Architekten gebaut wurden, funktionieren meistens nicht. Charismatisch sind eher Arenen, die durch immer neue Renovierungen entstanden sind, asymmetrisch, verwinkelt, etwas verbaut. Im La Bombonera im Stadtteil La Bocca sitzen an der offenen Seite des Hufeisens fast keine Zuschauer. Und gerade dort geht total die Post ab.

DFB.de: Nun wird es noch Monate dauern, bis wieder Zuschauer an der Anfield Road, im Signal Iduna Park oder bei Ihnen in der Arena von Stanford sitzen. Aber aktuell fehlt den Menschen in Deutschland der Fußball, im Stadion aber auch als TV-Erlebnis.

Gumbrecht: Das ist ja nicht schwer zu verstehen. In Deutschland ist Fußball gewiss die beliebteste Unterhaltung. Und keine Übertragung aus der Konserve kann die Ungewissheit des Ausgangs ersetzen, die schon einen großen Teil der Faszination ausmacht. Uns alle ärgert außerdem auch die Unterbrechung der Geschichte. Als Fan von Jürgen Klopp möchte ich jetzt endlich erleben, dass Liverpool tatsächlich Meister wird. Und als BVB-Anhänger möchte ich sehen, wie die Bayern nicht zum achten Mal in Folge Meister werden.

DFB.de: Kann es sein, dass uns gerade der Profisport Vorbilder der Resilienz liefert? Dass uns Emre Can eher verständlich macht, wie hart man für den Erfolg fighten muss als das etwa jede politische oder wirtschaftliche Geschichte zu vermitteln vermag? Selbst wenn dort sicher auch sehr hart gefochten wird.

Gumbrecht: Generell denke ich ja nicht, dass der Sport eine Institution moralischer Belehrung sein soll. Aber Bilder der Resilllienz? Ja, das gefällt mir. Es sind Bilder, die wir körperlich nachvollziehen. Und auch die fehlen uns gerade.

DFB.de: Bitte erklären Sie uns das genauer.

Gumbrecht: Ich habe damals in den frühen sechziger Jahren eine Verletzung von Uwe Seeler selbst im alten Waldstadion erlebt, bei einem Spiel von Eintracht Frankfurt gegen den HSV. Ich sehe noch, wie er eine Flanke quer in der Luft liegend abnimmt und das Tor schießt. In dem Moment reißt Seeler die Achillessehne. Den Moment sehe ich bis heute klar vor mir, obwohl seitdem so viele Jahrzehnte vergangen sind. Es ist nicht nur Seelers Technik, es ist die Gleichzeitigkeit von Erfolg und Schmerz in der Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens. Oder Gesten von Adi Preissler auf dem Spielfeld der Kampfbahn Rote Erde, die mir präsent sind wie keine andere Erfahrung aus dem Jahr 1956, als ich selbst keine zehn Jahre alt war. Wir erleben den Sport mit geschärften Sinnen, hoch emotionalisiert. Dadurch brennen sich diese Bilder so fest. Es ist nicht nur Emre Cans Resilienz, es ist mein Erleben dieser Resilienz, die so unmittelbar ist. Philosophen sprechen von transitiver Aufmerksamkeit. Wir lernen nichts aus diesen Momenten, und doch sind sie existenziell wichtig.

DFB.de: Wie ist das Virus inzwischen in Kalifornien angekommen?

Gumbrecht: Die Situation ist wohl vergleichbar zu den EU-Ländern. Seit dem 15. März sind Homeoffice, Kontaktbegrenzungen, Absage von größeren Festivitäten, Schließung von Restaurants und Bars sowie die Abstandsregelungen auch hier bei uns angeordnet. Unsere Statistiken, was also Infektionen und Todeszahlen angeht, ähneln eher Europa und weniger den USA insgesamt.

DFB.de: Wie geht es Ihnen mit der Erfahrung der Sozialen Distanzierung?

Gumbrecht: Ich vermisse den Sport als Live-Erlebnis. Vor Corona saß ich einmal pro Woche irgendwo im Stadion oder in einer Halle, das kann beim Baseball oder Basketball, seltener beim Fußball oder im Herbst beim Football sein. Ich lebe auf dem Stanford Campus, und wir sind, ganz anders als unsere akademischen Konkurrenten in Harvard, Yale oder Princeton, auch die beste "Sport-Universität" im Land.

DFB.de: Binnen kurzer Zeit konnte die Verdopplungszeit in Deutschland von zwei auf 31 Tage angehoben werden. Haben die Menschen in Deutschland im Umgang mit COVID-19 aus Ihrer Sicht einen im sportlichen Sinne guten Mannschaftsgeist bewiesen?

Gumbrecht: Ich bin tatsächlich erstaunt, wie einvernehmlich weltweit die Menschen die Distanzierungsregeln akzeptieren, wie gut das Social Distancing funktioniert. Man könnte darin einen gewissen Akt von Solidarität sehen, in dem Sinn, dass die Jungen, obwohl gesundheitlich kaum gefährdet, sich auf Social Distancing einlassen. Mannschaften dagegen sollten eher nicht aus Akten der Solidarität bestehen, oder? Ich werte die Reaktion auf Corona also nicht als Hinweis auf einen intakten nationalen Mannschaftsgeist. Nein, da würden wir Äpfel mit Orangen vergleichen.

DFB.de: Der Fußball hat auch an vielen Stellen geholfen. Joshua Kimmich und Leon Goretzka etwa haben "We kick Corona" gegründet. Der DFB und die Nationalmannschaft spendeten Millionen Euro und zuletzt tausend Laptops für die Altersheime. Ganz generell: Wachsen wir in Krisen enger zusammen?

Gumbrecht: Und Cristiano Ronaldo hat in einer Dimension gespendet, die selbst für sein Bankkonto, sagen wir mal, nah an die Schmerzgrenze gehen muss. Mir hat das alles sehr, sehr imponiert. Als BVB-Fan habe ich sonst für Kimmich und Goretzka nicht unbedingt Primärsympathien, aber alle Hilfsaktionen des Fußballs, ob durch einzelne Spieler, durch den DFB oder die Bundesligavereine, haben mich sehr beeindruckt. Aber lassen Sie mich auch etwas Negatives sagen.

DFB.de: Immer.

Gumbrecht: Diese Aufregung über Liverpool als Unternehmen, das staatliche Hilfe beantragt, eine Aufregung, die beinahe auf Jürgen Klopp abgefärbt hat, oder den Druck, dass jetzt alle Profis verpflichtend spenden oder etwas Gutes tun müssen, finde ich unerträglich. Erstens, weil genau das ja Großzügigkeit unmöglich macht. Die Schönheit des Aktes der Großzügigkeit liegt darin, dass er keiner Verpflichtung folgt. Bei Gehaltszahlungen hingegen handelt es sich um vertragliche Verpflichtungen, die es erstmal prinzipiell einzuhalten gilt. Wenn jemand Spenden möchte, sollte dies eine individuelle Angelegenheit bleiben. Sonst wird es ja fast eine Art von neuer Steuer, die da eingeführt wird.

Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu den bekanntesten Sportphilosophen, in Deutschland wie den USA. Sein 2016 erschienenes Buch "Lob des Sports" sorgte für viele angeregte Diskussionen. Im Februar 2017 diskutierte er mit Thomas Tuchel im Rahmen einer Podiumsdiskussion der DFB-Kulturstiftung über die tiefere Bedeutung des Fußballs.